Bauwerk

Engel am Naschmarkt
gaupenraub+/- - Wien (A) - 2005
Engel am Naschmarkt, Foto: Patricia Weisskirchner
Engel am Naschmarkt, Foto: Patricia Weisskirchner
17. Juni 2005 - Az W
Dass man auf dem Wiener Naschmarkt nicht nur Lebensmittel und Feinkost kaufen, sondern auch erlesen speisen kann, ist ja schon lange kein Geheimnis mehr. Die systematische gastronomische Erschließung des traditionsreichen Markts begann vor etwa 15 Jahren, als man die Lagerstände in der zweiten Reihe nach und nach für Lokale freigab, um das Marktgeschehen um eine weitere „Erlebnis“-Komponente zu bereichern. Und so gesellten sich zu Beisl-Klassikern wie “Zur eisernen Zeit" allmählich zahlreiche andere, auch architektonisch gestaltete Schauplätze wie etwa das „Deli“ von Dietrich Untertrifaller, um nur ein – auch bereits wieder klassisches – Beispiel dieser kulinarischen Entwicklung zu nennen. Da die Gastrozeile inzwischen sehr dicht besiedelt ist, sind Neuzugänge jüngst rarer geworden. Der kürzlich eröffnete „Engel am Naschmarkt“ verdient jedoch insofern Beachtung, als er sich als ein wahres Raumkunststück im Zentimeterbereich erweist, sodass die Platznot geradezu als Tugend erscheint, die dem Restaurant einen besonderen Charme verleiht.

Ausgangspunkt war ein 19 m² großes, bislang wenig geschätztes Ecklokal an der Außenkante des unter Ensembleschutz stehenden Markts (direkt an der Linken Wienzeile gegenüber dem Theater an der Wien bzw. dem Theatercafé von Hermann Czech gelegen), in dem nun sowohl gekocht und serviert, als auch gesessen und gegessen werden sollte. Zunächst wurden die Wandschichten diverser Vormieter von der Holzständerkonstruktion des Marktstandes entfernt, was einen erstaunlichen Raumgewinn von 16 Prozent erbrachte, sodass schließlich eine Nutzfläche von insgesamt 22 m² zur Verfügung stand. Noch immer zu wenig für ein „richtiges“ Lokal?

Der Engel beweist das Gegenteil: Die Gäste sitzen erhöht auf einem Podest, blicken dem Koch buchstäblich in die Töpfe. Dazu der Architekt: “Unter dem Motto „dem Koch über die Schultern schauen“ haben wir die extremst denkbare Show-Küche vorgeschlagen, die gleichzeitig den riesigen Vorteil bietet, dass sich Koch und Gäste den Bewegungsraum teilen und somit für den eigentlichen Zweck des Lokals - nämlich Kochen und Essen - am meisten Platz übrig bleibt.” Die zweite wirkungsvolle Maßnahme besteht darin, dass das Fensterparapet der Längswand bei Schönwetter als Podest auf die Straße geklappt werden kann und so den Restaurantbereich verdoppelt. Die Fensterflügel lassen sich ebenfalls nach außen drehen und bieten als Vordach zusätzlich Schutz. Dieser Klapp- und Drehmechanismus beruht auf einer genauen typologischen Analyse der umgebenden Marktstände: „Sind sie geschlossen, weiß man oft nicht, was sie zu bieten haben. Sind sie aber geöffnet, entfaltet sich der gesamte Innenraum mit seinem Angebot nahezu uferlos bis auf die Straße - der fließende Kontakt zum Passanten ist hergestellt, die Verwandlung von diesem zum Gast nur mehr ein Augenblick entfernt.“ Die symbolische Schwelle des Podests gibt dem im Freien sitzenden Gast dennoch das Gefühl, im Lokal zu sein und nicht irgendwo diffus rundum.

Die sorgfältige, auf raumvergrößernde Wirkung bedachte Planung wird bis ins Detail spürbar. Die Sitzecke mit Lederbank und Spiegelflächen ist eigentlich eine Loge im Freien, die Wandfarbe korrespondiert mit dem Grauton der sichtbaren Holzständerkonstruktion, und Tische wie Bestuhlung besitzen jenes Maß an Alltäglichkeit, das ein neues Lokal davor bewahrt, allzu „gestaltet“ zu wirken. Und in einem Restaurant, das sich „Engel“ nennt, darf natürlich der Himmel (sprich die Raumdecke) auch ein wenig glitzern. (Text: Gabriele Kaiser)

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien

Ansprechpartner:in für diese Seite: Maria Welzigwelzig[at]azw.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Shahab Jahanbekloo

Tragwerksplanung

Fotografie