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Eine Vorstadt namens Blue Velvet
Der Standard

Suburbia ist überall. Ihre Anfänge, zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien, hatten durchaus rühmliche Ziele, doch irgendwann hat sich das Wohnmodell pervertiert. Gibt es ein Entkommen?

15. März 2025 - Wojciech Czaja
340Millionen Menschen, 400 Millionen Schusswaffen: Die Gesamtzahl von Glocks, Schmeissers und Kalaschnikows in nichtmilitärischer Verwendung ist nirgendwo so hoch wie in den USA. Oder, anders gesagt: Die Hälfte aller weltweit registrierten Handfeuerwaffen in Privatbesitz wohnt genau hier, irgendwo zwischen A wie Alabama und W wie Wyoming. So wie zum Beispiel das stolze Arsenal der 33-jährigen Avery Skipalis in Tampa, Florida, die der italienische Fotograf Gabriele Galimberti 2021 mit seiner Kamera festgehalten hat.

„Ich wollte ein Porträt der amerikanischen Waffenkultur zeichnen und die weitverbreitete Liebe zu Schusswaffen darstellen“, sagt Galimberti im Interview. „Und es war durchaus leicht, Leute zu finden. Oft bin ich sogar auf welche gestoßen, die 60 Gewehre oder mehr besitzen.“ Für den toskanischen Fotografen ist das Phänomen kein Zufall, sondern eine Frage der Tradition, mehr noch eine logische Konsequenz des 1791 ratifizierten Zweiten Verfassungszusatzes, der den Bewohnern der damals neu eroberten Gebiete das Recht einräumte, Waffen zu tragen und sich damit bei Bedarf zu verteidigen.

Das Foto, Gänsehaut pur, ist eines von fünf Porträts aus der 2021 veröffentlichten Serie Ameriguns, die derzeit im Architekturzentrum Wien (Az W) zu sehen sind. Die Ausstellung Suburbia. Leben im amerikanischen Traum zeichnet die Geschichte eines suburbanen Lebensideals, das vor knapp 200 Jahren seinen Beginn nahm, und analysiert Widersprüche dieses Modells sowie auch dessen soziale, ökologische und lebenskulturelle Folgen. Entstanden ist die Wanderausstellung in Zusammenarbeit mit dem Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), hier in Wien wird sie nun um österreichische Aspekte und innovative Lösungsansätze ergänzt.

„Schon als Kind habe ich gesehen, dass in Kinofilmen und Sitcoms vor allem Suburbs und Einfamilienhäuser vorkommen“, sagt Philipp Engel, Kurator am CCCB, „und seit damals wundere ich mich, warum die Amerikaner so leben, wie sie leben, in diesen Donut-Städten ohne Infrastruktur und ohne öffentliche Verkehrsanbindung.“ Und tatsächlich, ob Alf, Golden Girls, Bezaubernde Jeannie, Der Prinz von Bel-Air, King of Queens, Two and a Half Men, Desperate Housewives, Happiness von Todd Solondz, American Beauty von Sam Mendes oder das abgeschnittene Ohr in David Lynchs Blue Velvet: „Hollywood“, so Engel, „hat auf unser heutiges Verständnis von Stadt einen enormen Einfluss genommen. Suburbia findet sich überall.“

Das war nicht immer so. Die ersten Ansätze einer damals noch subtilen, subkutanen Suburbanisierung hatten durchaus rühmliche Ziele und intakte Rahmenbedingungen. Mitte des 19. Jahrhunderts – in einem Zeitalter also von Bränden, Epidemien, Kriminalität, politischen Unruhen und einer zunehmenden Industrialisierung mit Ruß, Lärm und Gestank – entwickelten Großindustrielle wie etwa Llewellyn Solomon Haskell die ersten Gated Communities und parkähnlichen Stadtrandsiedlungen, um den Menschen ein Wohnen außerhalb der zehrenden Großstadt zu ermöglichen.

Straßenbahn in Los Angeles

Die frühen Suburbs in Illinois und New Jersey wurden von Eisenbahngesellschaften angefahren, viele Haltestellen, kurze Gehdistanzen, und auch der Großraum Los Angeles war damals bestens erschlossen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte L.A. mit 1700 Kilometern und mehr als 900 Streetcar-Garnituren das größte Straßenbahnnetz der Welt. In den Nachkriegsjahren jedoch wurde die Straßenbahn – wie in 45 anderen US-Städten auch – systematisch zerstört. General Motors kaufte die Schienenunternehmen sukzessive auf und legte die Netze still – bloß um den öffentlichen Verkehr mit Fahrzeugen und Verbrennungsmotoren aus eigener Produktion zu ersetzen.

Mit dem Aufstieg des Automobils, dem boomenden Markt mit exotisch benamsten Fertigteilhäusern, die in unterschiedlichsten Architekturstilen geliefert und montiert wurden, und der Heimkehr der Kriegsveteranen, die als Helden und Patrioten gefeiert wurden, während den Frauen die Mobilität genommen wurde, um sie mit allerhand praktischen Haushaltsgeräten in eine Dienerinnenrolle hineinzuquetschen, war der Siegeszug von Suburbia nicht mehr aufzuhalten. Die irreparablen Folgen der Ghettoisierung und jahrzehntelang praktizierten sozialen Derangierung und Pervertierung sind heute sichtbar – nicht nur in Galimbertis erdrückenden Waffenporträts.

„Ich würde das Phänomen aber nicht als irreparabel bezeichnen“, sagt Judit Carrera, Direktorin des CCCB. „Es gibt Ansätze und Bewegungen wie etwa New Urbanism, die sich um eine Verdichtung, Verbesserung und Wiederbelebung des Speckgürtels bemühen.“ Auch Angelika Fitz, Direktorin des Az W, sieht darin eine wichtige Reparaturaufgabe: „Viele Architekturbüros haben das Einfamilienhaus als Bauaufgabe lange Zeit vernachlässigt und abgelehnt. Aber nun wird der Umgang mit bestehenden Einfamilienhäusern zu einer wichtigen Aufgabe in der Transformation. Wir brauchen dringend neue Umbau- und Nutzungsmodelle, sonst werden wir irgendwann nur noch von toten Häusern umgeben sein.“

Allein in Österreich stehen 1,5 Millionen Einfamilienhäuser herum, und der Bau eines solchen ist – jeder Logik zum Trotz – immer noch der größte Wohntraum in diesem Land. Die Kritik daran ist nicht nur eine moralisch-ökologisch-versiegelungstechnische mit erhobenem Zeigefinger. Es reicht schon ein Blick in die Statistik, die in der Ausstellung mit satirischem Unterton inszeniert wird: Die durchschnittliche Haltbarkeit einer Ehe beträgt demnach 10,4 Jahre, die durchschnittliche Laufzeit von Wohnkrediten fast das Doppelte.

Der wertvolle Aha-Moment ist, dass die von Lene Benz, Katharina Ritter und Agnes Wyskitensky kuratierte Ausstellung nicht nur analysiert und sich nicht nur mit ökonomisch motivierten Fehlentwicklungen wie etwa der Blauen Lagune in der SCS, Frank Stronachs Wohnpark Fontana in Oberwaltersdorf oder Alfred Riedls kleinem Dubai in Grafenwörth beschäftigt, sondern dass sie aufzeigt, wie man aus dem suburbanen Albtraum auch wieder aufwachen kann. Ob Kindergarten, Coworking-Haus oder neue, innovative, solidarische Gemeinschaftswohnkonzepte wie etwa das Sauriassl-Syndikat in Oberbayern: Liebe Architekturzunft, hier liegt Arbeitskapital für die nächsten Jahrzehnte.

[ Die Ausstellung „Suburbia. Leben im amerikanischen Traum“ im Az W wird von einem umfassenden Rahmenprogramm mit Vorträgen, Exkursionen und Kinderworkshops begleitet. Zu sehen bis 4. August 2025: azw.at ]

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