Bauwerk
Kirche Saint-Pierre Firminy
Le Corbusier, José Oubrerie, Yves Perret, Aline Duverger - Firminy (F) - 2006
Mythos interruptus
Saint-Pierre in Firminy wird zum Museum seines Architekten Le Corbusier
41 Jahre nach dem Tod Le Corbusiers wird in Firminy die halbfertige Kirche Saint-Pierre zu Ende gebaut. Die Frage der Authentizität bleibt offen. Doch die Kleinstadt am Rande des Zentralmassivs wird mit ihrem Erbe an Corbusier-Bauten plötzlich zu einer Konkurrenz für Chandigarh.
26. Januar 2007 - Kaye Geipel
Die kleine Stadt am Rande des Zentralmassivs hat sich erst im Laufe der Zeit an die Bebauung der umliegenden Hügel gewagt. Die sich seit den sechziger Jahren wie Schlangen hinräkelnden Großwohnbauten sind inzwischen ein kaum weiter auffallender Bestandteil des städtischen Panoramas geworden. Ein Fremdkörper sticht auf halbem Weg in die Höhe, ein Gebilde, das sich nirgends anlehnt und nur sich selbst zuzuordnen ist. Formale Haltlosigkeit ist die erste und auffälligste Eigenschaft des posthum realisierten Baus von Le Corbusier. Die von ihm Anfang der sechziger Jahre entworfene Kirche ist mit ihrem aufregenden Werdegang (Heft 1-2/2004) zu einem besonderen Fall der Architekturgeschichte geworden. Erst 1970, fünf Jahre nach Le Corbusiers Tod, konnte in einer beispiellosen Anstrengung mit der Umsetzung begonnen werden. Nach wechselvollem Hin und Her wurde der Rohbau 1978 von den Arbeitern verlassen, endgültig, wie es damals schien. Doch der Bau war noch lange nicht fertig. Seau de charbon, Kohleneimer, nannten die Nachbarn bald die nutzlose, zum Himmel hin offene Ruine. 2003 gelang der Start fürs Weiterbauen. Am 24. November letzten Jahres wurde die Kirche, die künftig vor allem Museumszwecken dient und im Sockel ein Corbusier-Museum beherbergen wird, eröffnet.
Der auf quadratischem Grundriss errichtete Kegelbau ist nicht nur mit seiner Geschichte, sondern auch mit seiner Form aus der Zeit gefallen. Zwar gleicht dieser Sichtbetonkörper den „distorted volumes“ des computerisierten Entwerfens und zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit Entwürfen von Zaha Hadid oder Ben van Berkel auf. Aber dann ist er auch umgürtet von merkwürdigen Dekors, die die Dynamik der Aufwärtsbewegung ad absurdum führen und aus der Hand eines zerstreuten Comiczeichners zu kommen scheinen. Die aus dem Dach hervorstoßenden „Lichtkanonen“ etwa oder die kipplige Führung der Regenrinnen um die riesigen Wände des Kegels stehen für einen Entwurf, den heute kein Architekt so zeichnen könnte. Es ist ein Bau, der seinen Besuchern die Wahrnehmung schwer macht: Die Fotografen suchen irritiert nach dem passenden Standpunkt, und die Kritiker haben plötzlich ein UFO, ein Kraftwerk, einen Betonberg oder einen Raketensilo vor Augen und suchen nach der richtigen Metapher. Dabei ist die einstige Formfindung gar nicht so geheimnisvoll: von oben, von den Hügeln her, ist der aufragende Bau auch als eine Öffnung in den Boden zu deuten: unverkennbarer Hinweis für die die Region prägenden Schächte für Kohleabbau. Und vom Tal, von der alten Stadt her kommend, gibt sich das überdimensionierte, zum Himmel gerichtete Fernrohr als Kirchenentwurf eines modernen Künstlers und verschweigt nicht ganz die Provokation seines atheistischen Entwerfers.
Akropolis-Lektion
Im Juni 1960 kam Le Corbusier nach Firminy-Vert, um innerhalb der „grünen“ Stadterweiterung den Standort der Kirche festzulegen. „Er stieg bergwärts, beobachtete mit dem ihm eigenen Scharfsinn die Gegend, stieg wieder talwärts, langsam bis zu dem Punkte, wo er den Bau situierte.“ So erzählte es Eugène Claudius-Petit, damals Bürgermeister von Firminy und zuvor schon, in seiner Funktion als Wiederaufbauminister Frankreichs, einflussreicher Freund des Architekten, der ihm unter anderem den Auftrag für die Unité in Marseille vermittelt hatte.
Man kann diese Erzählung einer Spurensuche nach dem richtigen Standort heute als konstruierten Mythos bespötteln; der hohe Ton wirkt inzwischen fremd. Die Bedeutung der kleinen Geschichte für die weitere Planung ist aber aufschlussreich. Die katholische Kirche hätte sich einen anderen Standort gewünscht, Le Corbusier aber sah seine Idee eines modernen Zentrums nur innerhalb der von ihm selbst bestimmten Umfriedung (Seite 23) des Ovals garantiert. In der weiteren Planung nutzte er die Niveausprünge des ehemaligen Steinbruchs und konzipierte die Kirche als Eckgebäude innerhalb einer ovalen Ringstraße. Hält man sich etwa die Fotos des Parthenons in „Vers une architecture“ vor Augen, könnte man in Firminy-Vert – trotz der ganz anderen Topographie – von einer Akropolis-Lektion sprechen. Alle öffentlichen Bauten Le Corbusiers stehen jetzt auf einem für sich selbst wahrnehmbaren „Plateau“. Der lange Riegel der Maison de la Culture und die steil aufragende Kirche umgreifen Schwimmbad und Stadion von entgegengesetzten Seiten. Die Kirche ist in diesem Gefüge kein statischer Bau mit Vorplatz, sondern ein dynamisches Gelenk, das zugleich den Übergang zwischen alter und neuer Stadt markiert.
Corbusier City
Dino Cinieri hatte mit Architektur nichts im Sinn, als er 2001 für die konservative Partei UMP kandidierte und Firminys neuer Bürgermeister wurde. Cinieri ist ein Unternehmer, dem es gelungen war, ein kleines Büro für Sicherheitsdienste innerhalb von 20 Jahren zu einer Firma von 2000 Mitarbeitern aufzubauen. Bei der Eröffnung von Saint-Pierre im vergangenen November sprach er als Konvertit, dem Le Corbusier sehr am Herzen liegt: „Mir war eines klar geworden: Wenn wir es schaffen, die Kirche fertig zu bauen, dann halten wir ein unvergleichliches kulturelles, touristisches und ökonomisches Juwel in den Händen.“ Nicht nur für ihn war es ein Sinneswandel. Die Stadt, die seit 1971 kommunistisch regiert wurde, hatte Jahrzehnte lang andere Sorgen; der Kohleabbau, der neben dem Eisenerz zu den Haupteinnahmequellen gehörte, wurde 1983 eingestellt, die Arbeitslosigkeit stieg. Firminy ist eine schrumpfende Stadt, von den 24.000 Einwohnern Anfang der achtziger Jahre sind noch 19.000 übrig. Der denkmalgerechte Umgang mit den Bauten Le Corbusiers erschien lange wie eine überflüssige Last. Dann kehrte sich die Stimmung um. Man entdeckte, dass das Erbe des Architekten in Firminy – größter Bestand an Corbusier-Bauten nach Chandigarh – bei der Umstrukturierung helfen könnte. Im Verbund mit dem benachbarten Saint-Etienne, das auch mit Restrukturierungsproblemen zu kämpfen hat, wurde eine Lösung ersonnen. Die „Communauté d’agglomération Saint-Etienne Métropole“, ein Städteverbund mit 400.000 Einwohnern, kaufte 2002 die Ruine für den symbolischen Betrag von einem Euro. In den beiden Sockelgeschossen wird das Museum für moderne Kunst von Saint-Etienne ab diesem Sommer eine Corbusier-Ausstellung einrichten. Die Erwartung ist klar formuliert: Bisher zählte man 15.000 Besucher pro Jahr, künftig sollen es 80.000 sein, manche sprechen von 200.000. Der Konkurrenzkampf um den Kulturtouristen ist bereits erklärt. Dino Cinieri: „Wenn Ronchamps mit seiner Kapelle 150.000 Besucher anlockt, müssten wir eigentlich viel mehr schaffen.“
Ohne den inzwischen 73-jährigen José Oubrerie könnte es solche hochgesteckten Ziele einer „Corbusier-City“ wohl nicht geben. Die Fertigstellung zwischen 2003 und 2006 wurde von ihm geleitet. Der in Ohio, Columbus, lebende Oubrerie ist neben den ausführenden Architekten Yves Perret, Aline Duverger und Romain Chazalon der entscheidende Garant für eine Kontinuität zwischen Le Corbusiers Skizzen und der heutigen Ausführung. Der Mann, der zuerst als Lernender und dann als Mitarbeiter im Pariser Atelier Le Corbusiers an Saint-Pierre gearbeitet hat, war nicht nur über vierzig Jahre hinweg Chefarchitekt, sondern, wie die Amerikaner sagen, „keeper of the flame“. Es war vor allem Oubrerie, der die wichtigen Entscheidungen fällte, der die genaue Neigung des zum Altar hin ansteigenden Bodens festlegte und der die stählerne Kirchentür in starken Farben entwarf.
Ende Januar wird am Wexner Center of the Arts der Ohio State University, an der José Oubrerie unterrichtet, eine große Ausstellung über die 45-jährige Planungsgeschichte von Saint-Pierre eröffnet. Sie trägt den prägnanten Titel und doppeldeutigen Titel: „Architecture interruptus“.[1]
Museumssockel und Kirchenkuppel
Wie viel ist Kontinuität, und wie viel ist „interruptus“, verglichen mit den ursprünglichen Plänen Le Corbusiers?2 Jeder Besuch beginnt heute auf der Ostseite, von der man den Sockel mit dem Museum betritt. Mit den aus konservatorischen Gründen aufgedoppelten, kerngedämmten Betonwänden, dem Sammelsurium an Leuchtkörpern, den verschieden gestalteten Geländerprofilen und den in leuchtenden Farben gestrichenen Akustikdecken verweist hier kaum noch etwas auf die kargen, isolierten Gemeinderäume, die hier einst vorgesehen waren. Vor allem die jeweils mit hohen Sitzstufen ausgestatteten Ausstellungsräume, die einem ähnlichen Typus in der Maison de la Culture abgeschaut sind, stehen für die Museumsfunktion. „Das damalige Projekt war viel einfacher“, sagt Projektarchitekt Yves Perret. Man habe aber versucht, die gestalterischen Unterschiede herauszuarbeiten und dabei mit möglichst wenigen Materialien auszukommen.
Über die von Sichtbetonwänden flankierte Treppe im Südwesten erreicht man nach mehreren Kehrtwendungen ein Zwischenpodest und steht dann in der nur schwach beleuchteten und eiskalten Kuppel des Kirchenraums. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl von elementarer Monumentalität stellt sich ein zwischen den gekippten Sichtbetonwänden. Man starrt, immer noch geblendet, auf die umlaufenden roten, grünen, blauen und gelben Lichtbänder; man tastet sich beim Blick auf den Altar langsam höher zum Sternbild des Orions an der Ostwand, das das Innere des Mantels von Maria auffaltet, und denkt an das Erhabene. „Cette belle petite Eglise“ – eine schöne kleine Kirche –, hatte Le Corbusier Saint-Pierre genannt und dabei nicht ausgesprochen, dass er mit einfachen Mitteln die größte Wucht erzielen wollte.
Museumssockel und Kirchenkuppel sind heute diametral verschiedene Raumteile. Dass sie konzeptuell nicht ganz auseinanderfallen, ist zurückzuführen auf ein verändertes Erschließungskonzept, das sich José Oubrerie für den Sockel ausgedacht hat. In einer Art Spirale laufen die Besucher längs der Fassade um die kästchenförmigen Museumsräume. Entstanden ist eine lebendige Wegeführung, auf der man sich wie in einer Spirale bis hoch zur Kuppel bewegt. Die Frage ist, ob diese dynamische Eigenbewegung der Sparsamkeit des ursprünglichen Sockels, der als Kontrast zur grandiosen Kuppel gedacht war, nicht widerspricht.
Streit um das Original
Die Kirche wird, wiewohl sie mit allen Bestandteilen eines für den Ritus einer katholischen Messe notwendigen Raums ausgestattet ist, also solcher kaum je benutzt werden. Die seit 1905 in Frankreich geltende strikte Trennung von Staat und Kirche hätte eine staatliche Unterstützung auch nicht erlaubt. Saint-Pierre ist heute ein ekklesialer Schauraum, grandios in seiner Wirkung, aber zur Tatenlosigkeit eines Museums verurteilt.
Er erzählt eine fast vergessene Geschichte aus einer Zeit, in der die katholische Kirche nach dem zweiten vatikanischen Konzil neue Gedanken bauen ließ. Das alles liegt weit zurück. Als verantwortlicher Architekt hat sich José Oubrerie, angesprochen auf die einst vorgesehene Kirchennutzung, auf eine Position zurückgezogen, die die Religion ausspart. „Mich interessieren diese Fragen nicht. Ich halte es mit Henri Lefèbvre, der geschrieben hat, alle Städte brauchen nutzlose, große Räume, die den Bewohnern Platz für Ruhe, Konzentration und Meditation bieten. Und im Übrigen bin ich Atheist”.
Die Fondation Le Corbusier in Paris, Gralshüterin des Corbusier’schen Gedankenguts, hat sich bei der Beurteilung der Frage nach der Authentizität zurückgehalten. Es scheint, als müsse jeder, der Saint-Pierre besichtigt, selbst herausfinden, worauf die Pläne und Modelle des Entwurfs einst zielten und was davon umgesetzt werden konnte. Vieles, was störend wirkt, ist ohne Frage der Funktion Museum geschuldet: Der neue Sockel ist in jeder Hinsicht selbständiger und wichtiger, die Eingänge sind exaltierter, skulpturaler geworden. Es gibt im Ganzen mehr Farben, mehr Dichte, mehr Event, als man sich hätte vorstellen mögen. Durch die andere Nutzung rückt die Bedeutung unwichtiger Bereiche in den Vordergrund, vor allem in den Untergeschossen zerfällt die klare Hierarchie des Corbusier’schen Entwurfs in seine Bestandteile. Aber auch in der Kuppel hat der Bau einiges von der waghalsigen Experimentierfreudigkeit, die die vibrierenden Papiermodelle auszeichnete, eingebüßt. Der Stahlbeton wurde mit dem Know-how neuer selbstverdichtender Fließtechniken gezähmt, aber das Gefühl entwerferischer Askese inmitten der ganzen Farbigkeit, das man in La Tourette hautnah erleben kann, fehlt in Firminy. Kurz: Die Primärkonstruktion hat an Bedeutung verloren, während die erzählenden „Accessoires“ der Gestaltung in den Vordergrund rücken.
Kann man Saint-Pierre in eine Reihe stellen mit La Tourette und Ronchamps? Steht dieser Bau für jenen „dritten, neuen Typ“ einer Kirche, den Le Corbusier im Œuvre complète versprochen hatte? Die Antwort hat zwei Facetten: Von der Gestaltung und der Detaillierung der Innenräume her lautet die Antwort Nein. Zu weit weg ist der ursprüngliche Gedanke, zu viel an der inneren Mixtur von Museum und Kirchenschauraum ist eben doch Auslegung „im Geiste von...“. Von der äußeren, monolithischen Kraft des Baukörpers und von der städtebaulichen Bedeutung hingegen lautet die Antwort Ja.
Einer der genauesten Kenner der Planungsgeschichte von Saint-Pierre, Anthony Eardley3, sprach 1981 mit Blick auf die Modelle vom Pathos des „zweifelnden Blicks“ ihrer grandiosen Fassade. Als Porträt des zu Ende gehenden Maschinenzeitalters sei die Kuppel von Firminy die möglicherweise überzeugendste Erfindung des Architekten – Bild einer skeptischen, sich selbst erkennenden Moderne. Yves Perret sagt am Schluss des Besuchs: „Il y a une origine pure quelque part.“ Man kann es frei übersetzen: Das Original ist da. Irgendwo.
Der auf quadratischem Grundriss errichtete Kegelbau ist nicht nur mit seiner Geschichte, sondern auch mit seiner Form aus der Zeit gefallen. Zwar gleicht dieser Sichtbetonkörper den „distorted volumes“ des computerisierten Entwerfens und zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit Entwürfen von Zaha Hadid oder Ben van Berkel auf. Aber dann ist er auch umgürtet von merkwürdigen Dekors, die die Dynamik der Aufwärtsbewegung ad absurdum führen und aus der Hand eines zerstreuten Comiczeichners zu kommen scheinen. Die aus dem Dach hervorstoßenden „Lichtkanonen“ etwa oder die kipplige Führung der Regenrinnen um die riesigen Wände des Kegels stehen für einen Entwurf, den heute kein Architekt so zeichnen könnte. Es ist ein Bau, der seinen Besuchern die Wahrnehmung schwer macht: Die Fotografen suchen irritiert nach dem passenden Standpunkt, und die Kritiker haben plötzlich ein UFO, ein Kraftwerk, einen Betonberg oder einen Raketensilo vor Augen und suchen nach der richtigen Metapher. Dabei ist die einstige Formfindung gar nicht so geheimnisvoll: von oben, von den Hügeln her, ist der aufragende Bau auch als eine Öffnung in den Boden zu deuten: unverkennbarer Hinweis für die die Region prägenden Schächte für Kohleabbau. Und vom Tal, von der alten Stadt her kommend, gibt sich das überdimensionierte, zum Himmel gerichtete Fernrohr als Kirchenentwurf eines modernen Künstlers und verschweigt nicht ganz die Provokation seines atheistischen Entwerfers.
Akropolis-Lektion
Im Juni 1960 kam Le Corbusier nach Firminy-Vert, um innerhalb der „grünen“ Stadterweiterung den Standort der Kirche festzulegen. „Er stieg bergwärts, beobachtete mit dem ihm eigenen Scharfsinn die Gegend, stieg wieder talwärts, langsam bis zu dem Punkte, wo er den Bau situierte.“ So erzählte es Eugène Claudius-Petit, damals Bürgermeister von Firminy und zuvor schon, in seiner Funktion als Wiederaufbauminister Frankreichs, einflussreicher Freund des Architekten, der ihm unter anderem den Auftrag für die Unité in Marseille vermittelt hatte.
Man kann diese Erzählung einer Spurensuche nach dem richtigen Standort heute als konstruierten Mythos bespötteln; der hohe Ton wirkt inzwischen fremd. Die Bedeutung der kleinen Geschichte für die weitere Planung ist aber aufschlussreich. Die katholische Kirche hätte sich einen anderen Standort gewünscht, Le Corbusier aber sah seine Idee eines modernen Zentrums nur innerhalb der von ihm selbst bestimmten Umfriedung (Seite 23) des Ovals garantiert. In der weiteren Planung nutzte er die Niveausprünge des ehemaligen Steinbruchs und konzipierte die Kirche als Eckgebäude innerhalb einer ovalen Ringstraße. Hält man sich etwa die Fotos des Parthenons in „Vers une architecture“ vor Augen, könnte man in Firminy-Vert – trotz der ganz anderen Topographie – von einer Akropolis-Lektion sprechen. Alle öffentlichen Bauten Le Corbusiers stehen jetzt auf einem für sich selbst wahrnehmbaren „Plateau“. Der lange Riegel der Maison de la Culture und die steil aufragende Kirche umgreifen Schwimmbad und Stadion von entgegengesetzten Seiten. Die Kirche ist in diesem Gefüge kein statischer Bau mit Vorplatz, sondern ein dynamisches Gelenk, das zugleich den Übergang zwischen alter und neuer Stadt markiert.
Corbusier City
Dino Cinieri hatte mit Architektur nichts im Sinn, als er 2001 für die konservative Partei UMP kandidierte und Firminys neuer Bürgermeister wurde. Cinieri ist ein Unternehmer, dem es gelungen war, ein kleines Büro für Sicherheitsdienste innerhalb von 20 Jahren zu einer Firma von 2000 Mitarbeitern aufzubauen. Bei der Eröffnung von Saint-Pierre im vergangenen November sprach er als Konvertit, dem Le Corbusier sehr am Herzen liegt: „Mir war eines klar geworden: Wenn wir es schaffen, die Kirche fertig zu bauen, dann halten wir ein unvergleichliches kulturelles, touristisches und ökonomisches Juwel in den Händen.“ Nicht nur für ihn war es ein Sinneswandel. Die Stadt, die seit 1971 kommunistisch regiert wurde, hatte Jahrzehnte lang andere Sorgen; der Kohleabbau, der neben dem Eisenerz zu den Haupteinnahmequellen gehörte, wurde 1983 eingestellt, die Arbeitslosigkeit stieg. Firminy ist eine schrumpfende Stadt, von den 24.000 Einwohnern Anfang der achtziger Jahre sind noch 19.000 übrig. Der denkmalgerechte Umgang mit den Bauten Le Corbusiers erschien lange wie eine überflüssige Last. Dann kehrte sich die Stimmung um. Man entdeckte, dass das Erbe des Architekten in Firminy – größter Bestand an Corbusier-Bauten nach Chandigarh – bei der Umstrukturierung helfen könnte. Im Verbund mit dem benachbarten Saint-Etienne, das auch mit Restrukturierungsproblemen zu kämpfen hat, wurde eine Lösung ersonnen. Die „Communauté d’agglomération Saint-Etienne Métropole“, ein Städteverbund mit 400.000 Einwohnern, kaufte 2002 die Ruine für den symbolischen Betrag von einem Euro. In den beiden Sockelgeschossen wird das Museum für moderne Kunst von Saint-Etienne ab diesem Sommer eine Corbusier-Ausstellung einrichten. Die Erwartung ist klar formuliert: Bisher zählte man 15.000 Besucher pro Jahr, künftig sollen es 80.000 sein, manche sprechen von 200.000. Der Konkurrenzkampf um den Kulturtouristen ist bereits erklärt. Dino Cinieri: „Wenn Ronchamps mit seiner Kapelle 150.000 Besucher anlockt, müssten wir eigentlich viel mehr schaffen.“
Ohne den inzwischen 73-jährigen José Oubrerie könnte es solche hochgesteckten Ziele einer „Corbusier-City“ wohl nicht geben. Die Fertigstellung zwischen 2003 und 2006 wurde von ihm geleitet. Der in Ohio, Columbus, lebende Oubrerie ist neben den ausführenden Architekten Yves Perret, Aline Duverger und Romain Chazalon der entscheidende Garant für eine Kontinuität zwischen Le Corbusiers Skizzen und der heutigen Ausführung. Der Mann, der zuerst als Lernender und dann als Mitarbeiter im Pariser Atelier Le Corbusiers an Saint-Pierre gearbeitet hat, war nicht nur über vierzig Jahre hinweg Chefarchitekt, sondern, wie die Amerikaner sagen, „keeper of the flame“. Es war vor allem Oubrerie, der die wichtigen Entscheidungen fällte, der die genaue Neigung des zum Altar hin ansteigenden Bodens festlegte und der die stählerne Kirchentür in starken Farben entwarf.
Ende Januar wird am Wexner Center of the Arts der Ohio State University, an der José Oubrerie unterrichtet, eine große Ausstellung über die 45-jährige Planungsgeschichte von Saint-Pierre eröffnet. Sie trägt den prägnanten Titel und doppeldeutigen Titel: „Architecture interruptus“.[1]
Museumssockel und Kirchenkuppel
Wie viel ist Kontinuität, und wie viel ist „interruptus“, verglichen mit den ursprünglichen Plänen Le Corbusiers?2 Jeder Besuch beginnt heute auf der Ostseite, von der man den Sockel mit dem Museum betritt. Mit den aus konservatorischen Gründen aufgedoppelten, kerngedämmten Betonwänden, dem Sammelsurium an Leuchtkörpern, den verschieden gestalteten Geländerprofilen und den in leuchtenden Farben gestrichenen Akustikdecken verweist hier kaum noch etwas auf die kargen, isolierten Gemeinderäume, die hier einst vorgesehen waren. Vor allem die jeweils mit hohen Sitzstufen ausgestatteten Ausstellungsräume, die einem ähnlichen Typus in der Maison de la Culture abgeschaut sind, stehen für die Museumsfunktion. „Das damalige Projekt war viel einfacher“, sagt Projektarchitekt Yves Perret. Man habe aber versucht, die gestalterischen Unterschiede herauszuarbeiten und dabei mit möglichst wenigen Materialien auszukommen.
Über die von Sichtbetonwänden flankierte Treppe im Südwesten erreicht man nach mehreren Kehrtwendungen ein Zwischenpodest und steht dann in der nur schwach beleuchteten und eiskalten Kuppel des Kirchenraums. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl von elementarer Monumentalität stellt sich ein zwischen den gekippten Sichtbetonwänden. Man starrt, immer noch geblendet, auf die umlaufenden roten, grünen, blauen und gelben Lichtbänder; man tastet sich beim Blick auf den Altar langsam höher zum Sternbild des Orions an der Ostwand, das das Innere des Mantels von Maria auffaltet, und denkt an das Erhabene. „Cette belle petite Eglise“ – eine schöne kleine Kirche –, hatte Le Corbusier Saint-Pierre genannt und dabei nicht ausgesprochen, dass er mit einfachen Mitteln die größte Wucht erzielen wollte.
Museumssockel und Kirchenkuppel sind heute diametral verschiedene Raumteile. Dass sie konzeptuell nicht ganz auseinanderfallen, ist zurückzuführen auf ein verändertes Erschließungskonzept, das sich José Oubrerie für den Sockel ausgedacht hat. In einer Art Spirale laufen die Besucher längs der Fassade um die kästchenförmigen Museumsräume. Entstanden ist eine lebendige Wegeführung, auf der man sich wie in einer Spirale bis hoch zur Kuppel bewegt. Die Frage ist, ob diese dynamische Eigenbewegung der Sparsamkeit des ursprünglichen Sockels, der als Kontrast zur grandiosen Kuppel gedacht war, nicht widerspricht.
Streit um das Original
Die Kirche wird, wiewohl sie mit allen Bestandteilen eines für den Ritus einer katholischen Messe notwendigen Raums ausgestattet ist, also solcher kaum je benutzt werden. Die seit 1905 in Frankreich geltende strikte Trennung von Staat und Kirche hätte eine staatliche Unterstützung auch nicht erlaubt. Saint-Pierre ist heute ein ekklesialer Schauraum, grandios in seiner Wirkung, aber zur Tatenlosigkeit eines Museums verurteilt.
Er erzählt eine fast vergessene Geschichte aus einer Zeit, in der die katholische Kirche nach dem zweiten vatikanischen Konzil neue Gedanken bauen ließ. Das alles liegt weit zurück. Als verantwortlicher Architekt hat sich José Oubrerie, angesprochen auf die einst vorgesehene Kirchennutzung, auf eine Position zurückgezogen, die die Religion ausspart. „Mich interessieren diese Fragen nicht. Ich halte es mit Henri Lefèbvre, der geschrieben hat, alle Städte brauchen nutzlose, große Räume, die den Bewohnern Platz für Ruhe, Konzentration und Meditation bieten. Und im Übrigen bin ich Atheist”.
Die Fondation Le Corbusier in Paris, Gralshüterin des Corbusier’schen Gedankenguts, hat sich bei der Beurteilung der Frage nach der Authentizität zurückgehalten. Es scheint, als müsse jeder, der Saint-Pierre besichtigt, selbst herausfinden, worauf die Pläne und Modelle des Entwurfs einst zielten und was davon umgesetzt werden konnte. Vieles, was störend wirkt, ist ohne Frage der Funktion Museum geschuldet: Der neue Sockel ist in jeder Hinsicht selbständiger und wichtiger, die Eingänge sind exaltierter, skulpturaler geworden. Es gibt im Ganzen mehr Farben, mehr Dichte, mehr Event, als man sich hätte vorstellen mögen. Durch die andere Nutzung rückt die Bedeutung unwichtiger Bereiche in den Vordergrund, vor allem in den Untergeschossen zerfällt die klare Hierarchie des Corbusier’schen Entwurfs in seine Bestandteile. Aber auch in der Kuppel hat der Bau einiges von der waghalsigen Experimentierfreudigkeit, die die vibrierenden Papiermodelle auszeichnete, eingebüßt. Der Stahlbeton wurde mit dem Know-how neuer selbstverdichtender Fließtechniken gezähmt, aber das Gefühl entwerferischer Askese inmitten der ganzen Farbigkeit, das man in La Tourette hautnah erleben kann, fehlt in Firminy. Kurz: Die Primärkonstruktion hat an Bedeutung verloren, während die erzählenden „Accessoires“ der Gestaltung in den Vordergrund rücken.
Kann man Saint-Pierre in eine Reihe stellen mit La Tourette und Ronchamps? Steht dieser Bau für jenen „dritten, neuen Typ“ einer Kirche, den Le Corbusier im Œuvre complète versprochen hatte? Die Antwort hat zwei Facetten: Von der Gestaltung und der Detaillierung der Innenräume her lautet die Antwort Nein. Zu weit weg ist der ursprüngliche Gedanke, zu viel an der inneren Mixtur von Museum und Kirchenschauraum ist eben doch Auslegung „im Geiste von...“. Von der äußeren, monolithischen Kraft des Baukörpers und von der städtebaulichen Bedeutung hingegen lautet die Antwort Ja.
Einer der genauesten Kenner der Planungsgeschichte von Saint-Pierre, Anthony Eardley3, sprach 1981 mit Blick auf die Modelle vom Pathos des „zweifelnden Blicks“ ihrer grandiosen Fassade. Als Porträt des zu Ende gehenden Maschinenzeitalters sei die Kuppel von Firminy die möglicherweise überzeugendste Erfindung des Architekten – Bild einer skeptischen, sich selbst erkennenden Moderne. Yves Perret sagt am Schluss des Besuchs: „Il y a une origine pure quelque part.“ Man kann es frei übersetzen: Das Original ist da. Irgendwo.
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