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Das längste Haus der Schweiz – die Genfer Grosssiedlung Le Lignon setzt bis heute Massstäbe
Vor sechzig Jahren war in Genf die Wohnungsnot ebenso gross wie heute. Die Grosssiedlung Le Lignon trug mit 2780 Wohnungen zur Linderung bei. Seit 2009 steht sie unter Denkmalschutz.
29. Oktober 2024 - Werner Huber
Die Satellitenstadt Le Lignon bei Genf ist ein gebauter Superlativ: Über einen Kilometer lang ist die geknickte, y-förmige Wohnhausscheibe. 12 bis 15 Geschosse zählt sie in der Höhe, daneben setzen zwei Turmhäuser mit 26 und 32 Stockwerken vertikale Akzente. Ein feines Gitter aus Aluminiumprofilen überzieht die Fassaden. Aus der Ferne betrachtet flimmern sie im Licht, aus der Nähe erinnern die quadratisch geteilten Flächen an ein Mondrian-Bild. Dahinter verbergen sich 2780 Wohnungen.
Addiert man die Zahl der Zimmer – nach Genfer Zählweise inklusive Küchen –, kommt man auf 10 687. Im Zentrum der «Cité satellite» stehen ein Einkaufszentrum, zwei Kirchen, Kindergärten, ein Schulhaus, Alterswohnungen und vier Tiefgaragen. Man kennt andere Grosssiedlungen wie das Tscharnergut in Bern oder die Grünau in Zürich. Doch in den Dimensionen und in der architektonischen Stringenz ist Le Lignon einmalig in der Schweiz.
Anlass für den Bau der Cité war die Wohnungsnot. Allein für die Jahre 1962 bis 1965 rechnete der Kanton mit einem Bedarf von 15 000 Wohnungen. Der Bau von sogenannten Grands Ensembles und Cités satellites sollte die Lösung bringen.
Auf einem ehemaligen Landwirtschaftsgut zwischen der Rhone und dem Bach Nant in der Gemeinde Vernier plante ein Architektenteam um Georges Addor und Dominique Juillard Le Lignon. Die Konzentration der Wohnungen auf wenige, dafür umso höhere und längere Gebäude erlaubte es, den grössten Teil des Terrains frei zu halten. 1963 begannen die Bauarbeiten, zwei Jahre später zogen die ersten Mieter ein. 1971 waren die letzten Häuser fertig.
Wohnungen mit Weitblick
Insgesamt bestehen die Grossformen aus 84 einzelnen Häusern. Allein 74 Eingänge zählt die lange Wohnhausscheibe. In jedem dieser Häuser gibt es pro Geschoss bloss zwei Wohnungen. Praktisch alle sind nach dem gleichen Muster gestrickt: Im Kern liegen die offene Küche, das Bad und die separate Toilette. Auf der einen Seite sind die Schlafzimmer aufgereiht, auf der anderen liegt der Wohn- und Essbereich. Eine filigrane Konstruktion aus Mahagoni und Glas trennt eine Loggia ab.
Sämtliche Wohnungen sind nach zwei Seiten ausgerichtet. In den oberen Etagen geht der Blick Richtung Jura und den Flughafen oder zum Jet d’Eau und zum Montblanc. Nach Deutschschweizer Zählung haben die Wohnungen 2½, 3½ oder 4½ Zimmer, Wohn- und Essraum, die Küche und die Sanitärräume sind bei allen identisch.
Jedes vierte Geschoss ist allseitig eingeschnürt. Laubengänge verbinden die einzelnen Häuser miteinander. Diese «coursives» erschliessen die Wasch- und Trockenräume, die hier angesiedelt sind, und sie dienen als Fluchtwege. Das Pendant zu den Laubengängen sind die gedeckten Wege, die im Erdgeschoss über einen Kilometer den Hauseingängen entlangführen.
Die Wände sind mit Marmor belegt, die Haustüren aus Mahagoni und Glas konstruiert. Für jeden der 84 Hauseingänge hat Hans Erni aus einer eloxierten Kupferplatte ein Bild zum Thema «Candide» von Voltaire entworfen. Massenwohnungsbau kann auch hochwertig gestaltet sein.
Angesichts der schieren Masse an Wohnungen denkt man unweigerlich an Plattenbau – und liegt damit falsch: Die Betonkonstruktion von Le Lignon wurde an Ort gegossen. Die Effizienz erreichte man durch eine Standardisierung des Bauprozesses: Wohnungsgrosse Eisenschalungen ermöglichten es, Wände und Decken in einem Arbeitsgang zu betonieren. Dank dieser monolithischen Betonkonstruktion liessen sich Armierung und somit Baukosten sparen.
Vor dieses vieltausendzellige Betonskelett wurden die 14 000 Teile der 86 600 Quadratmeter grossen, von der Tragkonstruktion unabhängigen Vorhangfassade montiert. Ein Pionier für diese Bauweise war 1952 das Lever House in New York, 1957 erlebte sie am PKZ-Haus an der Zürcher Bahnhofstrasse ihre Schweizer Premiere.
Georges Addor, der federführende Architekt von Le Lignon, machte die Vorhangfassade aus transparenten und grau emaillierten Gläsern zu einem Merkmal seines Schaffens. Zum ersten Mal verwendete er diese «mur rideau» am Hôtel de l’Ancre in Genf, später in den Überbauungen Meyrin Parc und Ciel bleu in Meyrin sowie am Hotel Intercontinental in Genf.
Kritische Betrachtung
Als Le Lignon entstand, war «Satellitenstadt» ein positiver Begriff. Der Mensch beherrschte das Atom und eroberte den Weltraum. Diesem Zukunftsglauben widmete die Expo 1964 im nahen Lausanne einen ganzen Sommer. Kurz nachdem die letzten Mieter ihre Wohnungen in Le Lignon bezogen hatten, begann das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Öl- und Wirtschaftskrise zeichneten düstere Zukunftsbilder.
In der Architektur bediente die Postmoderne die Sehnsucht nach der vermeintlich guten alten Zeit. In seiner mit düsteren Schwarz-Weiss-Fotos illustrierten Anklageschrift «Bauen als Umweltzerstörung» von 1973 stellte Rolf Keller Le Lignon einer Überbauung in Leningrad gegenüber und nutzte eine Aufnahme der Fassade als Symbolbild für die Vereinsamung in der Masse.
«Cages à lapins», Hasenställe, nennen denn auch viele Genferinnen und Genfer die Cité du Lignon. Soziale Probleme gab es durchaus, leben doch Menschen aus 120 Nationen hier. Doch ein Ghetto, wie die Medien suggerierten, war Le Lignon nie. Allein die Eigentümerstruktur verhinderte das: Von den 84 Häusern wurden 53 von privaten Bauherrschaften für den freien Wohnungsmarkt erstellt, in 31 Häusern sind subventionierte Wohnungen eingerichtet.
Zu den grossen Eigentümern gehören die Anlagestiftungen der Pensimo-Gruppe mit 16 Häusern sowie die Pensionskasse BVK des Kantons Zürich und die Stiftungen HLM und HBM. Eine Plattform, der «Contrat de Quartier», animiert die Bewohnerinnen und Bewohner zur Teilnahme am öffentlichen Leben. Der Effekt zeigte sich sowohl in der Kriminalitätsstatistik als auch in der steigenden Bewohnerzahl.
Konzipiert war die Siedlung für 10 000 Personen, doch selbst zur Blütezeit wohnten hier nur gut 8000. Nach einem Rückgang auf 5500 stieg die Zahl auf gegen 7000 an, etliche davon ehemalige «enfants du Lignon» mit ihren Familien.
Die Renaissance
Im Mai 2009 erlebte die Cité satellite einen Ritterschlag, als sie der Genfer Staatsrat unter Denkmalschutz stellte. Bereits waren bei einzelnen Häusern die Holz-Metall-Fenster durch Kunststofffenster ersetzt worden. Angesichts der grossen Anzahl von Eigentümern hätte bei weitergehenden Sanierungen ein Patchwork gedroht. Die Einheitlichkeit im grossen Massstab, eines der Hauptmerkmale von Le Lignon, wäre zerstört worden.
Wie saniert man eine industriell hergestellte Fassade aus den sechziger Jahren, so dass sie nicht nur gleich aussieht, sondern auch die heutigen Wärmedämmvorschriften erfüllt? Diese Frage wurde zu einem Forschungsprojekt am Labor für Techniken und Schutz der modernen Architektur (TSAM) an der ETH Lausanne. Das oberste Prinzip: Das sanierte Lignon muss exakt so aussehen wie das nicht sanierte.
Im Forschungsprojekt von Franz Graf und Giulia Marino kristallisierten sich zwei Varianten als sinnvoll heraus: die Instandsetzung der bestehenden Fassade mit zusätzlicher Dämmung und dem Ersatz des einen Fensterglases sowie die Renovation mit dem Ersatz der ganzen Holz-Metall-Fenster und neuem Fassadenaufbau.
Die Architekten Jaccaud + Associés entwickelten eine Art Projektbaukasten, ein fachlich breit abgestütztes Komitee überwacht die Arbeiten. Ein Augenschein vor Ort zeigt, dass dieses Prinzip funktioniert: Die sanierten Teile des kilometerlangen Wohnblocks unterscheiden sich praktisch nicht von den nicht sanierten.
Mit diesem sorgfältigen Umgang mit Bausubstanz aus den sechziger Jahren kann die Cité du Lignon Vorbild für andere Ensembles dieser Zeit sein. Und angesichts der heutigen Wohnungsnot in den Städten wünscht man sich durchaus etwas von der Energie und dem Optimismus der Zeit zurück, als das Projekt für Le Lignon lanciert wurde.
Addiert man die Zahl der Zimmer – nach Genfer Zählweise inklusive Küchen –, kommt man auf 10 687. Im Zentrum der «Cité satellite» stehen ein Einkaufszentrum, zwei Kirchen, Kindergärten, ein Schulhaus, Alterswohnungen und vier Tiefgaragen. Man kennt andere Grosssiedlungen wie das Tscharnergut in Bern oder die Grünau in Zürich. Doch in den Dimensionen und in der architektonischen Stringenz ist Le Lignon einmalig in der Schweiz.
Anlass für den Bau der Cité war die Wohnungsnot. Allein für die Jahre 1962 bis 1965 rechnete der Kanton mit einem Bedarf von 15 000 Wohnungen. Der Bau von sogenannten Grands Ensembles und Cités satellites sollte die Lösung bringen.
Auf einem ehemaligen Landwirtschaftsgut zwischen der Rhone und dem Bach Nant in der Gemeinde Vernier plante ein Architektenteam um Georges Addor und Dominique Juillard Le Lignon. Die Konzentration der Wohnungen auf wenige, dafür umso höhere und längere Gebäude erlaubte es, den grössten Teil des Terrains frei zu halten. 1963 begannen die Bauarbeiten, zwei Jahre später zogen die ersten Mieter ein. 1971 waren die letzten Häuser fertig.
Wohnungen mit Weitblick
Insgesamt bestehen die Grossformen aus 84 einzelnen Häusern. Allein 74 Eingänge zählt die lange Wohnhausscheibe. In jedem dieser Häuser gibt es pro Geschoss bloss zwei Wohnungen. Praktisch alle sind nach dem gleichen Muster gestrickt: Im Kern liegen die offene Küche, das Bad und die separate Toilette. Auf der einen Seite sind die Schlafzimmer aufgereiht, auf der anderen liegt der Wohn- und Essbereich. Eine filigrane Konstruktion aus Mahagoni und Glas trennt eine Loggia ab.
Sämtliche Wohnungen sind nach zwei Seiten ausgerichtet. In den oberen Etagen geht der Blick Richtung Jura und den Flughafen oder zum Jet d’Eau und zum Montblanc. Nach Deutschschweizer Zählung haben die Wohnungen 2½, 3½ oder 4½ Zimmer, Wohn- und Essraum, die Küche und die Sanitärräume sind bei allen identisch.
Jedes vierte Geschoss ist allseitig eingeschnürt. Laubengänge verbinden die einzelnen Häuser miteinander. Diese «coursives» erschliessen die Wasch- und Trockenräume, die hier angesiedelt sind, und sie dienen als Fluchtwege. Das Pendant zu den Laubengängen sind die gedeckten Wege, die im Erdgeschoss über einen Kilometer den Hauseingängen entlangführen.
Die Wände sind mit Marmor belegt, die Haustüren aus Mahagoni und Glas konstruiert. Für jeden der 84 Hauseingänge hat Hans Erni aus einer eloxierten Kupferplatte ein Bild zum Thema «Candide» von Voltaire entworfen. Massenwohnungsbau kann auch hochwertig gestaltet sein.
Angesichts der schieren Masse an Wohnungen denkt man unweigerlich an Plattenbau – und liegt damit falsch: Die Betonkonstruktion von Le Lignon wurde an Ort gegossen. Die Effizienz erreichte man durch eine Standardisierung des Bauprozesses: Wohnungsgrosse Eisenschalungen ermöglichten es, Wände und Decken in einem Arbeitsgang zu betonieren. Dank dieser monolithischen Betonkonstruktion liessen sich Armierung und somit Baukosten sparen.
Vor dieses vieltausendzellige Betonskelett wurden die 14 000 Teile der 86 600 Quadratmeter grossen, von der Tragkonstruktion unabhängigen Vorhangfassade montiert. Ein Pionier für diese Bauweise war 1952 das Lever House in New York, 1957 erlebte sie am PKZ-Haus an der Zürcher Bahnhofstrasse ihre Schweizer Premiere.
Georges Addor, der federführende Architekt von Le Lignon, machte die Vorhangfassade aus transparenten und grau emaillierten Gläsern zu einem Merkmal seines Schaffens. Zum ersten Mal verwendete er diese «mur rideau» am Hôtel de l’Ancre in Genf, später in den Überbauungen Meyrin Parc und Ciel bleu in Meyrin sowie am Hotel Intercontinental in Genf.
Kritische Betrachtung
Als Le Lignon entstand, war «Satellitenstadt» ein positiver Begriff. Der Mensch beherrschte das Atom und eroberte den Weltraum. Diesem Zukunftsglauben widmete die Expo 1964 im nahen Lausanne einen ganzen Sommer. Kurz nachdem die letzten Mieter ihre Wohnungen in Le Lignon bezogen hatten, begann das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Öl- und Wirtschaftskrise zeichneten düstere Zukunftsbilder.
In der Architektur bediente die Postmoderne die Sehnsucht nach der vermeintlich guten alten Zeit. In seiner mit düsteren Schwarz-Weiss-Fotos illustrierten Anklageschrift «Bauen als Umweltzerstörung» von 1973 stellte Rolf Keller Le Lignon einer Überbauung in Leningrad gegenüber und nutzte eine Aufnahme der Fassade als Symbolbild für die Vereinsamung in der Masse.
«Cages à lapins», Hasenställe, nennen denn auch viele Genferinnen und Genfer die Cité du Lignon. Soziale Probleme gab es durchaus, leben doch Menschen aus 120 Nationen hier. Doch ein Ghetto, wie die Medien suggerierten, war Le Lignon nie. Allein die Eigentümerstruktur verhinderte das: Von den 84 Häusern wurden 53 von privaten Bauherrschaften für den freien Wohnungsmarkt erstellt, in 31 Häusern sind subventionierte Wohnungen eingerichtet.
Zu den grossen Eigentümern gehören die Anlagestiftungen der Pensimo-Gruppe mit 16 Häusern sowie die Pensionskasse BVK des Kantons Zürich und die Stiftungen HLM und HBM. Eine Plattform, der «Contrat de Quartier», animiert die Bewohnerinnen und Bewohner zur Teilnahme am öffentlichen Leben. Der Effekt zeigte sich sowohl in der Kriminalitätsstatistik als auch in der steigenden Bewohnerzahl.
Konzipiert war die Siedlung für 10 000 Personen, doch selbst zur Blütezeit wohnten hier nur gut 8000. Nach einem Rückgang auf 5500 stieg die Zahl auf gegen 7000 an, etliche davon ehemalige «enfants du Lignon» mit ihren Familien.
Die Renaissance
Im Mai 2009 erlebte die Cité satellite einen Ritterschlag, als sie der Genfer Staatsrat unter Denkmalschutz stellte. Bereits waren bei einzelnen Häusern die Holz-Metall-Fenster durch Kunststofffenster ersetzt worden. Angesichts der grossen Anzahl von Eigentümern hätte bei weitergehenden Sanierungen ein Patchwork gedroht. Die Einheitlichkeit im grossen Massstab, eines der Hauptmerkmale von Le Lignon, wäre zerstört worden.
Wie saniert man eine industriell hergestellte Fassade aus den sechziger Jahren, so dass sie nicht nur gleich aussieht, sondern auch die heutigen Wärmedämmvorschriften erfüllt? Diese Frage wurde zu einem Forschungsprojekt am Labor für Techniken und Schutz der modernen Architektur (TSAM) an der ETH Lausanne. Das oberste Prinzip: Das sanierte Lignon muss exakt so aussehen wie das nicht sanierte.
Im Forschungsprojekt von Franz Graf und Giulia Marino kristallisierten sich zwei Varianten als sinnvoll heraus: die Instandsetzung der bestehenden Fassade mit zusätzlicher Dämmung und dem Ersatz des einen Fensterglases sowie die Renovation mit dem Ersatz der ganzen Holz-Metall-Fenster und neuem Fassadenaufbau.
Die Architekten Jaccaud + Associés entwickelten eine Art Projektbaukasten, ein fachlich breit abgestütztes Komitee überwacht die Arbeiten. Ein Augenschein vor Ort zeigt, dass dieses Prinzip funktioniert: Die sanierten Teile des kilometerlangen Wohnblocks unterscheiden sich praktisch nicht von den nicht sanierten.
Mit diesem sorgfältigen Umgang mit Bausubstanz aus den sechziger Jahren kann die Cité du Lignon Vorbild für andere Ensembles dieser Zeit sein. Und angesichts der heutigen Wohnungsnot in den Städten wünscht man sich durchaus etwas von der Energie und dem Optimismus der Zeit zurück, als das Projekt für Le Lignon lanciert wurde.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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