Bauwerk

Schulhausensemble
Conradin Clavuot - St. Peter (CH) - 1999

Die Natur baut mit

Ein Schulhausensemble von Conradin Clavuot in St. Peter

Der aus Schichtungen von Holzbalken zusammengefügte Strickbau gilt als eine traditionelle Bautechnik in Graubünden. Mit seinem Schulhaus in St. Peter im Schanfigg hat der Churer Architekt Conradin Clavuot diese Bauweise an ihre Grenzen geführt und zugleich bewiesen, dass ein Anknüpfen an die Tradition nicht zum vernakulären Kitsch führen muss.

9. April 1999 - Hubertus Adam
Die Strasse nach Arosa schlängelt sich von Chur aus hoch oberhalb der Plessur durch das Schanfigg. Auf halbem Weg erreicht man die rund 1250 Meter hoch gelegene Ortschaft St. Peter, deren Struktur bis heute weitgehend unverändert geblieben ist: Wie Perlen an einer locker gefügten Kette folgen die Häuser der Hauptstrasse und dem Geflecht der Nebenwege, das sich den Hang hinauf ausbreitet. Von oben lässt sich erkennen, wie selbstverständlich sich die Siedlung aus der Topographie entwickelt, die durch einen alternierenden Rhythmus von hervortretenden Hangrippen und Wiesenflächen geprägt wird.

Als der Churer Architekt Conradin Clavuot vor der Aufgabe stand, für St. Peter ein Schulhaus und eine Mehrzweckhalle zu entwerfen, entschied er sich für den ortstypischen Strickbau. Er konnte sich damit gegen seine Konkurrenten Pablo Horvath und Jürg Ragettli durchsetzen, die ihre Projekte in Beton realisieren wollten. Dass der monolithische Charakter eines Betonbaus mit der Alpenlandschaft des Bündnerlandes harmoniert, hat unlängst Valerio Olgiati mit seinem Schulhaus in Paspels (NZZ 5. 2. 99) überzeugend bewiesen; Clavuot selbst, der vor einigen Jahren eine architekturhistorische Publikation über die Kraftwerksarchitektur Graubündens vorgelegt hat, wurde mit dem Betonkubus des Unterwerks bei Seewis im Prättigau (1993/94) bekannt. Anders als dort galt es indes in St. Peter, weniger mit der Natur als mit der vorhandenen Dorfstruktur in Dialog zu treten. Die Verwendung des Baustoffes Holz kann somit als Votum für die Fortschreibung einer lokalen Bautradition verstanden werden.

Das Baugelände liegt unweit der Kirche am Westrand von St. Peter und schliesst sich an das giebelständige Gemeindehaus an, das bisher als Schule genutzt wurde. Dessen Ausrichtung bestimmt auch Clavuots Neubauten. Unmittelbar an der Strasse entstand eine schlichte, in ihrer dienenden Funktion pragmatisch materialisierte Einstellhalle für Fahrzeuge, die - gleichsam Substruktion des Neubaukomplexes - aus Beton besteht. Ihr Dach wird als Sportplatz genutzt und ist der breitgelagerten Mehrzweckhalle zugeordnet, während das Schulhaus rechtwinklig zum Berg hin übereck versetzt ist. Von der Strasse aus gesehen scheinen sich die Dächer der Gebäude zu überlagern; der Architekt rückte die beiden Volumen so nahe zusammen, wie es die Brandschutzbestimmungen zuliessen, um ein räumliches Spannungsfeld zu erzeugen. Derart bilden Schulhaus, Gemeindehaus und Mehrzweckhalle ein locker erscheinendes, gleichwohl präzise konfiguriertes Ensemble, das die für den Ort charakteristische raumbildende Kraft von Solitären adaptiert: Ausser dem zur Strasse hin orientierten Sportplatz, von dem aus der Blick auf die Berge geht, entsteht zwischen den drei Gebäuden ein weiterer Freiraum, Vorplatz der Schule und Pausenhof zugleich. Treppen verbinden die unterschiedlichen Niveaus miteinander, geben Weg- und Sichtachsen vor, die sich bald einladend öffnen, bald zu intimen Durchlässen verengen.

Was sich unprätentiös gibt, ist in Wahrheit subtil kalkuliert - das beweisen auch die Gebäude selbst. Zunächst erscheint der Strickbau als simple Technik: Massive Holzbalken werden nach dem Baukastenprinzip zu tragenden Wänden übereinandergeschichtet. Probleme entstehen indes dadurch, dass Holz ein natürliches Material ist und im Laufe der Zeit einem Schwundprozess unterliegt. Das addiert sich bei einem mehrgeschossigen Gebäude zu Grössenordnungen, die den Entwurfsprozess zu einem vertrackten Rechenspiel werden lassen. Denn dem Schwundprozess unterliegen lediglich die horizontal eingesetzten Balken, nicht jedoch als Ständer verwendete Hölzer oder fixe Elemente wie Türen, Fenster oder Verkleidungen. Statische und dynamische Elemente müssen sorgfältig berechnet werden, Setzungsfugen den progressiven Schwund kompensieren. Zwischen den auf den sich senkenden Balkenlagen aufruhenden Dächern und der vom Tragwerk separierten Verkleidung zeigt sich am Schulhaus eine Pufferzone, die verschwunden sein wird, wenn sich alle Elemente in wenigen Jahren an ihrem vorgesehenen Platz befinden: die Natur baut mit und vollendet die Gebäude.

Im Gegensatz zu Gion Caminada, der in Vrin und Duvin ebenfalls das Prinzip des Strickbaus aufgriff, entschied sich Clavuot in St. Peter für eine Wärmedämmung auf der Aussenseite und verkleidete seine Baukörper mit Lärchenbrettern. Dies beeinträchtigt ein wenig die kompakte Wirkung der Volumen, generiert indes Innenräume von geradezu archaischer Einfachheit: Die Schönheit der Konstruktion tritt unverkleidet zutage. Gewissermassen handelt es sich um die Urform der modularen Bauweise. Alle Details müssen auf das Mass der Balken abgestimmt sein. Besonders eindrucksvoll ist das Treppenhaus mit seiner Schichtung von Stufen, Geländern und Wänden gelungen und die Mehrzweckhalle, in denen der Strickbau sämtliche bisher bekannten Dimensionen sprengt. Stützenlos überspannt eine Holzbinderkonstruktion den Raum; wie andere zeitgenössische Architekten in Graubünden konnte sich auch Clavuot auf die Berechnungen des Churer Ingenieurs Jürg Conzett verlassen. 35 Meter lang ist die Halle, deren opulente, fast raumhohe Fensterfront einen Ausblick auf das überwältigende Bergpanorama der anderen Talseite gestattet.

Clavuot hat sich in St. Peter einer vordergründig modernen Formensprache enthalten, die herkömmliche Technik des Strickbaus aber bis an dessen Grenzen herangeführt. Das Ensemble des Schulhauses, mag es auch prima vista unspektakulär erscheinen, erweist sich somit als überzeugender Versuch, eine traditionelle Bauweise zu reaktivieren, ohne in die Abgründe einer vordergründigen, heimattümelnden Architektur zu stolpern. Die Subtilität der Intervention offenbart sich erst auf den zweiten Blick.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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