Bauwerk

Haus Stross
Thilo Schoder - Liberec / Reichenberg (CZ) - 1925
Haus Stross, Foto: historische Aufnahme
Haus Stross, Foto: Hubertus Adam
Haus Stross, Foto: Hubertus Adam

Ein Nildampfer in Böhmen

1. Juli 1998 - Hubertus Adam
Betrachtet man das Haus Stross auf dem obigen Bild, zeigt es sich von seiner Unterseite. Die historische Fotografie des Hauses im nordböhmischen Liberec, dem vormaligen Reichenberg, schafft eine eigene Realität: sie marginalisiert das zentrale Abschlussgeschoss und unterstreicht dafür die horizontale Ausrichtung des Baukörpers; sie suggeriert ein Flachdach, indem sie das kupfergedeckte Walmdach gar nicht zeigt; sie bietet eine gewissermassen exzentrische Ansicht, welche die Symmetrie des Gebäudes leugnet.

Der Blick geht dem Hang entlang hinauf zur Südwestecke des Hauses mit ihren vielen geballten, viertelkreisförmig schwingenden Baukörpern. Das Spiel mit den schwellenden Volumen wird durch die kräftigen Linien der vorspringenden Dächer und der schattenwerfenden Gesimse noch gesteigert.

Mit anderen Worten: der Bau wirkt dynamischer und eleganter, als er in Wirklichkeit ist. Mittels Froschperspektive wurde er auf dem Bild optisch den Formvorstellungen der Moderne angepasst. Nicht ganz zu Unrecht fühlte sich Müller-Wulckow, aus dessen Buch die historische Fotografie stammt, vom Haus Stross an die Architektur von Frank Lloyd Wright erinnert: Die Villa, «straff horizontal an der Strassenseite, dacht sich in amerikanischer Weise terrassenförmig nach der Talsenkung hin ab», schrieb er dazu in seinem Buch «Wohnbauten und Siedlungen aus deutscher Gegenwart».

Der Hang, der steil zur tiefliegenden Talsperre im Osten von Liberec abfällt, ist inzwischen dicht bewachsen, so dass der heutige Besucher den Bau aus dieser Perspektive übers Eck gar nicht mehr betrachten kann. Seit Anfang der fünfziger Jahre beherbergt die mächtige Villa, die sich der Textilhändler Franz Stross 1923 bis 1925 vom thüringischen Architekten Thilo Schoder (1888-1979) errichten liess, das städtische Hygiene-Institut. Die immobile Innenausstattung blieb zum Teil erhalten, doch die Raumstruktur wurde dem neuen Nutzungsprogramm entsprechend verändert. Allzuviel ist über den Bauherrn selber nicht bekannt. 1877 im ägyptischen Alexandria geboren, flüchtete Franz Stross vor den revolutionären Wirren des Jahres 1919 nach Liberec/Reichenberg, das im 19. Jahrhundert zum Zentrum der böhmischen Textilproduktion avanciert war. «Nildampfer» nannte der Volksmund den Neubau auf dem Hügel. Als Stross später nach Südamerika ausgewandert war, hielt sich in Böhmen noch lange hartnäckig das Gerücht, er habe jenseits des Ozeans eine Kopie seiner früheren Behausung bewohnt. Man betritt das dreigeschossige Haus, das auf einem Granitsockel ruht, von der Strassenseite, also von Norden her. Geht man eine Treppe hinab, steht man vor der in der Mittelachse angeordneten Flügeltür des Portals.

Typologisch knüpfte der Architekt Schoder, der in Gera 1919 sein eigenes Atelier für Architektur, Innendekoration und Kunstgewerbe eröffnet hatte und zu Stross seit 1920 Kontakt unterhielt, an das grossbürgerlich geprägte Landhaus des beginnenden Jahrhunderts an. Während sich die privateren Bereiche in den Obergeschossen befanden, diente das Erdgeschoss eher repräsentativen, halböffentlichen Zwecken. Von der mehrgeschossigen Halle, die in den Obergeschossen von Galerien umgeben war, gelangte man in das Ess- und das Musikzimmer, die über den dazwischen angeordneten Wintergarten zu einer Enfilade vereinigt werden konnten. An die vorgelagerte Terrasse schloss sich zum Hang hin ein kupferverkleidetes Orchideenhaus an. Im Osten befand sich ein abgeknickter, vom Hauptbaukörper deutlich getrennter Wirtschaftstrakt.

Bemerkenswert ist das Haus Stross aber nicht allein auf Grund seiner Raumdisposition, sondern auch hinsichtlich seiner exquisiten Innenausstattung. Schoder konnte hier - getreu der Doktrin seines Weimarer Mentors und Lehrers Henry Van de Velde - zum erstenmal innerhalb seines ‘uvres die komplette Innenausstattung mitentwerfen. Diverse Marmorsorten, Hölzer verschiedener Arten, Schleiflackmöbel und Majolika - Geld scheint für den Bauherrn keine Rolle gespielt zu haben. Knüpfte der Architekt bei Details wie den Türgriffen noch unverkennbar an das Formenvokabular Van de Veldes an, so war die Ausstattung in ihrer Gesamtheit doch eher dem Art déco zuzuordnen. Bei aller konstruktiven Gliederung des Mobiliars liess sich eine latente Tendenz zum Derben nicht verkennen.

Das gilt gleichermassen für die Fassaden, die durch alternierende Flächen von rötlichem Porphyrputz und grünlich patiniertem Kupferblech bestimmt werden. Auch wenn der Architekturpublizist Heinrich de Fries 1929 konstatierte, dass beim Haus Stross «der Einfluss des Meisters und Lehrers Van de Velde mit besonderer Eindringlichkeit und anhaltender Nachwirkung in Erscheinung tritt», bleibt die Vergröberung gegenüber den Werken des Belgiers doch deutlich spürbar. Dafür verantwortlich ist die kompakte und gedrungene Organisation der Baumassen, aber auch die mächtige, fast plumpe Ausbildung von Details, zum Beispiel der wulstartigen Verdachungen. Für eine Reihe luxuriöser Privathäuser, die während oder kurz nach der Inflationszeit von 1922/23 entstanden, ist eine solche stilistische Unsicherheit typisch. Der Reichtum der Auftraggeber entlud sich in Opulenz, ohne zu einer klaren Form zu finden. So steht das Haus Stross trotz seiner einheitlichen Gestaltung, bedingt durch die durchgängige Verschleifung der Baukörper, dem Monumentalstil der Jahrhundertwende letztlich näher als dem Neuen Bauen.

Erst mit dem Bau der Seidenweberei Schulenburg & Bessler in Gera 1925-1928 adaptierte Schoder Formprinzipien der Moderne, wie sie beispielsweise von Erich Mendelsohn vertreten wurden. In einer Reihe von Siedlungsbauten der ausgehenden zwanziger Jahre kulminierte das Schaffen Schoders, der 1932 nach Norwegen übergesiedelt und in seiner einstigen Heimat weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Erst die Geraer Ausstellung 1997 hat die Aufmerksamkeit auf einen Architekten gelenkt, der zumindest in den frühen zwanziger Jahren keineswegs eine Randfigur war. Schoder litt, anders als die späteren Protagonisten der Moderne, zu dieser Zeit nicht an Auftragsmangel. Dass Schoders Bauten von Ludwig Hilberseimer zur Illustration seiner Bücher ausgewählt wurden, ist wohl gerade diesem Umstand zu verdanken. Paul Klopfer, Schoders vormaliger Lehrer in Weimar, kritisierte indes die Orientierung an Van de Velde als «kunstgewerbliche Abschweifungen». Mit dem Haus Stross in Böhmen endete diese Arbeitsphase des Architekten aus Gera.

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Architektur

Bauherrschaft
Franz Stross