Bauwerk

Fortbildungsakademie
Jourda & Perraudin, HHS Planer + Architekten AG - Herne (D) - 1999
Fortbildungsakademie, Foto: Monika Nikolic
Fortbildungsakademie, Foto: Monika Nikolic

Nizza im Ruhrgebiet

Die Fortbildungsakademie von Jourda & Perraudin in Herne

Eine vom französischen Architekturbüro Jourda & Perraudin konzipierte Stadt unter Glas ist auf einer früheren Industriebrache in Herne entstanden. Das Ensemble der Bauten zeigt auf vorbildliche Weise, wie sich ökologische Konzepte und herausragende Architektur vereinen lassen. Vor wenigen Tagen konnte nun die Anlage eingeweiht werden.

20. Oktober 1999 - Hubertus Adam
Ein Unternehmer aus Lyon und ein Bergbauingenieur aus Marseille taten sich 1871 zusammen und erwarben ein Stück Land nahe der westfälischen Ortschaft Herne. Nach dem seinerzeit als Wunderwerk gepriesenen Eisenbahntunnel in den französischen Alpen nannten sie ihre Zeche «Mont-Cenis», und der Name lässt wohl etwas von der Dynamik anklingen, welche der Entwicklung des Ruhrkohlebergbaus seinerzeit eignete. Mehr als ein Jahrhundert beherrschte die Zeche mit ihren Fördertürmen den Stadtteil Sodingen, dann kam mit der Krise der nordrhein-westfälischen Montanindustrie das Aus. 1978 fuhren die letzten Kumpel in den Schacht, zwei Jahre später gähnte an Stelle der einstigen Zechenanlagen eine 60 Hektar grosse Brache. Strukturwandel beschränkte sich hier wie anderenorts im Revier zunächst darauf, Strukturen der industriellen Ära auszulöschen. Die Arbeitslosenquote in Herne liegt heute bei nahezu 20 Prozent.

«Wandel ohne Wachstum», so lautet einer der Slogans der 1988 beschlossenen, dezentral ausgerichteten IBA Emscher Park. Natürlich ist die ökonomische und ökologische Erneuerung der grössten Industrieregion Europas ein Ziel, zu dem das Instrument Bauausstellung nur Anstösse geben kann. Und eine Rundreise zu den einzelnen Projekten hinterlässt mancherorts zwiespältige Gefühle: Ob es gelingt, all die Businessparks, Innovationszentren und Zukunftsfabriken dauerhaft mit Betriebsamkeit zu erfüllen, ist ebenso fragwürdig wie die Akzeptanz mancher Kunst- und Kulturprojekte in einer nicht eben bildungsbürgerlich geprägten Region. Doch es gibt auch Projekte, die man als gelungen bezeichnen möchte: etwa die Revitalisierung des Duisburger Innenhafens und die Umnutzung des Mont- Cenis-Geländes in Herne.

Die Entscheidung des Landes Nordrhein-Westfalen, auf dem Areal der Kohlengrube eine Fortbildungsakademie des Innenministeriums zu errichten, führte 1991/92 zu einem zweistufigen Wettbewerb, in dem sich das in Lyon gegründete Atelier Jourda & Perraudin mit einem zukunftsweisenden Konzept einer Stadt unter Glas durchsetzen konnte. Gemeinsam mit den Projektpartnern Hegger Hegger Schleiff aus Kassel und den Ingenieuren von Ove Arup wurde, unterstützt durch einen Forschungsauftrag der Europäischen Union, die Idee einer mikroklimatischen Hülle entwickelt. - Insgesamt 62 Fichtenstämme tragen die aus Holz bestehende Dachkonstruktion der ringsum verglasten Halle. Die Dimensionen sind beeindruckend: 176 Meter misst der Innenraum in der Länge, 72 Meter in der Breite und 15 Meter in der Höhe. In diesen gewaltigen, lichtdurchfluteten Freiraum stellte Projektarchitektin Françoise Hélène Jourda acht aus stereometrischen Primärformen entwickelte, zwei- bis dreigeschossige Baukörper. Neben die klaren Kuben treten die Halbtonne des Casinos sowie der markante Kegelstumpf der Bibliothek. In zwei Zeilen die zentrale Erschliessungsachse flankierend, bieten die Volumina nicht nur der Fortbildungsakademie Platz. Entgegen den ursprünglichen Plänen entschied man sich nämlich während der Projektierungsphase, auch kommunale und öffentliche Einrichtungen in die Gebäudehülle zu integrieren. Durch die Einbeziehung von Quartierbibliothek und Bürgeramt, Restaurant, Hotel und Versammlungssaal findet das in der Glashülle anklingende Thema der Transparenz und Offenheit auch funktional seine Entsprechung.

Holzstege und Schotterflächen alternieren in den unbebauten Arealen und setzen sich auch ausserhalb der verglasten Stadt fort. Eine weitläufige Treppenanlage führt vom Zentrum Sodingens hinauf zur Akademie, die von einem grossen Pappeloval umgeben ist. «Oval Light» nennt der Künstler Mischa Kuball seine Installation, die Akademie und Park zukünftig ins Licht rücken wird. Mit ihrer Verkleidung aus weisslasierten Kiefernpaneelen wirken die einzelnen Volumina im Inneren der Halle angenehm leicht und freundlich; wo früher einmal Schwerstarbeit verrichtet wurde, weht nun ein fast mediterraner Hauch. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Denn die Glashülle, die sich, sofern es das Wetter zulässt, an verschiedensten Stellen öffnen lässt und auch im Winter durch Sonneneinwirkung und Wärmerückgewinnung angenehme Temperaturen ermöglicht, lässt ein Binnenklima entstehen, das dem von Nizza gleicht. Leben kann sich somit ganzjährig auch ausserhalb der eingestellten Gebäude abspielen, deren Räume daher vergleichsweise bescheiden dimensioniert werden konnten. Da eine Glashaut alles umhüllt, wurden Wetterschutz und Wärmedämmung für die Fassaden der einzelnen Gebäude zu irrelevanten Faktoren.

Die gläserne Hülle übernimmt eine weitere Funktion: In das Dach und die Südwestfassade wurden mehr als 10 000 Quadratmeter Photovoltaik-Module integriert. Stolz spricht denn auch die «Entwicklungsgesellschaft Mont-Cenis» vom grössten Solarkraftwerk der Welt. Die glasintegrierten Siliziumzellen, die zusammen eine Spitzenleistung von einem Megawatt erbringen können, sind hier einmal nicht lästige Applikation, sondern dienen, gleichsam zu Wolken arrangiert, der gezielten Verschattung einiger Raumpartien im Inneren. Mit grossen Dächern und gläsernen Hüllen haben Jourda & Perraudin schon verschiedentlich experimentiert - so beim Internationalen Schulzentrum in Lyon (1989-92) und den Universitätsbauten für Marne-la-Vallé (1992-96). Wurde die Stringenz ihrer Projekte aber bisweilen durch manieriert-organische Ausbildungen in Frage gestellt, so beeindruckt das Meisterwerk in Herne gerade durch seine strukturelle Klarheit und formale Prägnanz. Zudem ist es ein Beleg dafür, dass ökologisches Bauen und grosse Architektur zu harmonieren vermögen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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