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Neu bauen? Lieber noch einmal darüber schlafen
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Können wir uns eine Welt vor­stellen, in der nur noch renoviert, aber nichts Neues mehr gebaut wird? Eine Europäische Bürgerinitiative fordert genau das.

2. März 2025 - Christian Kühn
Der Begriff Ökologie leitet sich von Oikos ab, dem griechischen Wort für Haus. In seiner ursprünglichen, von Ernst Haeckel eingeführten Bedeutung stand er für eine bestimmte Art, die Natur zu sehen, als wohlgeordnete Hauswirtschaft mit klaren Regeln für die Nutzung von Ressourcen, die Entsorgung von Abfällen und die Aufrechterhaltung von Energiekreisläufen. Ökologie gab dem viel älteren Begriff des Kosmos ein neues, wissenschaftliches Fundament.

Heute stehen wir vor der Ruine dieses Hauses und wundern uns, wie es so weit kommen konnte. Es gibt noch ein paar luxuriöse Ecken, aber die meisten Räume sind kaum mehr zu brauchen. Der Müll wird unter den Teppich gekehrt; in manchen Trakten sind die Fenster im Krieg zerbrochen. Und tief im Keller lagert ein atomares Arsenal, mit dem man das Haus im Handumdrehen auslöschen könnte.

Enormer Leerstand

Die Haltung der Moderne, das Haus abzureißen und durch ein neues, besser geplantes zu ersetzen, ist keine Option mehr. Uns fehlen die Ressourcen für einen Neustart, nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen und sozialen. Ein Neustart würde klare Orientierung und globales, gegenseitiges Vertrauen voraussetzen, und zumindest die geteilte Illusion einer objektiven Realität. Stattdessen erleben wir die Erosion des Gemeinwohlgedankens und die schulterzuckend hingenommene Auflösung der Wirklichkeit in ein Gewirr alternativer Fakten.

Wenn wir dieses metaphorische Haus kurz verlassen und uns den konkreten Häusern zuwenden, wie sie in fortgeschrittenen Industriegesellschaften unsere Lebenswelt prägen, zeigen sich – wenig überraschend – Parallelen. Gebaut wird zu oft nicht für Menschen, sondern für den Profit. Und auch wenn die Produkte der Bauindustrie ästhetisch und technisch ambitioniert wirken, stammen sie aus einem Wirtschaftsbereich, der in der EU für 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs, 36 Prozent der CO2-Emissionen und 35 Prozent des Abfalls verantwortlich ist.

Angesichts der enormen Leerstandsraten bedeutet jeder Neubau, die Bodenversiegelung unnötig zu verstärken und die Biodiversität einzuschränken. Die im Rahmen des European Green Deal beschlossene Dekarbonisierung des Baubestands bis 2050 wird bei der aktuellen Erneuerungsrate von einem Prozent Illusion bleiben.

Berücksichtigung von grauer Energie

Viele Architektinnen und Architekten haben in den jüngsten Jahren erkannt, dass ihre Produkte derzeit eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind. Die Strategien, das zu ändern, können auf vielen Ebenen ansetzen, von der Verwendung „gesunder“ Materialien bis zu emissionsfreien Heizungs- und Kühlsystemen. Zumindest in Europa konzentrieren sich die Vorschläge derzeit auf eine einfache Empfehlung: möglichst nichts mehr abzureißen und stattdessen die vorhandene Bausubstanz zu sanieren und, wenn nötig, umzunutzen. Warum wäre gerade dieser Zugang so effektiv? In erster Linie, weil er zusätzlich zur Heiz- und Betriebsenergie die sogenannte graue Energie berücksichtigt, die in jedem Bauwerk steckt. Beton, Stahl und Glas müssen hergestellt und antransportiert werden, wobei große Energiemengen und damit CO2-Emissionen anfallen. Wenn nicht neu gebaut, sondern nur saniert wird, muss keine zusätzliche graue Energie eingesetzt werden.

Neben diesen ökologischen Aspekten bietet ein Abrissmoratorium, also die Forderung, bis auf Weiteres auf Abriss zu verzichten, auch ökonomische und soziale Vorteile. Einerseits ist Sanieren personalintensiv und erleichtert in der Regel kleinen Unternehmen, zu Aufträgen zu kommen. Andererseits können die Bewohner während einer entsprechend konzipierten Sanierung in ihren Wohnungen bleiben, womit die sozialen Strukturen im Viertel erhalten bleiben.

Die Idee eines Abrissmoratoriums entstand um 2020 im universitären Umfeld, ursprünglich in der radikaleren, von Charlotte Malterre-Barthes an der ETH Zürich propagierten Version eines „Moratorium on New Construction“. Der Gedanke einer neuen Umbaukultur lag offenbar in der Luft und fand rasch Unterstützung, auch außerhalb der Universitäten. In Österreich publizierte die Bundeskammer der Ziviltechniker:innen Anfang 2024 ein „Positionspapier Klima, Boden und Gesellschaft“, das Österreich als „fertig bebaut“ bezeichnet und vor jedem Bauvorhaben eine verbindliche Prüfung einfordert, ob die Aufgabe nicht auch im Bestand zu lösen wäre. Im Herbst verabschiedete der Österreichische Baukulturbeirat eine „Empfehlung für Regularien zum Bauen im Bestand“, die fiskalische und rechtliche Erleichterungen vorschlägt.

Kultur der Sanierung

Auf EU-Ebene läuft gerade unter dem Titel „House Europe! Yes to Renovation“ eineEuropäische Bürgerinitiative von Arno Brandlhuber und Olaf Grawert, die bis Februar 2026 eine Million Stim­men sammeln möchte, um ihre Anliegen ins Europäische Parlament zu bringen. Bisher ist das nur bei Themen wie einem Glypho­satver­bot gelungen, bei denen es ein Ja oder ein Nein als Antwort gibt. „House Europe!“ vertritt ein komplexeres Anliegen, das zu einer neuen Kul­tur der Sanierung führt, die zur Innovation im Bestand spezielle Rahmenbedingungen erhält. Ein Erfolg der Initiative würde auch die Position des ersten EU-Kommissars für Energie und Wohnungswesen, Dan Jørgensen, innerhalb der Kommission stärken.

Wie schwierig es in der Praxis sein kann, ein radikales Neubauverbot durchzuhalten, zeigt ein aktuelles Projekt in Wien: der Jugendcampus der Arbeiterkammer in der Plößlgasse, der YOCA heißen wird. Er entsteht an der Stelle eines Schulbaus aus den 1950er-Jahren, eines für seine Zeit tadellosen Gebäudes, das jedoch strukturell gar nicht zum geforderten Raumprogramm des YOCA mit Restaurant, Ausstellungs-, Vortrags- und Bewegungsräumen, Makerspaces und einem Kindergarten passen wollte.

Beteiligungsprozesse

Im Wettbewerb, den das Stuttgarter Büro Haas Cook Zemmrich Studio 2050 für sich entschied, war es den Teilnehmern freigestellt, die Substanz zu erhalten. Die Preisträger entschieden sich für den Abbruch: Eine teilweise Erhaltung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber nur den Eindruck eines aufwendig konservierten Zitats gemacht. Der Abbruch erlaubt die Errichtung eines großen, flexibel nutzbaren Regals in Holzkonstruktion, das sich über ein Atrium Licht in die Tiefe des Baukörpers holt. Eine zentral gelegene offene Treppe macht Lust, das Haus im Aufstieg zu entdecken. Die sehr diversen Zielgruppen, die ihre Ideen in einem Beteiligungsprozess einbringen durften, werden hier ihre Nischen finden.

Und auch das alte Haus wird nicht komplett verschwinden, sondern in Teilen eine neue Funktion bekommen, wenn etwa alte Deckenelemente als Trennwände weiterleben. Das große Gerüst verträgt solche Implantate gut. Wenngleich das CO2-Dilemma ungelöst bleibt: Hinter der großzügig verglasten Fassade des YOCA leuchtet eine Vorstellung von Moderne hervor, der man einen Neubau gerne gönnt.

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