Bauwerk

Allegheny County Courthouse
Henry Hobson Richardson - Pittsburgh (USA) - 1888

Pittsburgher Bastille

Umbau von H. H. Richardsons legendärem Gefängnis

Das Allegheny County Jail in Pittsburgh von Henry Hobson Richardson ist eine der architektonisch bemerkenswertesten Bauten Amerikas. Das von den Historiographen der Moderne hochgeschätzte Gebäude aus dem Jahre 1886 findet nun eine neue Nutzung. Nach den Entwürfen des lokalen Teams IKM wird es in ein Jugend- und Familiengericht umgebaut.

8. April 2000 - Hubertus Adam
Am östlichen Rande des «Golden Triangle», der von Allegheny und Monongahela River begrenzten Innenstadt Pittsburghs, ragt ein kolossaler Turm aus Granit in die Höhe. Inzwischen von den Hochhäusern ringsum in den Schatten gestellt, war das 1888 fertiggestellte Allegheny County Courthouse mit seiner 100 Meter in den russgeschwängerten Himmel ragenden vertikalen Dominante einst zum Wahrzeichen der Stahlstadt in Pennsylvanien geworden. Als Henry Hobson Richardson sich 1884 in einem geladenen Wettbewerb für den Neubau des 1882 abgebrannten Gerichtsgebäudes gegen vier Konkurrenten durchsetzen konnte, zählte der in Harvard und an der Pariser Ecole des Beaux-Arts ausgebildete und in Boston ansässige Architekt längst zu den renommiertesten Baumeistern der Vereinigten Staaten. Mit seinen neoromanischen Kirchen der frühen siebziger Jahre hatte er den Eklektizismus überwunden und einen kraftvollen Stil entwickelt, der dem Selbstbewusstsein des amerikanischen Staatswesens entsprach und sogar die europäische, vor allem deutsche Architektur zu beeinflussen vermochte: der Monumentalismus der Jahrhundertwende mit seinen aus massivem Bossenmauerwerk gefügten Wänden wäre ohne das Vorbild Richardson kaum denkbar gewesen.


Stereometrische Baukörper

In den USA selbst wirkte der Architekt nicht nur auf seine Schüler McKim und White, sondern beeinflusste - vor allem mit dem 1930 abgebrochenen Marshall Field Wholesale Store in Chicago (1885-87) - die Architektur von Louis Sullivan. Als protomoderner Architekt fand Richardson damit folgerichtig die Aufmerksamkeit der Historiographen des «International Style»: Sigfried Giedion suchte in «Space, Time and Architecture» das Rustikamauerwerk von Richardsons Bauten weniger aus der europäischen Tradition abzuleiten, als dieses vielmehr auf die anonymen granitenen Lagerhäuser der Shaker im Hafen von Boston zu beziehen, und Henry-Russell Hitchcock veröffentlichte vier Jahre nach der legendären «Modern Architecture - International Exhibition» (1932) anlässlich einer ebenfalls im New Yorker MoMA veranstalteten Ausstellung zu Richardsons 50. Todestag eine Monographie. Hitchcock erwies mit seiner Studie nicht nur der frühen Biographie der Architekturkritikerin Marianna van Rensselaer (1888) seine Reverenz, sondern folgte vor allem der jüngsten Wiederentdeckung des Architekten durch Lewis Mumford.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Philip Johnson - als Direktor der Architekturabteilung des MoMA 1932 Mitinitiator der Modern Architecture Exhibition - Richardsons Allegheny County Courthouse zum bedeutendsten Gebäude der Vereinigten Staaten schlechthin erhob. Mit seinem schwarz schillernden Komplex der Pittsburgh Plate Glass Industries, einer ins Riesenhafte überzeichneten Travestie der Londoner Houses of Parliament, errichtete Johnson nahezu hundert Jahre nach Richardson das neue Wahrzeichen von downtown Pittsburgh.

Die Begeisterung Johnsons galt dabei weniger dem um einen rechteckigen Innenhof gruppierten Komplex des Gerichtsgebäudes als vielmehr dem westlich anschliessenden, vermittels einer Art Seufzerbrücke über die Ross Street angebundenen Gefängnis, das 1886 fertiggestellt war. Verzichtete Richardson der verschmutzten Luft in Pittsburgh wegen schon beim Courthouse weitgehend auf Bauplastik, so nähert sich der in einer Zeit des grassierenden Historismus entstandene Gefängnisbau einer abstrakten Architekturauffassung an, welche die Stereometrie der Baukörper unterstreicht. Umfassungsmauern, dreiflügeliger Zellentrakt und der zylindrische Schornstein der Heizzentrale sind aus perfekt gefügten Verbünden aus rustiziertem Milford-Granit gefügt, deren massiver Gestus auch den heutigen Passanten beeindruckt und selbst die turmartigen Aufsätze überspielt, die man als überdeutliche Reminiszenzen an Richardsons Spanien- und Frankreichreise von 1882 verstehen mag. Der imperiale Gestus einer Machtarchitektur, wie ihn sich die französischen Revolutionsarchitekten erträumten, scheint im Allegheny County Jail - mit hundertjähriger Verspätung - Gestalt gewonnen zu haben. Und nirgendwo gelang es Richardson wohl auf vergleichbare Weise, die Funktion des Gebäudes mit der Formensprache in Einklang zu bringen.


Gefängniszellen zu Gerichtssälen

Obwohl schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den ortsansässigen Architekten Frederick J. Osterling im Stil Richardsons erweitert, stand das Untersuchungsgefängnis mehrfach zur Disposition. Glückliche Umstände, zuletzt die Bewertung als «National Historic Landmark» (1976), retteten das Courthouse und vor allem das zeitweilig überbelegte Gefängnis. Auch wenn die Pittsburgh History & Landmarks Foundation (PHLF) sich in den siebziger Jahren - als die Umwandlung des Jailhouse in eine Bibliothek öffentlich diskutiert wurde - für eine Fortsetzung der bisherigen Nutzung einsetzte, wurde das Gefängnis 1995 aufgelöst. Angelockt durch den 1984 mit Diane Keaton und Mel Gibson zum Teil im Jail gedrehten Film «Mrs. Soffel», der eine tragische Liebesgeschichte des Jahres 1902 verarbeitet, konnte die Öffentlichkeit die historischen Zellentrakte dank einer Initiative der PHLF besichtigen, bis im März dieses Jahres die Bauarbeiten begannen.

Die Zellenblöcke, die im Gegensatz zu den meisten Gefängnissen des seit der «Maison de force» bei Gent (1772-75) etablierten Systems der radial um eine Wachrotunde organisierten Trakte nicht an die Aussenmauern grenzen, sondern frei im Inneren stehen, wurden herausgebrochen; derzeit zeigen sich die aufragenden Granitmauern mit ihren Rundbogenöffnungen als hohle Schalen. Nach den Entwürfen des lokalen Teams IKM wird das frühere Jailhouse in Zukunft die Säle des Jugend- und Familiengerichts beherbergen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur