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Renaturierungsgesetz: Auch die Städte sind gefordert
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Das neue EU-Renaturierungsgesetz nimmt auch Städte in die Pflicht – sie dürfen bis 2030 keinen Grünraum mehr verlieren. Wird Fläche neu verbaut, muss anderswo Natur wiederhergestellt werden. Wiens Vorzeigebeispiel: der Norbert-Scheed-Wald.

30. August 2024 - Stephanie Drlik
Das Nature Restauration Law, ein EU-Gesetz zur etappenweisen Renaturierung europäischer Naturräume, ist nach langem Ringen am 18. August in Kraft getreten und wartet nun auf seine Umsetzung. Die EU gibt mit diesem Gesetz Ziele vor. Wie die Mitgliedsstaaten diese erreichen, bleibt ihnen überlassen. Sie müssen jedoch innerhalb der nächsten zwei Jahre einen Plan erarbeiten und diesen verbindlich an die EU übermitteln.

Artikel 8 des Gesetzes formuliert explizit Ziele zur Wiederherstellung städtischer Ökosysteme. Bis 2030 dürfen keine Nettoflächenverluste mehr produziert werden, also nicht mehr Grünflächen verbaut als neu errichtet werden. Bis 2040 müssen renaturierte Flächen bereits um drei Prozent zugenommen haben, und bis 2050 sind weitere fünf Prozent begrünte Stadtflächen herzustellen. In dieser Flächenbilanz ist auch die Renaturierung baulicher Elemente wie Gebäude und Straßen mitzudenken, ebenso wie die möglichst lückenlose Vernetzung von Grünräumen. Weiters müssen mindestens zehn Prozent der Stadtfläche von Baumkronen überschirmt werden. Wobei diese zehn Prozent auf das gesamte Bundesgebiet bezogen sind, um größere Flexibilität für einzelne Städte zu ermöglichen.

Pannonische Feldlandschaft

Laut Verordnung sind nicht nur Stadtwälder, Parks, artenreiche Wiesenflächen und andere Freiraumtypologien neu zu errichten, es gilt auch, bestehende Flächen zu sichern und aufzuwerten. Nun stellen sich Stadt- und Gemeindeverantwortliche zu Recht die Frage, wie eine solche Renaturierung, der vorangehende Aushandlungsprozess und die Finanzierung ausschauen könnte. Aus der Stadt Wien ist auf Anfrage der „Presse“ zu hören, dass Bundesministerin Leonore Gewessler bereits eingeladen hat, um die weitere Vorgehensweise in einer Prozessarbeitsgruppe zu besprechen. „Die Stadt Wien wird selbstverständlich ihren Beitrag leisten. Denn Renaturierung und die Förderung der Biodiversität sind schon seit Längerem wichtige Schwerpunkte der Stadt Wien. Die Wiederherstellungsverordnung der EU ist daher eine Unterstützung für die Vorhaben der Stadt, die zum Gutteil bereits umgesetzt werden“, so die Stellungnahme aus dem Büro des amtsführenden Umweltstadtrats Jürgen Czernohorszky. Er erwähnt neben dem „Park der Artenvielfalt“, dem in Bau befindlichen Biotopteich im Paradiesgartel und der weiteren Renaturierung des Liesingbaches vor allem den Norbert-Scheed-Wald, genauer, das Projekt Breitenlee auf dem Gebiet des ehemaligen Verschiebebahnhofs in der Wiener Donaustadt, als Vorzeigebeispiel für gelungene Renaturierung.

Dass die Bundeshauptstadt Wien als eine der grünsten Städte der Welt gilt, liegt unter anderem am Grüngürtel, der sich großräumig vom westlichen über den östlichen Stadtrand erstreckt. Etwa 12.000 Hektar davon sind durch die Widmung „Schutzgebiet Wald und Wiesengürtel (SWW)“, die höchste Schutzkategorie in der Wiener Flächenwidmung, dauerhaft gesichert. Andere Flächen sind als Landschaftsschutzgebiete ausgewiesen, wie etwa der erwähnte Norbert-Scheed-Wald, der in der Endausbaustufe eine Fläche von rund 1000 Hektar umfassen soll. Die Entwicklung des Schutzgebiets wurde gestartet, lange bevor ein Renaturierungsgesetz auf EU-Ebene überhaupt diskutiert wurde.

Lebensraum für Wildtiere und Pflanzen

Bereits 2014 ist die Leitbildentwicklung unter Federführung der MA 49 in Angriff genommen worden. „Im Leitbild Norbert-Scheed-Wald sind übergeordnete Ziele und konkrete Nutzungs- und Renaturierungsmaßnahmen festgelegt“, erzählt Landschaftsarchitekt Erik Meinharter vom Büro Plansinn Planung & Kommunikation, der an der Leitbild­erstellung und der weiteren Prozessbegleitung beteiligt war. „Die pannonische Feldlandschaft soll zur Erholung für Menschen und als Lebensraum für Wildtiere und Pflanzen gesichert und schrittweise erweitert werden. Der ehemalige Breitenleer Bahnhof wurde als Kernzone der naturräumlichen Entwicklung definiert. Wir haben damals auch Möglichkeiten zur Flächensicherung aufgezeigt“, so Meinharter, denn die Eigentümer:innen- und Nutzer:innenstruktur ist divers, und die Flächen sind nicht im Besitz der Stadt.

Diese Ausgangssituation hat eine partizipative Entwicklung mit Vertreter:innen aus Verwaltung, Politik, mit den Grundeigentümer:innen und anderen Stakeholdern erforderlich gemacht. Die ÖBB war als Mehrheitseigen­tümerin von Beginn an gesprächsbereit. Im Rahmen von EU-geförderten Projekten plant die Stadt nun den Ankauf einer 70 Hektar umfassenden Fläche, der Rest des Scheed-Walds verbleibt vorerst im Besitz der ÖBB und der zahlreichen weiteren Grundeigentümer:innen. „Es gab von Beginn an eine große Bereitschaft aller Beteiligten. Auch ansässige Land­wirt:innen erkennen, dass benachbarte Re­naturierungsmaßnahmen die Landwirtschaft stärken.“ Schließlich soll das Gebiet künftig auch stadtadäquate Landwirtschaft sichern. Zwischen den Landwirt:innen und den zuständigen Magistratsabteilungen wurden Vertragsnaturschutzflächen vereinbart, etwa im Rah­men des „Lebensraum Acker“-Programms.

140 Wildbienenarten

Auf dem Areal des ehemaligen Verschiebebahnhofs Breitenlee hat sich die Natur seit 1945 beinahe ungestört die Fläche zurückerobert. Wären nicht die alten Brückenpfeiler, die hin und wieder zwischen hohen Bäumen durchblitzen, würde nichts mehr an die einstige Nutzung erinnern. Eine echte Stadtwildnis mit seltenen Tier- und Pflanzenarten wie dem Wiedehopf, dem Neuntöter, Zauneidechsen, seltene Orchideen, mehr als 140 Wildbienenarten sowie pannonischen Trocken- und Halbtrockenrasenflächen. Doch solch ein kostbarer Lebensraum braucht Schutz und Pflege, daher sollen nun rund 90 Hektar des Norbert-Scheed-Walds als Natura 2000 Europaschutzgebiet ausgewiesen werden. Damit geht die Stadt freiwillig noch strengere, rechtlich bindende Naturschutzverpflichtungen ein.

Ein solches Konzept hätten sich viele Wiener:innen auch andernorts gewünscht, wo Bahnhofsbrachen und landwirtschaftliche Flächen zu Gunsten von Quartiersentwicklungen geopfert wurden. Warum dem Norbert-Scheed-Wald dieses Schicksal erspart geblieben ist? „Der Lückenschluss des Grüngürtels im Nordosten Wiens war schon seit Jahrzehnten Teil des Stadtentwicklungsplans“, so Erik Meinharter. „Auch die Reduzierung des steigenden Nutzungsdrucks auf den restlichen Wald- und Wiesengürtel und die benachbarte Lobau war ein wichtiges Argument für dieses Landschaftsschutzgebiet. Zudem gab es ein klares Bekenntnis von Seiten der Stadt Wien und den ÖBB als Grundeigentümerin den Naturraum zu erhalten.“

Auch der persönliche Einsatz des 2014 frühzeitig verstorbenen Donaustädter Bezirksvorstehers Norbert Scheed dürfte eine wesentliche Rolle gespielt haben. Er hatte schon früh die große Bedeutung des Naturraums für seinen Bezirk und darüber hinaus erkannt: „Jeder Baum, jeder Teich ist wichtig für die Ökobilanz. Der Mensch kann ohne Natur nicht überleben, Natur ist Zukunft.“

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