Bauwerk

Villa von Alvar Aalto, Restaurierung
Tapani Mustonen, Juha Iivanainen - Tartu (EW) - 2001

Zurück zum Ideal

Eine Villa von Alvar Aalto im estnischen Tartu

25. April 2001 - Hubertus Adam
Die Weltwirtschaftskrise der frühen dreissiger Jahre blieb auch für das Büro des gerade von Turku nach Helsinki übergesiedelten Architekten Alvar Aalto nicht ohne Auswirkungen. 1932 waren das Sanatorium von Paimio und die Bibliothek für Viborg im Bau, doch verzögerte sich die Fertigstellung beider Projekte. Überdies mangelte es an neuen Aufträgen, und in Wettbewerben vermochte der Architekt damals nicht zu reüssieren. Der Wunsch des als Professor für Geographie an der Universität des estnischen Tartu lehrenden August Tammekann nach einem eigenen Domizil kam mithin im rechten Augenblick. Im «neuen praktischen oder funktionalistischen Stil» wünschte sich der Auftraggeber das Haus. Seine Wahl fiel auf den finnischen Architekten, den er in der Wohnung seines Lehrers und Amtsvorgängers in Turku kennengelernt hatte. Auch die Vorstellungen von Tammekanns Frau Irene über ihren neuen Wohnsitz waren dezidiert: «Wenn ich nicht einen eigenen Raum erhalte, so wie ich ihn möchte, wird das Haus nicht gebaut.»


Rationalismus in Estland

Das Haus, von Aalto 1932 entworfen, wurde gebaut - allerdings mit gravierenden Abweichungen. Die ökonomisch angespannte Situation in Estland hatte verschiedene Vereinfachungen erzwungen. So wurden die Metallrahmen der Fenster durch solche aus Holz ersetzt, eine Pergola und die Garage blieben unausgeführt. Nicht zuletzt diese Modifikationen bewirkten, dass das Haus Tammekann in der Aalto-Literatur kaum Berücksichtigung fand. Trotzdem ist der streng orthogonal organisierte Bau bemerkenswert, da er wie kaum ein zweiter Aaltos Orientierung am mitteleuropäischen, speziell vom Bauhaus vertretenen «Neuen Bauen» belegt. Rationalistischer baute der Finne selten.

Erst mit dem Ende der Sowjetunion und der Neugründung des Staates Estland geriet das Gebäude wieder in das Blickfeld des Interesses. Die nach der Flucht der Bauherrenfamilie 1940 in mehrere Wohnungen aufgeteilte Villa wurde nun den Erben Tammekanns übergeben, die sie an die Turku University Foundation verkauften. Ziel dieser Stiftung ist es, die traditionellen Beziehungen zwischen den Universitäten Turku in Finnland und Tartu in Estland zu erneuern. Dafür hätte sich wohl schwerlich ein geeigneteres Gebäude finden lassen. 1998 begann die Restaurierung, die nun vor kurzem abgeschlossen werden konnte. Eine umfangreiche, von der Stiftung herausgegebene Publikation dokumentiert nicht nur die Sanierungs- und Wiederherstellungsarbeiten, sondern auch die Entstehungsgeschichte des Baus sowie Aaltos übrige (unrealisierte) Projekte in Estland: eine Badeanstalt für Pärnun (1925) und ein Kunstmuseum für Tallinn (1936/37). Ein Beitrag stellt überdies knapp die wenigen Bauten des estnischen Funktionalismus vor, unter denen die Villa Tammekann als radikalstes Beispiel herausragt. Auch wenn dem Leser alle wichtigen Informationen geboten werden, macht die Vielzahl der Autoren mit ihren sich überschneidenden Texten das Buch unübersichtlich - Beschränkung (und Abstimmung) wäre von Vorteil gewesen.


Obsession des Purismus

Instruktiv ist der Bericht des finnischen Architekten Tapani Mustonen, der gemeinsam mit Juha Iivanainen die Wiederherstellungsarbeiten leitete. Mit der Restaurierung der Bibliothek von Viborg sowie des Architektenhauses im Stadtviertel Munkkiniemi von Helsinki hat sich Mustonen als Spezialist für den Umgang mit Bauten Aaltos erwiesen, und doch stimmt der Umgang mit der Villa Tammekann skeptisch. Das Entfernen späterer Verbauungen sowie des 1950 aufgesetzten Walmdachs ist zweifellos berechtigt. Allerdings liess man es bei der Wiederherstellung des Bauzustandes der frühen dreissiger Jahre nicht bewenden, sondern hielt sich an die niemals realisierten ursprünglichen Pläne Aaltos. Mit Pergola, Garage und Metallrahmenfenstern, überdies ausgestattet mit dem von Artek produzierten Aalto-Mobiliar, zeigt die einstige Villa Tammekann nun einen Idealzustand, der niemals existiert hat.

Derlei Vorgehen ist nicht nur in Details wissenschaftlich anfechtbar, sondern eliminiert das historisch Gewordene zugunsten eines fiktiven Seins. Gerade angesichts des Baus in Tartu wäre zu fragen, worin der Denkmalwert eines Gebäudes besteht: im idealen Projekt, das durch Pläne hinreichend dokumentiert ist, oder in dessen Modifikation durch die Unbill der Zeitläufte. Eine historisch verantwortungsbewusste Denkmalpflege hat längst die zutreffende Antwort gefunden: Substanzerhaltung gilt als oberstes Ziel, und dazu zählt auch der spätere Umgang mit einem Bau. Die Wüstenrot-Stiftung hat an Hans Scharouns Haus Schminke in Löbau ein derartiges Konzept mustergültig umgesetzt (NZZ 12. 3. 01). Gewiss: Kompromisse lassen sich nicht vermeiden. In Tartu indes siegte die Obsession des Purismus.


[Alvar Aalto - Vill Tammekann. Hrsg. Henri Terho und Maija Mäkikalli. The Turku University Foundation, Turku 2000. In Englisch, Estnisch und Finnisch. 240 S., FMk. 248.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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