Bauwerk
Notre-Dame-du-Haut
Le Corbusier - Ronchamp (F) - 1954
Ein skulpturales Gefäss der Stille
Die Wallfahrtskirche von Ronchamp wird 50 Jahre alt
Mit der Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp erneuerte Le Corbusier nicht nur die Sakralarchitektur. Er schuf mit ihr auch ein Gebäude, das zum Inbegriff der architektonischen Moderne wurde. Dieses Meisterwerk, dem im Zeichen der Blob- Architektur neue Aktualität zukommt, wurde heute vor 50 Jahren feierlich eingeweiht.
25. Juni 2005 - Roman Hollenstein
Wie kein anderes Bauwerk des 20. Jahrhunderts hat die Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp die Gemüter bewegt. So sehr, dass der blendend weisse Sakralbau mit dem dunklen, kissenförmigen Betondach und dem bald an eine Stele, bald an afrikanische Masken erinnernden Hauptturm zum bekanntesten Gotteshaus der Moderne wurde. Dabei sorgte der Neubau, als er am 25. Juni 1955 feierlich geweiht wurde, in Fachkreisen für Konsternation. Denn just als sich die rationalistisch geprägte moderne Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg endlich zu behaupten schien, brach deren Vordenker mit einer primitiv-handwerklich anmutenden, höchst subjektiven Architekturskulptur, die alle modernen Errungenschaften in Frage stellte, zu neuen baukünstlerischen Ufern auf. Während James Stirling und Nikolaus Pevsner vor diesem heftig diskutierten «Manifest des Irrationalismus» ratlos den Kopf schüttelten, war das breite Publikum von dessen Bildhaftigkeit fasziniert. Und bald schon bereicherte Le Corbusiers neue plastische Formensprache den heiter-frivolen Jargon der fünfziger Jahre und triumphierte schliesslich in Jørn Utzons Opernhaus von Sydney.
Form-, Raum- und Lichtwunder
Heute, in einer Zeit, die den individuellen baukünstlerischen Erfindungen grossen Spielraum gewährt und die sich im Zeichen der computergenerierten Blob-Architektur auch wieder für das Organisch-Irrationale zu begeistern vermag, ist das Jahrhundertwerk von Ronchamp aktueller denn je. Diesem Form-, Raum- und Lichtwunder, das sich in Le Corbusiers Schaffen bereits nach 1946 ganz leise in den Entwürfen für die skulpturale Dachlandschaft der Unité d'habitation in Marseille ankündigte, ging eine Lebenskrise des Meisters voraus. Auslöser dieser Krise, die Le Corbusier schliesslich ganz neue Horizonte eröffnen sollte, war das Scheitern seiner algerischen Stadtbaupläne, für welche er vergeblich das Vichy-Regime zu gewinnen hoffte. Nach diesem politischen Sündenfall zog sich Le Corbusier ernüchtert ins Pyrenäendorf Ozon zurück. Wohl weniger, um Sühne zu leisten, als vielmehr, um sich neben der Modulor-Theorie ganz der Malerei zu widmen, die ihm immer wieder ein Mittel der architektonischen Selbstfindung gewesen war. Damals entstanden plastisch wirkende Bildsujets, die er seit 1945 zusammen mit dem Kunsttischler Joseph Savina zu «akustischen» Skulpturen weiterentwickelte. Diese organisch geformten, oft farbig gefassten Holzobjekte strahlen in den Raum aus, um das Echo mit konkaven «Rezeptoren» wieder einzufangen.
Ausgehend von diesem geheimnisvollen Raumbezug, begann Le Corbusier seine Skulpturen mittels des leicht formbaren Werkstoffs Beton architektonisch zu interpretieren. Daraus entstanden die bauplastischen Meisterwerke von Ronchamp, La Tourette und Chandigarh, die gleichsam die Antithese zur normativen Schönheit der Stahl- Glas-Konstruktionen eines Mies van der Rohe bildeten. Doch der unermüdliche Forscherdrang liess Le Corbusier, der sein eigenes uvre stets kritisch analysierte, wenige Jahre später zu einer weiteren überraschenden Lösung finden: der farbigen Bauskulptur aus Stahl von Heidi Webers Ausstellungspavillon am Zürichhorn, dessen Entwurf er kurz vor seinem Tod am 27. August 1965 vollendete. Als architektonisches Vermächtnis beweist dieses Werk noch heute, dass der grosse Schweizer in seiner stets vorwärts drängenden Kreativität unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts nur mit Picasso verglichen werden kann.
Künstlerische Inkubationszeit
Über Ronchamp ist viel geschrieben worden. So ist bekannt, dass Le Corbusier als Atheist, der allerdings für Spirituelles durchaus empfänglich war, sich anfangs nicht sonderlich interessierte, für die katholische Kirche zu bauen, auch wenn seine enthusiastischen Auftraggeber reformerische Ideen auf dem Gebiet der Sakralkunst vertraten. Als er dann aber am 20. Mai 1950 während einer Zugsfahrt von Paris nach Basel kurz vor Belfort die Ruine der im Krieg zerstörten Marien-Wallfahrtskirche auf dem Bourlémont hoch über Ronchamp erblickte, griff er spontan zum Skizzenblock. Ein kurz darauf unternommener Besuch der magischen Stätte begeisterte ihn dann derart, dass er mit einer ebenso kosmologischen wie musikalischen Konstellation konkaver und konvexer Formen auf die Landschaft, die vier Himmelsrichtungen und auf das Gemurmel des Ortes reagierte. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Villa Hadriana bei Tivoli, die Le Corbusier 1911 besucht hatte, hingewiesen. Nicht weniger bedeutend dürfte während der künstlerischen «Inkubationszeit» aber für den von einer Erneuerung der mediterranen Architektur träumenden Architekten auch die schneeweisse, halb biomorph und halb kubistisch geformte Paraportiani-Kirche von Mykonos gewesen sein, die über dem Blau der Ägäis auf ähnliche Weise zu schweben scheint wie nun seit 50 Jahren die Kapelle von Ronchamp über den rollenden Hügeln von Jura und Vogesen.
Eine komplexe Recherche, bei der Le Corbusier auch Naturformen - Knochen, Schalentiere, Muscheln - zur poetischen Inspiration nutzte, liess ihn schliesslich zur definitiven Form des Marienheiligtums vordringen. Diese realisierte er auf unkonventionelle Weise, nämlich mit Hilfe eines Betonskeletts, das er mit den Bruchsteinen der zerstörten Kirche ausfachen liess. Pfeiler aus solchen Steinen tragen auch die als doppelte Membran gegossene Betonplastik des Daches, deren Gestalt man heute ohne Hilfe des Computers wohl kaum noch herzustellen wagte. Diese gleichermassen technisch raffinierte wie archaische Konstruktion wurde schnell zum Symbol einer aus ihrer calvinistischen Strenge erlösten Architektur, aber auch zum wohl wichtigsten Prototyp des zeitgenössischen Sakralbaus. Mit seinem magischen Innenraum, in welchem Langhaus und Zentralbau verschmelzen, und mit der als Stiftszelt unter dem baldachinartigen Dachvorsprung angeordneten Aussenkapelle strahlte er schnell weit über die katholische Welt hinaus.
Dieses von den Kirchenfenstern und dem liturgischen Mobiliar bis hin zu den Farbräumen und dem sinnlichen weissen Klosterputz überreiche Gesamtkunstwerk soll nun zum Weltkulturerbe ernannt werden. Aber damit hören die Ehrbezeugungen an den Kirchenbauer Le Corbusier nicht auf: wird doch die sprödere Schwester von Ronchamp, die nach dem Tod des Meisters unvollendet gebliebene Kirche Saint-Pierre in Firminy, derzeit fertiggestellt, um im Sommer 2006 geweiht zu werden.
Form-, Raum- und Lichtwunder
Heute, in einer Zeit, die den individuellen baukünstlerischen Erfindungen grossen Spielraum gewährt und die sich im Zeichen der computergenerierten Blob-Architektur auch wieder für das Organisch-Irrationale zu begeistern vermag, ist das Jahrhundertwerk von Ronchamp aktueller denn je. Diesem Form-, Raum- und Lichtwunder, das sich in Le Corbusiers Schaffen bereits nach 1946 ganz leise in den Entwürfen für die skulpturale Dachlandschaft der Unité d'habitation in Marseille ankündigte, ging eine Lebenskrise des Meisters voraus. Auslöser dieser Krise, die Le Corbusier schliesslich ganz neue Horizonte eröffnen sollte, war das Scheitern seiner algerischen Stadtbaupläne, für welche er vergeblich das Vichy-Regime zu gewinnen hoffte. Nach diesem politischen Sündenfall zog sich Le Corbusier ernüchtert ins Pyrenäendorf Ozon zurück. Wohl weniger, um Sühne zu leisten, als vielmehr, um sich neben der Modulor-Theorie ganz der Malerei zu widmen, die ihm immer wieder ein Mittel der architektonischen Selbstfindung gewesen war. Damals entstanden plastisch wirkende Bildsujets, die er seit 1945 zusammen mit dem Kunsttischler Joseph Savina zu «akustischen» Skulpturen weiterentwickelte. Diese organisch geformten, oft farbig gefassten Holzobjekte strahlen in den Raum aus, um das Echo mit konkaven «Rezeptoren» wieder einzufangen.
Ausgehend von diesem geheimnisvollen Raumbezug, begann Le Corbusier seine Skulpturen mittels des leicht formbaren Werkstoffs Beton architektonisch zu interpretieren. Daraus entstanden die bauplastischen Meisterwerke von Ronchamp, La Tourette und Chandigarh, die gleichsam die Antithese zur normativen Schönheit der Stahl- Glas-Konstruktionen eines Mies van der Rohe bildeten. Doch der unermüdliche Forscherdrang liess Le Corbusier, der sein eigenes uvre stets kritisch analysierte, wenige Jahre später zu einer weiteren überraschenden Lösung finden: der farbigen Bauskulptur aus Stahl von Heidi Webers Ausstellungspavillon am Zürichhorn, dessen Entwurf er kurz vor seinem Tod am 27. August 1965 vollendete. Als architektonisches Vermächtnis beweist dieses Werk noch heute, dass der grosse Schweizer in seiner stets vorwärts drängenden Kreativität unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts nur mit Picasso verglichen werden kann.
Künstlerische Inkubationszeit
Über Ronchamp ist viel geschrieben worden. So ist bekannt, dass Le Corbusier als Atheist, der allerdings für Spirituelles durchaus empfänglich war, sich anfangs nicht sonderlich interessierte, für die katholische Kirche zu bauen, auch wenn seine enthusiastischen Auftraggeber reformerische Ideen auf dem Gebiet der Sakralkunst vertraten. Als er dann aber am 20. Mai 1950 während einer Zugsfahrt von Paris nach Basel kurz vor Belfort die Ruine der im Krieg zerstörten Marien-Wallfahrtskirche auf dem Bourlémont hoch über Ronchamp erblickte, griff er spontan zum Skizzenblock. Ein kurz darauf unternommener Besuch der magischen Stätte begeisterte ihn dann derart, dass er mit einer ebenso kosmologischen wie musikalischen Konstellation konkaver und konvexer Formen auf die Landschaft, die vier Himmelsrichtungen und auf das Gemurmel des Ortes reagierte. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Villa Hadriana bei Tivoli, die Le Corbusier 1911 besucht hatte, hingewiesen. Nicht weniger bedeutend dürfte während der künstlerischen «Inkubationszeit» aber für den von einer Erneuerung der mediterranen Architektur träumenden Architekten auch die schneeweisse, halb biomorph und halb kubistisch geformte Paraportiani-Kirche von Mykonos gewesen sein, die über dem Blau der Ägäis auf ähnliche Weise zu schweben scheint wie nun seit 50 Jahren die Kapelle von Ronchamp über den rollenden Hügeln von Jura und Vogesen.
Eine komplexe Recherche, bei der Le Corbusier auch Naturformen - Knochen, Schalentiere, Muscheln - zur poetischen Inspiration nutzte, liess ihn schliesslich zur definitiven Form des Marienheiligtums vordringen. Diese realisierte er auf unkonventionelle Weise, nämlich mit Hilfe eines Betonskeletts, das er mit den Bruchsteinen der zerstörten Kirche ausfachen liess. Pfeiler aus solchen Steinen tragen auch die als doppelte Membran gegossene Betonplastik des Daches, deren Gestalt man heute ohne Hilfe des Computers wohl kaum noch herzustellen wagte. Diese gleichermassen technisch raffinierte wie archaische Konstruktion wurde schnell zum Symbol einer aus ihrer calvinistischen Strenge erlösten Architektur, aber auch zum wohl wichtigsten Prototyp des zeitgenössischen Sakralbaus. Mit seinem magischen Innenraum, in welchem Langhaus und Zentralbau verschmelzen, und mit der als Stiftszelt unter dem baldachinartigen Dachvorsprung angeordneten Aussenkapelle strahlte er schnell weit über die katholische Welt hinaus.
Dieses von den Kirchenfenstern und dem liturgischen Mobiliar bis hin zu den Farbräumen und dem sinnlichen weissen Klosterputz überreiche Gesamtkunstwerk soll nun zum Weltkulturerbe ernannt werden. Aber damit hören die Ehrbezeugungen an den Kirchenbauer Le Corbusier nicht auf: wird doch die sprödere Schwester von Ronchamp, die nach dem Tod des Meisters unvollendet gebliebene Kirche Saint-Pierre in Firminy, derzeit fertiggestellt, um im Sommer 2006 geweiht zu werden.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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