Bauwerk

Luchao Harbour City
von Gerkan, Marg und Partner - Shanghai (VRC) - 2005

Was Neuland ist, wird in China betreten

Der Architekt Meinhard von Gerkan liebt das Wasser. Und große Projekte. Sein größtes: „Luchao Harbour City“, eine neue Stadt bei Schanghai. 300.000 Menschen werden dort leben. Ein Zukunftsblick mit Meeresblick.

27. Dezember 2003 - Christian Sywottek
Wenn der Hamburger Architekt Meinhard von Gerkan an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten denkt, steht er in der Rotunde seines weißen Bürohauses an der feinen Hamburger Elbchaussee, und er schaut über die Elbe hin zum Containerhafen. Seine Gedanken schweifen nach Osten, über Europa hinweg, weiter über den Mittleren Osten bis nach China. Über Chinas Land träumt er sich an die Küste nach Schanghai, dem Wirtschaftswunder, der Expo-Stadt 2010, der Hoffnung des modernen China. Dem Moloch, der vor lauter Menschen zu explodieren droht.

Schanghai, die alte Hafenstadt. Dort liegt von Gerkans Eldorado. Von Gerkan, 68, ist ein Macher, ein Großarchitekt mit 300 Mitarbeitern, verteilt über Büros in Hamburg, Berlin, Peking. Gerkan, Marg & Partner heißt seine Architektensozietät, mit bislang über 170 geplanten und gebauten Großprojekten zwischen Hamburg und Haiti.

Von Gerkan liebt das Wasser. Die Elbe mit ihrem Strand. Die Alster, diesen See mitten in seiner Stadt Hamburg. Dieses Gefühl von Weite. Die Kühle auf der Haut beim Schwimmen im 18 Grad kalten Mittelmeer, die Leichtigkeit des eigenen Körpers: „Wasser ist ein Spielzeug“, sagt er, „es macht Spaß.“

Deshalb holt von Gerkan das Wasser hinein nach „Luchao Harbour City“, die neue Küstenstadt 60 Kilometer entfernt von Schanghai, die er entworfen hat, die derzeit gebaut wird auf einer riesigen Baustelle von chinesischen Wanderarbeitern, die sogar noch in den Baugruben übernachten. In Luchao sollen im Jahr 2005 bereits 80.000 Menschen leben. Denn Schanghai quillt über. 13 Millionen Menschen leben dort. Im Jahr 2020 sollen es 16 Millionen sein. In von Gerkans „Luchao Harbour City“ sollen dann 300.000 Menschen wohnen.

Der Architekt Meinhard von Gerkan baut seine Stadt. Komplett und ganz neu am Reißbrett entworfen. Es gibt noch Chandighar, Brasilia und Canberra, ähnlich dimensionierte, spektakuläre Neugründungen der letzten hundert Jahre. Jetzt gibt es Luchao. Im brodelnden China, dem einzigen Land, wo derartige Großprojekte eine Chance haben. „China ist wie Utopia“, sagt Meinhard von Gerkan, „was Neuland ist, wird dort betreten.“ Ohne Rücksicht auf Verluste.

Von Gerkan rückt das hölzerne Modell von Luchao Harbour City in die Mitte des Tisches. „Hier“, sagt er, und seine kräftige rechte Hand streicht durch die Mitte der Stadt, „hier lief die Küste entlang.“ In nur zwei Jahren haben die Chinesen das bis zu drei Meter tiefe Meer zugeschüttet mit Erde und Sand und haben an der dem Meer zugewandten Seite einen acht Meter hohen Deich gebaut zum Schutz vor den Wellen der Taifune. Später werden Häuser auf dem abgetrotzten Land stehen. Luchaos künftige Bewohner können das Meer nicht sehen. Doch dafür leben sie mitten im Meer, genauer gesagt, sogar auf dem Meeresgrund.

Von Gerkan deutet auf das Zentrum der neuen Stadt. Ein kreisrundes Loch. In der Realität wird es einen Durchmesser von 2,5 Kilometern haben. „Das ist der Meeresboden“, erklärt er, „den haben wir nicht zugeschüttet.“ Es ist der künftige „See Luchao“.

Luchao Harbour City wird also keines der üblichen, eng bebauten Stadtzentren haben. Ein Meer ist sein Zentrum, ein riesiger Freiraum, schäumend, rauschend, voller Bewegung, mit einem breiten Sandband ringsum. „Wie an der Copa Cabana“, freut sich von Gerkan, „da kann man mitten in der Stadt am Strand sitzen, baden und Cocktails schlürfen.“ Oder das Theater auf der städtischen Insel besuchen, dort, wo auch die Hafenverwaltung der Marina residiert.

Wir bauen Hamburg am Chinesischen Meer." Meinhard von Gerkan liebt seine Stadt, in der er seit 1945 lebt. Als die chinesischen Auftraggeber an die Elbe kamen, ist er mit ihnen an die Alster gegangen. Sie haben den Joggern zugesehen und den alten Damen beim Möwenfüttern. Den Seglern und den knutschenden Liebespaaren. „Wir wollen das alles noch größer“, so sprachen die Chinesen.

Meinhard von Gerkan gab ihnen das Größte, was er jemals entworfen hat. Er hatte zuvor die Leipziger Messe geplant, den Stuttgarter Flughafen, zurzeit entsteht in Hanoi das neue vietnamesische Parlamentsgebäude nach seinen Entwürfen. Es ist von Wasser umgeben. Und wer in wenigen Jahren am Berliner Lehrter Bahnhof aus dem Zug steigt, steht in von Gerkans Bau. Von Gerkan liebt Stahl und Glas, lichte Räume. Das alles ist groß, sehr groß, riesig vielleicht. Aber nicht so groß wie „Luchao Harbour City“.

Groß ist natürlich nicht gleich gut. „Ein Maler kann malen, was er will“, so urteilt von Gerkan, „ein Architekt kann das nicht.“ Architektur sei nicht nur „bezeichnetes Papier“, sondern auftragsbezogene Kunst. Menschen müssten schließlich darin leben: „Ich will, dass sich die Leute wohlfühlen.“ Es darf nur nicht „piefig“ sein, darf sich nicht anpassen und alte Stile lediglich kopieren. Auch utopische Entwürfe von Unterwasser- oder Weltraumstädten waren nie seine Sache. Von Gerkan guckt skeptisch: „Das ist ja alles ganz schön, aber was macht denn dann der Mensch dort oben in seiner Plastikbude?“

Die künftigen Bewohner Luchaos will von Gerkan viel U-Bahn fahren oder zu Fuß gehen lassen, durch eine weit gehend verkehrsberuhigte Stadt, deren Wohngebiete aufgeteilt sind in autarke, blockartige Quartiere für maximal 13.000 Einwohner. Mit Geschäften, Kindergärten, Service-Unternehmen, Kliniken, und jeweils einem kleinen See: „Luchao ist keine Autostadt, sie ist eine Menschenstadt.“ Er ahnt die Gefahr, dass aus dem Reißbrettideal eine Wüstenei wird, ein Retortenort ohne eigenes Leben. „Ich muss Identität schaffen“, sagt von Gerkan, und das erscheint nur im ersten Moment ein wenig übertrieben angesichts der Tristesse auch in österreichischen Vororten, Hochhausagglomerationen, Villenvierteln und kinderfreundlichen Einfamilienhaussiedlungen.

Das Wasser soll die Einwohner Luchaos miteinander verbinden, und auch mit ihrer Stadt. „Wenn ein Tropfen ins Wasser fällt, bilden sich konzentrische Kreise.“ So beschreibt von Gerkan das Konzept für seine Meeresstadt. In der Mitte des „Lake Luchao“ will er eine 300 Meter hohe „Wolkennadel“ aus filigranem Stahl bauen, die ganz oben Wasser versprüht und eine Wolke erzeugt. In der Nacht sollen starke Scheinwerfer diese Wolke zum Glitzern bringen und Luchaos Bewohnern zeigen, wo der Tropfen gefallen ist, aus dem ihre Stadt wuchs. Rund um die chinesische Strandidylle werden sich ringförmig die bis zu achtstöckigen Büro-und Wohnquartiere legen, gebaut aus den in Schanghai üblichen dunkel gebrannten Ziegeln und viel Glas. Ein 500 Meter breiter Parkring voller Bäume und Seen nimmt öffentliche Bauten auf. Gewundene Kanäle durchziehen die gesamte Stadt, der Kreisform folgend, aber auch wie radiale Strahlen nach dem Prinzip einer Windrose. Ihre Anwohner werden sagen können, „ich wohne am Mississippi, Ganges, Wolga, Yangtze . . .“, denn die Kanäle tragen Namen. Ihr Wasser wird die Luft reinigen und kühlen. Dessen Gurgeln schluckt dann Geschrei und Krach. Kinder können Boote fahren lassen.

Das Wasser für Luchao kommt vom Land. Wie feine Adern durchziehen derzeit noch Bäche und Flüsse das mückenverseuchte Marschland auf der meeresabgewandten Seite. Ihr Wasser wird künftig durch von Gerkans Musterstadt fließen, die Kanäle und den Luchao-See füllen, bevor es sich auf der anderen Seite durch ein Sperrwerk ins nun kleiner gewordene Meer wälzt.

So ist der Plan. Visionärer Größenwahn? „Auf rationalem Wege wäre Luchao nie durchgekommen“, sagt Meinhard von Gerkan, „so wie Venedig“. Oder der Pariser Eiffelturm, den erst keiner wollte, der nach der Weltausstellung 1889 abgerissen werden sollte und der schließlich zum Symbol für Paris und zu einem Riesengeschäft mit den Touristen mutierte. „Die Chinesen“, meint der Architekt, „die haben es mehr mit dem metaphorischen Denken. Sie denken in Symbolen und auch mal um die Ecke.“ Sie wüssten, was sie an ihrer Wolkennadel hätten und an dem Gleichnis mit dem fallenden Tropfen.

Doch von Gerkan weiß auch, dass in Schanghai nur das Geld zählt. An chinesischen Investoren für Luchao herrscht kein Mangel. Doch viel wird davon abhängen, dass die örtlichen Bauherren auch umsetzen, was er vorgegeben hat. „Hoffentlich kommen nun nicht noch irgendwelche modischen Angeber zum Zuge, die nur ordentlich einen raushängen lassen wollen“, bangt der Stadtbauer aus Hamburg.

Schneller, höher, schlechter. Das ist von Gerkans architektonischer Albtraum. Im Dezember will er Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder für dessen Chinareise eine Ampulle Original-Alsterwasser mitgeben, für den Luchao-See. Vielleicht auch als Mahnung.

Meinhard von Gerkan schaut wieder über die Elbe hin zum Containerhafen. Es wird schon klappen: „Einen Fußball können Sie treten und treten, er bleibt ein Fußball. So robust ist auch Luchao.“

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