Bauwerk
Wohnbau am Rummelsburger See
Hermann Hertzberger - Berlin (D) - 1997
Exklusiver Spreeblick in Berlin
Eine wassernahe Wohnanlage von Herman Hertzberger
4. Dezember 1998 - Philipp Meuser
Die Wiederentdeckung des Wassers als stadtentwicklungspolitisches Element führte in vielen europäischen Städten zu einer Transformation obsoleter Hafenanlagen und vernachlässigter Uferzonen. Ohne Zweifel liegen die Gründe für dieses neue Interesse auch in der zurückgegangenen Verschmutzung und der dadurch gesteigerten Wasserqualität. Auch in Berlin ist der Aufbruch zu neuen Ufern spürbar. Ein landeseigener Entwicklungsträger, die Wasserstadt GmbH, verwandelt gegenwärtig zwei ehemalige Industriebrachen in wertvolles Wohnland. Vorab in der Rummelsburger Bucht – knapp fünf Minuten vom Alexanderplatz entfernt – haben namhafte Architekten sehenswerte Bauten errichtet. Das Motto: Die Stadt entdeckt ihre Adressen am Wasser wieder.
Olympische Idee
Rund um den Rummelsburger See sind in den vergangenen vier Jahren die ersten 1000 von insgesamt 5900 zunächst als olympisches Dorf geplanten Wohneinheiten realisiert worden. Bei näherer Betrachtung der hochverdichteten Quartiere bleibt die Stadtflucht von Tausenden von Jungfamilien in die Peripherie unverständlich: Vier S-Bahn-Stationen vom historischen Zentrum entfernt sind grüne Idyllen am Wasser entstanden. Fast schon Ferienstimmung herrscht auf dem Stralauer Speicherplatz, an dem sich die Konversion des brachliegenden Umfeldes überzeugend darstellen lässt. Am nördlichen Ufer der Halbinsel, die dem Stadtleben jahrzehntelang durch Industrie- und Gewerbezonen entzogen war, hat der niederländische Architekt Herman Hertzberger zusammen mit seiner Berliner Kontaktarchitektin Inken Baller einen weissen Wohnriegel errichtet, der sich viertelkreisförmig um einen alten Palmölspeicher legt. Aus allen 45 Eigentumswohnungen bleibt der fast auf Seeniveau gesenkte Platz und das neben dem Ziegelgebäude spannungsvoll inszenierte Wasser sichtbar. Zudem verbindet Hertzberger städtisches Wohnen (die Erdgeschosszone wird gewerblich genutzt) mit einem Lebensgefühl, das andernorts nur nach langen Verkehrsstrapazen erlebt werden kann: einladende Sitztreppen, eigene Bootsanleger sowie eine ans IJsselmeer erinnernde Hafenatmosphäre.
Auch wenn Hertzbergers Idee, die gesamte Halbinsel mit Grachten zu durchkämmen und damit ein Klein-Amsterdam nach Stralau zu exportieren, von der Bauherrin aus Kostengründen nicht mitgetragen wurde, hat das Wasser dennoch Einzug in das Stadtbild gehalten. Der Niederländer hat es verstanden, das Quartier mit einer linearen Zeilenstruktur zu überziehen, die eine Art Korridor zwischen Rummelsburger See und Stralauer Spree herstellten. Das Filetstück am Speicher hat Hertzberger, der Mitgewinner des städtebaulichen Wettbewerbs von 1992, mit einem Riegel mit Mietwohnungen und der schwungvollen Kurve mit Eigentumswohnungen selbst bebaut. Der abgetreppte Sockel, unter dem sich die Tiefgarage mit nur 23 Stellplätzen befindet, trägt eine verziegelte Ladenzone und drei weiss verputzte Etagen. Zunächst mag dort verwundern, dass Hertzberger innenliegende Bäder ausführte. Dies kommt jedoch der freien Grundrissgestaltung der restlichen Wohnfläche zugute, in die eine offene Küche integriert ist und die in den grossen, amorphen Balkonen eine äusserst benutzerfreundliche Erweiterung erfährt. Ohne weiteres lässt sich dort ein runder Esstisch für acht Personen unterbringen. Hertzbergers Architektur soll Identität schaffen und den Nutzer zur Partizipation anregen.
Die Handschrift des heute 66jährigen, für seine Schul-, Kultur- und Wohnbauten international bekannten Amsterdamer Architekten liest sich auch in der zweigeschossigen, schirmartigen Dachzone, die zum See hin in Maisonettes übergeht. Dort ist Hertzberger allerdings ein mehr als nur kosmetischer Fehler unterlaufen: Denn die Eckwohnung – zudem mit 136 Quadratmetern die grösste im Block – verfügt nur über winzige Fenster. Der attraktivste Seeblick wird dem zukünftigen Bewohner versperrt bleiben, weil die strenge und ästhetische Fassadengraphik offenbar keine zusätzliche Öffnung gegen Osten hin zuliess.
Filter der Öffentlichkeit
Dennoch hat Herzberger mit der Bebauung «Am Speicher 1 bis 10» einen Entwurf realisiert, der sich von den Banalitäten des Berliner Nachwendebooms zwischen Karow im Nordosten und Rudow im Süden absetzt. Sein geschickter Umgang mit öffentlichen und privaten Räumen mag dafür ausschlaggebend gewesen sein. Denn bereits bei Austritt aus den eigenen vier Wänden befinden sich die Bewohner in einem öffentlichen Raum, der durch die transparenten Treppenhäuser und Aufzüge geschaffen wird. Dieser Filter der Öffentlichkeit wiederholt sich auch in der Torsituation, die der Besucher durchschreiten muss. Dort türmt der Mitbegründer des Strukturalismus, der bereits in seinen jüngsten holländischen Kulturbauten, etwa dem Theater von Den Haag oder der Musikbibliothek von Breda, zu freieren Formen gefunden hat, die Volumen aufeinander und fängt sie mit V-förmigen Stützen wieder ab. Die schrägen, konstruktiv wenig nachvollziehbaren Betonsäulen machen nur Sinn, wenn man sie als gestalterische Wiederholung der Dachkonstruktion deutet.
Mit der einfachen Formel «vorne Friedrichstrasse, hinten Ostsee» hatte Kurt Tucholsky seinerzeit die Lebensbedürfnisse der Berliner beschrieben. Doch das Privileg des grossstädtischen Wohnens mit Schiffsanleger vor der Haustür verbuchten nur wenige Bürger für sich. Von einem allgemeinen Wohnen am Wasser konnte keine Rede sein, zumal die Ufer der rohstoffabhängigen Industrie und ihren Lagerhallen vorbehalten waren. Darüber hinaus galt eine Wohnung in Hafennähe nicht als eine der Adressen, die in Goldprägung auf der Visitenkarte erschienen. Dies dürfte sich bei heutigen Quadratmeterpreisen allerdings ändern. Die Lofts, die 1999 im alten Speicher nach den Plänen des jungen Berliner Büros Becker, Gewers, Kühn & Kühn entstehen werden, sollen für knapp 5500 Franken pro Quadratmeter angeboten werden – eine für Berliner Verhältnisse hohe Summe.
Olympische Idee
Rund um den Rummelsburger See sind in den vergangenen vier Jahren die ersten 1000 von insgesamt 5900 zunächst als olympisches Dorf geplanten Wohneinheiten realisiert worden. Bei näherer Betrachtung der hochverdichteten Quartiere bleibt die Stadtflucht von Tausenden von Jungfamilien in die Peripherie unverständlich: Vier S-Bahn-Stationen vom historischen Zentrum entfernt sind grüne Idyllen am Wasser entstanden. Fast schon Ferienstimmung herrscht auf dem Stralauer Speicherplatz, an dem sich die Konversion des brachliegenden Umfeldes überzeugend darstellen lässt. Am nördlichen Ufer der Halbinsel, die dem Stadtleben jahrzehntelang durch Industrie- und Gewerbezonen entzogen war, hat der niederländische Architekt Herman Hertzberger zusammen mit seiner Berliner Kontaktarchitektin Inken Baller einen weissen Wohnriegel errichtet, der sich viertelkreisförmig um einen alten Palmölspeicher legt. Aus allen 45 Eigentumswohnungen bleibt der fast auf Seeniveau gesenkte Platz und das neben dem Ziegelgebäude spannungsvoll inszenierte Wasser sichtbar. Zudem verbindet Hertzberger städtisches Wohnen (die Erdgeschosszone wird gewerblich genutzt) mit einem Lebensgefühl, das andernorts nur nach langen Verkehrsstrapazen erlebt werden kann: einladende Sitztreppen, eigene Bootsanleger sowie eine ans IJsselmeer erinnernde Hafenatmosphäre.
Auch wenn Hertzbergers Idee, die gesamte Halbinsel mit Grachten zu durchkämmen und damit ein Klein-Amsterdam nach Stralau zu exportieren, von der Bauherrin aus Kostengründen nicht mitgetragen wurde, hat das Wasser dennoch Einzug in das Stadtbild gehalten. Der Niederländer hat es verstanden, das Quartier mit einer linearen Zeilenstruktur zu überziehen, die eine Art Korridor zwischen Rummelsburger See und Stralauer Spree herstellten. Das Filetstück am Speicher hat Hertzberger, der Mitgewinner des städtebaulichen Wettbewerbs von 1992, mit einem Riegel mit Mietwohnungen und der schwungvollen Kurve mit Eigentumswohnungen selbst bebaut. Der abgetreppte Sockel, unter dem sich die Tiefgarage mit nur 23 Stellplätzen befindet, trägt eine verziegelte Ladenzone und drei weiss verputzte Etagen. Zunächst mag dort verwundern, dass Hertzberger innenliegende Bäder ausführte. Dies kommt jedoch der freien Grundrissgestaltung der restlichen Wohnfläche zugute, in die eine offene Küche integriert ist und die in den grossen, amorphen Balkonen eine äusserst benutzerfreundliche Erweiterung erfährt. Ohne weiteres lässt sich dort ein runder Esstisch für acht Personen unterbringen. Hertzbergers Architektur soll Identität schaffen und den Nutzer zur Partizipation anregen.
Die Handschrift des heute 66jährigen, für seine Schul-, Kultur- und Wohnbauten international bekannten Amsterdamer Architekten liest sich auch in der zweigeschossigen, schirmartigen Dachzone, die zum See hin in Maisonettes übergeht. Dort ist Hertzberger allerdings ein mehr als nur kosmetischer Fehler unterlaufen: Denn die Eckwohnung – zudem mit 136 Quadratmetern die grösste im Block – verfügt nur über winzige Fenster. Der attraktivste Seeblick wird dem zukünftigen Bewohner versperrt bleiben, weil die strenge und ästhetische Fassadengraphik offenbar keine zusätzliche Öffnung gegen Osten hin zuliess.
Filter der Öffentlichkeit
Dennoch hat Herzberger mit der Bebauung «Am Speicher 1 bis 10» einen Entwurf realisiert, der sich von den Banalitäten des Berliner Nachwendebooms zwischen Karow im Nordosten und Rudow im Süden absetzt. Sein geschickter Umgang mit öffentlichen und privaten Räumen mag dafür ausschlaggebend gewesen sein. Denn bereits bei Austritt aus den eigenen vier Wänden befinden sich die Bewohner in einem öffentlichen Raum, der durch die transparenten Treppenhäuser und Aufzüge geschaffen wird. Dieser Filter der Öffentlichkeit wiederholt sich auch in der Torsituation, die der Besucher durchschreiten muss. Dort türmt der Mitbegründer des Strukturalismus, der bereits in seinen jüngsten holländischen Kulturbauten, etwa dem Theater von Den Haag oder der Musikbibliothek von Breda, zu freieren Formen gefunden hat, die Volumen aufeinander und fängt sie mit V-förmigen Stützen wieder ab. Die schrägen, konstruktiv wenig nachvollziehbaren Betonsäulen machen nur Sinn, wenn man sie als gestalterische Wiederholung der Dachkonstruktion deutet.
Mit der einfachen Formel «vorne Friedrichstrasse, hinten Ostsee» hatte Kurt Tucholsky seinerzeit die Lebensbedürfnisse der Berliner beschrieben. Doch das Privileg des grossstädtischen Wohnens mit Schiffsanleger vor der Haustür verbuchten nur wenige Bürger für sich. Von einem allgemeinen Wohnen am Wasser konnte keine Rede sein, zumal die Ufer der rohstoffabhängigen Industrie und ihren Lagerhallen vorbehalten waren. Darüber hinaus galt eine Wohnung in Hafennähe nicht als eine der Adressen, die in Goldprägung auf der Visitenkarte erschienen. Dies dürfte sich bei heutigen Quadratmeterpreisen allerdings ändern. Die Lofts, die 1999 im alten Speicher nach den Plänen des jungen Berliner Büros Becker, Gewers, Kühn & Kühn entstehen werden, sollen für knapp 5500 Franken pro Quadratmeter angeboten werden – eine für Berliner Verhältnisse hohe Summe.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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