Artikel
Wenn das Erdgeschoß parterre ist
Viele Geschäftslokale stehen leer. Mit dem Wegbrechen der Handelsstrukturen krankt auch das öffentliche Leben in der Stadt. Ein Weihnachtswunsch am letzten großen Einkaufssamstag.
21. Dezember 2024 - Wojciech Czaja
Wir schließen!“ „Alles muss raus!“ „Attraktives Geschäftslokal zu vermieten!“ Auch wenn an den letzten Einkaufssamstagen vor Weihnachten die Menschen wie ausgehungerte Heuschrecken über die Innenstadt herfallen und ob ihrer mächtigen Zahl temporäre Verkehrssperrungen erzwingen, ändert das nichts an den aktuellen Entwicklungen innerhalb der Einzelhandelslandschaft: Selbst in zentral gelegenen Wiener Einkaufsstraßen wie Favoritenstraße, Landstraßer Hauptstraße und – angeblich „too big to fail“, wie die Immobilienwirtschaft immer wieder betont – Mariahilfer Straße hat der Leerstand massiv zugenommen.
„Viele Geschäftslokale stehen leer, die Schriftzüge sind demontiert, die Auslagen großflächig verklebt“, sagt Angelika Psenner, Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien, „und das macht was mit uns allen. Mit der Erblindung der Schaufenster, mit dem Verschwinden der Kommunikation zwischen innen und außen und mit dem Wegbrechen der sozialen Interaktion geht eine wesentliche Qualität des öffentlichen Raums und des Stadtparterres verloren.“
Dramatische Situation
Experten gehen davon aus, dass eine gesunde Leerstandsquote im Erdgeschoß, die eine gewisse Dynamik in den Gewerbestrukturen zulässt, um die drei Prozent beträgt. Alles unter fünf Prozent liege immer noch im grünen Bereich. In manchen großen, wohletablierten Einkaufsstraßen in den Wiener Innenbezirken jedoch beträgt der Leerstand aktuell 5,8 bis 6,2 Prozent, wie Roman Schwarzenecker, Prokurist im Beratungsunternehmen Standort + Markt, erklärt. Und da sind Ladenumbauten und Geisterbaustellen wie etwa das 20.000 Quadratmeter große Lamarr der insolventen Signa Holding noch gar nicht miteinberechnet.
Noch dramatischer ist die Situation im ländlichen Raum, in den kleinen Gemeinden und Bezirkshauptstädten, die Leerstände jenseits der 15 Prozent aufweisen und die den Kampf gegen Fachmarktzentrum, Shoppingcenter und Onlinehandel längst verloren haben. Viele bereits konvertierte Geschäftsflächen wie etwa die ehemalige C&A-Filiale in Wiener Neustadt, die – durchaus klug und nachahmenswert – 2017 in ein Ärzte- und Rehabilitationszentrum umfunktioniert wurde, scheinen in der Statistik der verlustig gewordenen Gewerbeflächen gar nicht mehr auf.
Ursachen und Wirkungen
Fragt sich nur: Was tun mit all den leeren Lokalen? Mit dieser großen Frage hat sich kürzlich eine Veranstaltungsreihe an der alten WU beschäftigt, die unter anderem von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), der IG Architektur, der IG Kultur Wien und der Allianz für Substanz organisiert wurde. Diskutiert und debattiert wurde über Ursachen und Wirkungen, über Fehlentwicklungen und rechtliche Versäumnisse, aber auch über Luftschlösser und Best-Practice-Beispiele.
„Wir können, sobald das klassische Erdgeschoß ausstirbt, nicht überall Garageneinfahrten, Self-Storage-Räume und Automatenshops einbauen“, sagt Philipp Buxbaum, Smartvoll Architekten. „Und auch der Bedarf an Pop-up-Stores und Coworking-Spaces ist enden wollend. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft mit neuen, innovativen EG-Nutzungen zu tun haben werden, die wir uns heute noch nicht einmal ausmalen können.“ Umso wichtiger sei es, so Buxbaum, so offene, flexible Strukturen zu schaffen, dass sie später mit allen möglichen Funktionen bespielt werden können.
Beispielsweise mit Ateliers, Galerien, Wohnungen, Vintageläden, Repaircafés, Suppenküchen, Konfektmanufakturen, Knopfgeschäften, Metallwarenhandlungen, öffentlichen Service-Einrichtungen oder etwa Ausweichquartieren für Schulen, Kindergärten und Volkshochschulen. Oder mit Ärzten, Zahnärzten und orthopädischen Studios, die vor 20 Jahren schon das Erdgeschoß erobert haben und die auch heute noch nach barrierefreien Geschäftslokalen in guten B-Lagen Ausschau halten. Oder aber auch mit Mikrogewerbebetrieben, die auf nur wenigen Quadratmetern intelligente Mikrokonzepte realisieren.
„Und genau das ist die Krux an der Sache“, sagt Uli Fries, Geschäftsführer von Kreative Räume Wien. „Denn die Umnutzung von Erdgeschoßlokalen in Bestandsgebäuden ist leider stark überreglementiert. Die bau- und gewerberechtlichen Anforderungen sind so dermaßen hoch, dass sich junge Gewerbetreibende einen solchen Ausbau kaum leisten können. Damit werden viele Player vom Markt aktiv ausgeschlossen. Und das ist schade – nicht nur für die individuelle Biografie, sondern auch für das Kollektiv Stadt.“
Kreative Räume Wien fungiert als Schnittstelle zwischen Hauseigentümern, Vermieterinnen und Raumsuchenden. Rund 400 bis 500 Anfragen pro Jahr werden jährlich verzeichnet, immer öfter auch Raumanfragen von Schulen, Sozialträgern und Kultur- und Bildungseinrichtungen, doch nur ein Teil davon kann erfolgreich vernetzt werden. „Leider haben viele Eigentümer unrealistische Erwartungen, was die Mieteinnahmen betrifft. Mit dem zunehmenden Wegbrechen des Handels werden sie die Mieten nach unten korrigieren müssen – und einsehen, dass das EG nicht mehr die Cashcow ist, um den Wert der Immobilie zu steigern, so wie früher, sondern ein gutes Werkzeug, um die Lebensqualität eines ganzen Quartiers anzuheben.“
Kultur der Ermöglichung
Was es stattdessen brauche, so Stadtstrukturforscherin Psenner, sei eine Kultur der Ermöglichung, „denn wir leben in einer Großstadt, ohne mit allzu vielen Nachteilen einer solchen Metropole konfrontiert zu sein. Kaum ist es im Parterre um ein Dezibel zu laut, kaum gibt es irgendwo mal Speisegerüche, fühlen wir uns in unserem Sein und Wohnen gestört und greifen sofort zum Telefon. Wenn wir eine lebendige Stadt wollen, werden wir unsere Ansprüche und unser Mindset dringend überdenken müssen.“
In der Seestadt Aspern gibt es ein quartiersübergreifendes Erdgeschoßmanagement, das die Bauträger entlastet und die Programmierung und Vermietung in professionelle Hände auslagert. In einigen Städten wie etwa Götzis, Hohenems oder Klagenfurt sind bereits Kümmerer und Kuratorinnen im Einsatz, die sich um den richtigen Gewerbemix kümmern. Und im Quartier Latin in Paris und in der Amsterdamer Innenstadt springt sogar die Stadt in die Bresche und übernimmt die Anmietung von Lokalen, um wieder kleinteiliges Gewerbe ins Zentrum zurückzuholen.
Der freie Markt wird’s schon richten? Nein, das ist ein Wunschdenken. Jetzt liegt der Ball bei der Gesetzgebung und Stadtverwaltung. Und bei denen, die ihre Erdgeschoße strategisch leer stehen lassen und die Stadt damit dem Verfall preisgeben.
„Viele Geschäftslokale stehen leer, die Schriftzüge sind demontiert, die Auslagen großflächig verklebt“, sagt Angelika Psenner, Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien, „und das macht was mit uns allen. Mit der Erblindung der Schaufenster, mit dem Verschwinden der Kommunikation zwischen innen und außen und mit dem Wegbrechen der sozialen Interaktion geht eine wesentliche Qualität des öffentlichen Raums und des Stadtparterres verloren.“
Dramatische Situation
Experten gehen davon aus, dass eine gesunde Leerstandsquote im Erdgeschoß, die eine gewisse Dynamik in den Gewerbestrukturen zulässt, um die drei Prozent beträgt. Alles unter fünf Prozent liege immer noch im grünen Bereich. In manchen großen, wohletablierten Einkaufsstraßen in den Wiener Innenbezirken jedoch beträgt der Leerstand aktuell 5,8 bis 6,2 Prozent, wie Roman Schwarzenecker, Prokurist im Beratungsunternehmen Standort + Markt, erklärt. Und da sind Ladenumbauten und Geisterbaustellen wie etwa das 20.000 Quadratmeter große Lamarr der insolventen Signa Holding noch gar nicht miteinberechnet.
Noch dramatischer ist die Situation im ländlichen Raum, in den kleinen Gemeinden und Bezirkshauptstädten, die Leerstände jenseits der 15 Prozent aufweisen und die den Kampf gegen Fachmarktzentrum, Shoppingcenter und Onlinehandel längst verloren haben. Viele bereits konvertierte Geschäftsflächen wie etwa die ehemalige C&A-Filiale in Wiener Neustadt, die – durchaus klug und nachahmenswert – 2017 in ein Ärzte- und Rehabilitationszentrum umfunktioniert wurde, scheinen in der Statistik der verlustig gewordenen Gewerbeflächen gar nicht mehr auf.
Ursachen und Wirkungen
Fragt sich nur: Was tun mit all den leeren Lokalen? Mit dieser großen Frage hat sich kürzlich eine Veranstaltungsreihe an der alten WU beschäftigt, die unter anderem von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), der IG Architektur, der IG Kultur Wien und der Allianz für Substanz organisiert wurde. Diskutiert und debattiert wurde über Ursachen und Wirkungen, über Fehlentwicklungen und rechtliche Versäumnisse, aber auch über Luftschlösser und Best-Practice-Beispiele.
„Wir können, sobald das klassische Erdgeschoß ausstirbt, nicht überall Garageneinfahrten, Self-Storage-Räume und Automatenshops einbauen“, sagt Philipp Buxbaum, Smartvoll Architekten. „Und auch der Bedarf an Pop-up-Stores und Coworking-Spaces ist enden wollend. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft mit neuen, innovativen EG-Nutzungen zu tun haben werden, die wir uns heute noch nicht einmal ausmalen können.“ Umso wichtiger sei es, so Buxbaum, so offene, flexible Strukturen zu schaffen, dass sie später mit allen möglichen Funktionen bespielt werden können.
Beispielsweise mit Ateliers, Galerien, Wohnungen, Vintageläden, Repaircafés, Suppenküchen, Konfektmanufakturen, Knopfgeschäften, Metallwarenhandlungen, öffentlichen Service-Einrichtungen oder etwa Ausweichquartieren für Schulen, Kindergärten und Volkshochschulen. Oder mit Ärzten, Zahnärzten und orthopädischen Studios, die vor 20 Jahren schon das Erdgeschoß erobert haben und die auch heute noch nach barrierefreien Geschäftslokalen in guten B-Lagen Ausschau halten. Oder aber auch mit Mikrogewerbebetrieben, die auf nur wenigen Quadratmetern intelligente Mikrokonzepte realisieren.
„Und genau das ist die Krux an der Sache“, sagt Uli Fries, Geschäftsführer von Kreative Räume Wien. „Denn die Umnutzung von Erdgeschoßlokalen in Bestandsgebäuden ist leider stark überreglementiert. Die bau- und gewerberechtlichen Anforderungen sind so dermaßen hoch, dass sich junge Gewerbetreibende einen solchen Ausbau kaum leisten können. Damit werden viele Player vom Markt aktiv ausgeschlossen. Und das ist schade – nicht nur für die individuelle Biografie, sondern auch für das Kollektiv Stadt.“
Kreative Räume Wien fungiert als Schnittstelle zwischen Hauseigentümern, Vermieterinnen und Raumsuchenden. Rund 400 bis 500 Anfragen pro Jahr werden jährlich verzeichnet, immer öfter auch Raumanfragen von Schulen, Sozialträgern und Kultur- und Bildungseinrichtungen, doch nur ein Teil davon kann erfolgreich vernetzt werden. „Leider haben viele Eigentümer unrealistische Erwartungen, was die Mieteinnahmen betrifft. Mit dem zunehmenden Wegbrechen des Handels werden sie die Mieten nach unten korrigieren müssen – und einsehen, dass das EG nicht mehr die Cashcow ist, um den Wert der Immobilie zu steigern, so wie früher, sondern ein gutes Werkzeug, um die Lebensqualität eines ganzen Quartiers anzuheben.“
Kultur der Ermöglichung
Was es stattdessen brauche, so Stadtstrukturforscherin Psenner, sei eine Kultur der Ermöglichung, „denn wir leben in einer Großstadt, ohne mit allzu vielen Nachteilen einer solchen Metropole konfrontiert zu sein. Kaum ist es im Parterre um ein Dezibel zu laut, kaum gibt es irgendwo mal Speisegerüche, fühlen wir uns in unserem Sein und Wohnen gestört und greifen sofort zum Telefon. Wenn wir eine lebendige Stadt wollen, werden wir unsere Ansprüche und unser Mindset dringend überdenken müssen.“
In der Seestadt Aspern gibt es ein quartiersübergreifendes Erdgeschoßmanagement, das die Bauträger entlastet und die Programmierung und Vermietung in professionelle Hände auslagert. In einigen Städten wie etwa Götzis, Hohenems oder Klagenfurt sind bereits Kümmerer und Kuratorinnen im Einsatz, die sich um den richtigen Gewerbemix kümmern. Und im Quartier Latin in Paris und in der Amsterdamer Innenstadt springt sogar die Stadt in die Bresche und übernimmt die Anmietung von Lokalen, um wieder kleinteiliges Gewerbe ins Zentrum zurückzuholen.
Der freie Markt wird’s schon richten? Nein, das ist ein Wunschdenken. Jetzt liegt der Ball bei der Gesetzgebung und Stadtverwaltung. Und bei denen, die ihre Erdgeschoße strategisch leer stehen lassen und die Stadt damit dem Verfall preisgeben.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom