Bauwerk
Tate Gallery of Modern Art
Herzog & de Meuron - London (GB) - 2000
Von Hockney bis Füssli
Die erweiterte Tate Britain zeigt ihre Schätze
20. November 2001 - Georges Waser
Nach einem Facelifting scheint die Tate Britain, das Zuhause der weltweit grössten Sammlung britischer Kunst, wieder auf Erfolgskurs zu sein. Die bisher grösste bauliche Veränderung seit der Gründung dieses Museums kostete 32 Millionen Pfund; mehr als die Hälfte des Geldes kam aus den Kassen der National Lottery.
Seit die Tate Modern vor eineinhalb Jahren mit einem grossen Spektakel eröffnet wurde, schien die gute alte Tate Gallery - die Tate Britain, wie sie seither heisst - zu einem Schattendasein verurteilt. Kamen im April 2000 noch 162 000 Besucher in die Tate Britain, so fiel das Total der Eintritte im Mai auf 99 000 und im Juni gar auf nur 62 000. Die Tate Modern hingegen meldete Rekordzahlen: fünf Millionen Besucher allein im ersten Jahr! War dies etwa ein Beweis dafür, dass sich die Briten unmerklich zu einer modernen europäischen Nation gewandelt hatten?
Die Tageszeitung «The Guardian», die so fragte, verwies darauf, wie schnell doch in jüngsten Jahren viele Briten ihren geliebten, schlecht gelüfteten Pubs den Rücken kehrten und zur «clientèle» neuer Cafés im kontinentalen Stil geworden seien - und eben, ähnlich habe das Inselvolk jetzt offenbar auch von Hogarth, Turner, den Präraffaeliten sowie der Bloomsbury Group genug und begehre nach der kosmopolitischen Kunst in der Tate Modern.
Schuld an dieser Entwicklung war allerdings, sieht man einmal von der als Magnet wirkenden Tate Modern ab, nicht die in der Tate Britain übrig gebliebene Sammlung, sondern vielmehr ein kleiner Bestandteil davon: nämlich eine neue, im Frühjahr 2000 vorgestellte beständige Schau. Statt chronologisch oder nach Schule waren die Werke in dieser permanenten Ausstellung nach Themen geordnet. Solche Themen, denen jeweils ein Raum gewidmet war, hiessen zum Beispiel «Private and Public», «Visionary Art», «Home and Abroad» und «City Life». Doch was hatten Bilder wie Füsslis «Titania and Bottom» und Kitais «Cecil Court» (1983/84) schon gemeinsam - ja welche neue Einsicht gewann der Besucher aus dem Hinweis, es handle sich bei diesen nebeneinander hängenden Werken ebenso um solche «urbaner» Künstler wie Gilbert und George beziehungsweise L. S. Lowry im selben Raum? Indem sie plötzlich ebenso «sexy» - wie die Tate Modern - sein wollte, erlitt die Tate Britain eine Identitätskrise; die «Sunday Times» erkor sie schliesslich, weil so schlecht besucht, zum beklagenswertesten Museum Londons.
Subtile neue Architektur
Jetzt aber lässt dieses Kunstmuseum wieder aufhorchen. Nachdem der Architekt John Miller tief in die Fundamente des alten Millbank-Gefängnisses, über denen der Komplex angelegt ist, hinuntergrub, steht die Tate Britain seit Anfang November in neuem Glanz da. Erstmals ist für Ausstellungen auch im Untergeschoss Platz vorhanden: hier, in den aus sechs Räumen bestehenden «Linbury Galleries», werden fortan temporäre Ausstellungen gezeigt. Diesen Galerien, wie auch vier neuen Räumen im darüber liegenden Stockwerk, hatte ein verborgener Innenhof weichen müssen. Weitere fünf Räume im bisherigen Nordwestflügel haben ein ihrem ursprünglichen Design angepasstes Facelifting erhalten. Völlig neu sind auf der westlichen Seite des Museums ein von der Strasse ins Untergeschoss führender Eingang sowie dahinter ein grosszügiges Foyer mit Bookshop. Last, but not least: Neu ist auch ein in seiner Schlichtheit grossartiges, von Tageslicht erhelltes Treppenhaus aus Kalkstein, das die Linbury Galleries mit dem oberen Stock verbindet; mit diesem Treppenhaus und dem Eingang - d. h. mit zwei westwärts in den Komplex schneidenden Schwerpunkten - ist es Miller gelungen, eine bisher unwandelbar wirkende Anlage auf subtile Weise neu zu orientieren.
Wohlverstanden: Weder war die Tate Britain je noch ist sie jetzt strukturell eine geschlossene Einheit. Zum Architekten Sidney Smith, nach dessen Plänen sie erbaut und 1897 als The National Gallery of British Art eröffnet wurde, lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass er in der Gunst des Zucker-Tycoons und Kunstsammlers Henry Tate stand. Bald einmal nach diesem benannt, wurde die Tate immer dann, wenn sich neue Gönner einstellten, erweitert. So vor dem Ersten Weltkrieg für die Turner-Sammlung nach Plänen von Romaine Walker und zwanzig Jahre später, als John Russell Pope aus New York dem Bau die zentrale Kuppel aufsetzte und den Skulpturen-Galerien einen neuen Look verlieh. Dann, in den achtziger Jahren, kam mit der Clore Gallery ein Anbau von James Stirling. Doch während die Clore Gallery anders sein wollte und dies mit ihrer Fassade laut verkündet, reden jetzt die von John Miller vorgenommenen Erweiterungen im Flüsterton von der Absicht des Architekten, sich anzupassen. Miller hat seine Absicht so konsequent realisiert, dass viele Besucher kaum merken werden, wo Neu und Alt aufeinander stossen.
Chronologie, gestärkte Identität
Wie es ihr erster Name verkündete, war der Tate Britain ursprünglich eine grosse Rolle zugedacht: Hier sollte die Geschichte der britischen Kunst erzählt und zelebriert werden. Genau darauf scheinen sich jetzt die für das Museum Verantwortlichen wieder besonnen zu haben - denn was der Besucher nebst neuer Architektur zu sehen bekommt, ist unter dem Motto Collections 2002-1500 die weltweit grösste permanente Ausstellung britischer Kunst. Die unsägliche Idee von einer nach Themen geordneten Schau wurde fallengelassen, und so ist denn das, was jetzt statt die Lager die dem Publikum zugänglichen Räume füllt, chronologisch geordnet. Seit der Eröffnung der Tate Modern und jetzt mit dem Facelifting vergrösserte sich in der Tate Britain die Ausstellungsfläche um insgesamt 35 Prozent - was heisst, dass Schlüsselfiguren in der Sammlung, darunter Hogarth, Gainsborough, Blake, Constable, die Präraffaeliten, Moore, Hepworth, Bacon und Hockney, umfänglicher gezeigt werden können. Die erste, soeben eröffnete temporäre Ausstellung in den Linbury Galleries hat die viktorianische Aktmalerei zum Thema.
Wohl wundert man sich in der permanenten Ausstellung noch gelegentlich, so im achten Raum, wo Nashs «Totes Meer» in der Gesellschaft von Blake hängt, doch grossenteils verdienen die arbiträren Einfälle ein Lob. Solche Einfälle sind eine der viktorianischen Photographie eingeräumte Sektion sowie, bei der Kunst des 18. Jahrhunderts, ein mit «Britain and Italy» betitelter Raum. Die vorübergehend vorhandenen Leihgaben füllen Lücken in der Sammlung, was - will diese doch zu der Geschichte der britischen Kunst «the full picture» vermitteln - ebenfalls positiv beurteilt werden muss. Zum Beispiel hat die Tate Britain keinen Holbein, doch sind von diesem hier gegenwärtig zwei grossartige Bilder - «Lady with a Squirrel» und «Sir Henry Guildford» - zu sehen. In der Tat bedarf die Sammlung der Tate Britain der Ergänzung; wohl ist sie stark an Bildern von Turner, Blake, Stubbs und den Präraffaeliten - doch fehlt zum Beispiel irgendein vor 1816 entstandenes bildhauerisches Werk. Ebenso ist weder van Dyck noch die schottische Kunst gross vertreten.
Es ist also jetzt mit den «extraterritorialen» Holbein und van Dyck, ja mit «Britain and Italy» auch die für die Geschichte der britischen Kunst unerlässliche internationale Dimension gegeben. Die Frage ist, ob die Tate Britain nicht vielleicht Stanley Spencer - oder Sickert - einen mehr oder weniger permanenten Raum widmen sollte. Sickert zum Beispiel findet sich gegenwärtig zusammen mit der Camden Town Group, Whistler sowie anderen unter dem Motto «British Art and France 1870-1914» auf dieselben vier Wände gedrängt. Doch zu viele Fragen zu der nach dem Facelifting in ihrer Identität neu gestärkten Tate Britain würden wohl höchstens eine weitere Frage anregen - ob nämlich dieses Museum für seine Sammlung nicht noch mehr Platz hätte brauchen können.
Seit die Tate Modern vor eineinhalb Jahren mit einem grossen Spektakel eröffnet wurde, schien die gute alte Tate Gallery - die Tate Britain, wie sie seither heisst - zu einem Schattendasein verurteilt. Kamen im April 2000 noch 162 000 Besucher in die Tate Britain, so fiel das Total der Eintritte im Mai auf 99 000 und im Juni gar auf nur 62 000. Die Tate Modern hingegen meldete Rekordzahlen: fünf Millionen Besucher allein im ersten Jahr! War dies etwa ein Beweis dafür, dass sich die Briten unmerklich zu einer modernen europäischen Nation gewandelt hatten?
Die Tageszeitung «The Guardian», die so fragte, verwies darauf, wie schnell doch in jüngsten Jahren viele Briten ihren geliebten, schlecht gelüfteten Pubs den Rücken kehrten und zur «clientèle» neuer Cafés im kontinentalen Stil geworden seien - und eben, ähnlich habe das Inselvolk jetzt offenbar auch von Hogarth, Turner, den Präraffaeliten sowie der Bloomsbury Group genug und begehre nach der kosmopolitischen Kunst in der Tate Modern.
Schuld an dieser Entwicklung war allerdings, sieht man einmal von der als Magnet wirkenden Tate Modern ab, nicht die in der Tate Britain übrig gebliebene Sammlung, sondern vielmehr ein kleiner Bestandteil davon: nämlich eine neue, im Frühjahr 2000 vorgestellte beständige Schau. Statt chronologisch oder nach Schule waren die Werke in dieser permanenten Ausstellung nach Themen geordnet. Solche Themen, denen jeweils ein Raum gewidmet war, hiessen zum Beispiel «Private and Public», «Visionary Art», «Home and Abroad» und «City Life». Doch was hatten Bilder wie Füsslis «Titania and Bottom» und Kitais «Cecil Court» (1983/84) schon gemeinsam - ja welche neue Einsicht gewann der Besucher aus dem Hinweis, es handle sich bei diesen nebeneinander hängenden Werken ebenso um solche «urbaner» Künstler wie Gilbert und George beziehungsweise L. S. Lowry im selben Raum? Indem sie plötzlich ebenso «sexy» - wie die Tate Modern - sein wollte, erlitt die Tate Britain eine Identitätskrise; die «Sunday Times» erkor sie schliesslich, weil so schlecht besucht, zum beklagenswertesten Museum Londons.
Subtile neue Architektur
Jetzt aber lässt dieses Kunstmuseum wieder aufhorchen. Nachdem der Architekt John Miller tief in die Fundamente des alten Millbank-Gefängnisses, über denen der Komplex angelegt ist, hinuntergrub, steht die Tate Britain seit Anfang November in neuem Glanz da. Erstmals ist für Ausstellungen auch im Untergeschoss Platz vorhanden: hier, in den aus sechs Räumen bestehenden «Linbury Galleries», werden fortan temporäre Ausstellungen gezeigt. Diesen Galerien, wie auch vier neuen Räumen im darüber liegenden Stockwerk, hatte ein verborgener Innenhof weichen müssen. Weitere fünf Räume im bisherigen Nordwestflügel haben ein ihrem ursprünglichen Design angepasstes Facelifting erhalten. Völlig neu sind auf der westlichen Seite des Museums ein von der Strasse ins Untergeschoss führender Eingang sowie dahinter ein grosszügiges Foyer mit Bookshop. Last, but not least: Neu ist auch ein in seiner Schlichtheit grossartiges, von Tageslicht erhelltes Treppenhaus aus Kalkstein, das die Linbury Galleries mit dem oberen Stock verbindet; mit diesem Treppenhaus und dem Eingang - d. h. mit zwei westwärts in den Komplex schneidenden Schwerpunkten - ist es Miller gelungen, eine bisher unwandelbar wirkende Anlage auf subtile Weise neu zu orientieren.
Wohlverstanden: Weder war die Tate Britain je noch ist sie jetzt strukturell eine geschlossene Einheit. Zum Architekten Sidney Smith, nach dessen Plänen sie erbaut und 1897 als The National Gallery of British Art eröffnet wurde, lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass er in der Gunst des Zucker-Tycoons und Kunstsammlers Henry Tate stand. Bald einmal nach diesem benannt, wurde die Tate immer dann, wenn sich neue Gönner einstellten, erweitert. So vor dem Ersten Weltkrieg für die Turner-Sammlung nach Plänen von Romaine Walker und zwanzig Jahre später, als John Russell Pope aus New York dem Bau die zentrale Kuppel aufsetzte und den Skulpturen-Galerien einen neuen Look verlieh. Dann, in den achtziger Jahren, kam mit der Clore Gallery ein Anbau von James Stirling. Doch während die Clore Gallery anders sein wollte und dies mit ihrer Fassade laut verkündet, reden jetzt die von John Miller vorgenommenen Erweiterungen im Flüsterton von der Absicht des Architekten, sich anzupassen. Miller hat seine Absicht so konsequent realisiert, dass viele Besucher kaum merken werden, wo Neu und Alt aufeinander stossen.
Chronologie, gestärkte Identität
Wie es ihr erster Name verkündete, war der Tate Britain ursprünglich eine grosse Rolle zugedacht: Hier sollte die Geschichte der britischen Kunst erzählt und zelebriert werden. Genau darauf scheinen sich jetzt die für das Museum Verantwortlichen wieder besonnen zu haben - denn was der Besucher nebst neuer Architektur zu sehen bekommt, ist unter dem Motto Collections 2002-1500 die weltweit grösste permanente Ausstellung britischer Kunst. Die unsägliche Idee von einer nach Themen geordneten Schau wurde fallengelassen, und so ist denn das, was jetzt statt die Lager die dem Publikum zugänglichen Räume füllt, chronologisch geordnet. Seit der Eröffnung der Tate Modern und jetzt mit dem Facelifting vergrösserte sich in der Tate Britain die Ausstellungsfläche um insgesamt 35 Prozent - was heisst, dass Schlüsselfiguren in der Sammlung, darunter Hogarth, Gainsborough, Blake, Constable, die Präraffaeliten, Moore, Hepworth, Bacon und Hockney, umfänglicher gezeigt werden können. Die erste, soeben eröffnete temporäre Ausstellung in den Linbury Galleries hat die viktorianische Aktmalerei zum Thema.
Wohl wundert man sich in der permanenten Ausstellung noch gelegentlich, so im achten Raum, wo Nashs «Totes Meer» in der Gesellschaft von Blake hängt, doch grossenteils verdienen die arbiträren Einfälle ein Lob. Solche Einfälle sind eine der viktorianischen Photographie eingeräumte Sektion sowie, bei der Kunst des 18. Jahrhunderts, ein mit «Britain and Italy» betitelter Raum. Die vorübergehend vorhandenen Leihgaben füllen Lücken in der Sammlung, was - will diese doch zu der Geschichte der britischen Kunst «the full picture» vermitteln - ebenfalls positiv beurteilt werden muss. Zum Beispiel hat die Tate Britain keinen Holbein, doch sind von diesem hier gegenwärtig zwei grossartige Bilder - «Lady with a Squirrel» und «Sir Henry Guildford» - zu sehen. In der Tat bedarf die Sammlung der Tate Britain der Ergänzung; wohl ist sie stark an Bildern von Turner, Blake, Stubbs und den Präraffaeliten - doch fehlt zum Beispiel irgendein vor 1816 entstandenes bildhauerisches Werk. Ebenso ist weder van Dyck noch die schottische Kunst gross vertreten.
Es ist also jetzt mit den «extraterritorialen» Holbein und van Dyck, ja mit «Britain and Italy» auch die für die Geschichte der britischen Kunst unerlässliche internationale Dimension gegeben. Die Frage ist, ob die Tate Britain nicht vielleicht Stanley Spencer - oder Sickert - einen mehr oder weniger permanenten Raum widmen sollte. Sickert zum Beispiel findet sich gegenwärtig zusammen mit der Camden Town Group, Whistler sowie anderen unter dem Motto «British Art and France 1870-1914» auf dieselben vier Wände gedrängt. Doch zu viele Fragen zu der nach dem Facelifting in ihrer Identität neu gestärkten Tate Britain würden wohl höchstens eine weitere Frage anregen - ob nämlich dieses Museum für seine Sammlung nicht noch mehr Platz hätte brauchen können.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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