Bauwerk
Milleniumsworkshop
RLP Rüdiger Lainer + Partner - Wien (A) - 1996
Bodenlose Punkte der Stille
Vor einigen Jahren noch galt sie als große, defekte Maschine. Heute ist der Blick auf die Stadt wieder pragmatischer. In Wien-Meidling versuchte ein Projekt von Rüdiger Lainer, die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren.
16. November 1996 - Christian Kühn
Selten zuvor hat es in Wien so viele Veranstaltungen zum Thema „Stadt“ gegeben. Im Architektur Zentrum läuft derzeit ein Kongreß über den „European Sprawl“, die europäische Variante jener Auflösung der Stadt in die Region, wie sie in den USA längst zur Regel geworden ist; vor einer Woche veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Architektur ein Symposium über die „Stadt mit beschränkter Haftung“, ein doppeldeutiger Titel, mit dem die zunehmende funktionale und soziale Entmischung der Stadt angesprochen war und zugleich die unklare Verantwortung dafür, die sich Architekten, Investoren und Politiker gegenseitig zuschieben. Und nächsten Freitag wird im Rahmen des Europaforums ein Vortrag Saskia Sassens über „Städte und die neue Geographie der Macht“ zu hören sein, der eine Reihe von Workshops zu diesem Thema einleitet.
Worum dreht sich heute die Diskussion um die Stadt? Offensichtlich nicht mehr darum, ob die Stadt funktioniert. Noch vor ein paar Jahren galt sie ja als eine große defekte Maschine, die sozial, ökologisch oder stadträumlich repariert oder verbessert werden müsse. Heute steht vielmehr die Idee der Stadt als jenes Gebilde in Frage, das die moderne Gesellschaft zusammenhält. Der Soziologe Alain Touraine spricht in diesem Zusammenhang vom Verschwinden der Stadt: Sie habe zuerst durch das Entstehen der großen Nationalstaaten ihre Bedeutung als politische Institution verloren und schließlich durch die Globalisierung der Wirtschaft ihre verbindende Rolle als Ort der Produktion.
Natürlich haben wir, behauptet Touraine, noch den Eindruck, in Städten zu leben, aber wir leben nicht in „unseren“ Städten, sondern in längst vergangenen Stadtmodellen. Während die Stadt uns noch vorgaukelt, ein „Ganzes“ zu sein, wächst die Kluft zwischen jenen, die einem globalisierten Leben gewachsen sind, und jenen, die arm und unqualifiziert sind und sich auf lokale Gemeinschaften zurückziehen. Was wir im Moment erleben, sei daher das Verschwinden der Gesellschaften und insbesondere dessen, was wir seit dem 12. Jahrhundert geschaffen haben, der Stadt.
Nun ist die Krise der Stadt sicher so alt wie die Stadt selbst. Sie war zu allen Zeiten ein Ort der Kontraste und nicht der Harmonie. Insofern ist Touraines Argument überzogen, und es ist auch kaum glaubhaft, daß zwischen dem privaten und dem globalen Bereich nichts Urbanes mehr übrigbleibt. Aber in einem Punkt wird man Touraine recht geben müssen: Architektur und Städtebau sind nicht länger Instrumente der Weltverbesserung. Sie allein können weder unsere sozialen noch unsere politischen oder ökologischen Probleme lösen. Das klingt hart für eine Disziplin, die Corbusiers Schlachtruf „Baukunst oder Revolution!“ verinnerlicht hat, aber es läßt sich durchaus als Angelpunkt ihrer Erneuerung umdeuten. Denn ohne den selbstzerstörerischen Reflex der Moderne, immer das „große Ganze“ ins Lot bringen zu müssen, eröffnet sich ein unvoreingenommener Blick auf die Realität und damit die Option auf eine Stadt, die den Bedingungen ihrer Zeit besser angepaßt ist.
Was kann das konkret bedeuten? Zum Beispiel den Ausbruch aus einem System, in demes nur noch Getriebene gibt, die das Scheitern ihrer großen Ideale an Sachzwängen betrauern und sich gegenseitig die Schuld dafür zuschieben: Investoren, die zwar gerne Qualität schaffen wollten, aber leider an der Trägheit der öffentlichen Verwaltung scheitern; Architekten, deren große Visionen angesichts des allgemein inferioren Geschmacks und der Renditewünsche ihrer Auftraggeber bestenfalls als Karikaturen realisiert werden; und Politiker, die immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Partikularinteressen anstreben dürfen.
Ein von Rüdiger Lainer - er hatte mit seinem Projekt für das Flugfeld Aspern einmal versucht, Bauträger und öffentliche Verwaltung aus ihren festgefahrenen Positionen zu locken - konzipierter und organisierter Workshop machte es sich zur Aufgabe, aus einer solchen Pattsituation herauszukommen. Ohne falsche Bescheidenheit wurde das ganze Unternehmen „Millenniumsworkshop“ getauft mit dem Anspruch, „konkrete Utopien“ zu entwickeln und die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren. Als konkreter Ort wurde ein Areal im 12. Bezirk gewählt, das ehemalige Gelände der Kabel und Draht AG, ein verkehrsmäßig durch die verlängerte U 6 gut erschlossenes Gebiet, auf dem rund 1000 Wohnungen errichtet werden sollen.
Eingeladen waren Beamte verschiedener Magistratsabteilungen, die Direktoren mehrerer großer Bauträger, Vertreter des Bezirks und sechs Planungsteams. Gemeinsam sollten Leitbilder entwickelt und immer wieder an den konkreten gesetzlichen Bedingungen und auf ihre Finanzierbarkeit hin geprüft werden, nicht um diese Leitbilder auf ein „machbares“ Maß zurechtzustutzen, sondern um sinnvolle Veränderungen der Rahmenbedingungen zu formulieren.
Ein wesentliches Leitbild, das sich bei allen sechs der schließlich ausgearbeiteten Konzepte findet, ist das Ideal einer funktionell durchmischten Stadt. Nicht 1000 Wohnungen, auch nicht ein vordefinierter Mix von Wohnungen und Büro- oder Betriebsflächen sollten angeboten werden, sondern eine flexible Baustruktur, die beides zuläßt. Das ist natürlich nichts Neues. In Stadterweiterungsgebieten scheitert diese Nutzungsvielfalt aber an einer ganzen Reihe von Problemen: an Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz, die bei Raumhöhen und Stiegenbreiten zwar nur minimal über die Festlegungen in der Bauordnung hinausgehen, aber trotzdem eine neutrale Nutzung unmöglich machen; an einer Praxis der Flächenwidmung, die immer noch einer Entmischung der Stadt den Vorzug gibt; und schließlich an unterschiedlichen Instrumenten der öffentlichen Förderung, die eine Kombination von Wohn-, Gewerbe- und Bürobau zusätzlich erschwert. In Wien gibt es außerdem unterschiedliche Fonds für den Grundstückskauf für Wohn- oder Gewerbenutzung.
Ein weiteres Charakteristikum der Konzepte ist der Versuch, Wohnformen zuzulassen, die außerhalb des Standards liegen. Die Architektengruppe „Poor Boys Enterprise“ hat in ihrem Konzept versucht, Funktionen aus der Wohnung in einen öffentlichen Bereich auszulagern und eine Art von Stadthotel zu entwickeln, das Arbeitsplätze für Teleworker und Gemeinschaftsflächen aus der Isolation der Einzelwohnung herauslöst und ins Wohnumfeld integriert.
Formal tendieren die meisten der Konzepte dazu, jedes vorgefertigte und leicht konsumierbare Stadtbild zu verweigern. Mascha und Seethaler schlagen als Alternative zum Bebauungsplan eine offene Bebauungsmatrix vor, die durch systematische Verknüpfungen über die Parzellengrenzen hinweg nur noch sachliche Erfordernisse wie Lichteinfall, Emissionen und Infrastruktur festlegt, aber jeden Einfluß auf Form, Funktion oder Ästhetik ausschließt. Im Gegensatz zu diesem Totalverzicht auf jeden Städtebau entwickeln ARTEC eine neue städtebauliche Figur, ein klares, räumliches Gitter, das sie als Adaption der gründerzeitlichen Stadt mit einer differenzierter abgestuften Hierarchie der Verkehrswege verstehen. Lebendigkeit bekommt diese Struktur durch die Möglichkeit der späteren Verdichtung, die das ursprüngliche Gitter überlagert.
Insgesamt zeigen die Konzepte ein klares Bekenntnis zur Großstadt, wie sie Robert Musil einmal beschrieben hat: ein Geflecht von „Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, eine kochende Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht“.
Das Bild der jemenitischen Stadt Shebam, das auf dem Plakat zum Millenniumsworkshop zu sehen war, ist klug gewählt. Die Idee der Stadt ist zeitlos, und sie wird ihren Wert behalten als Vermittler zwischen der globalen und der individuellen Sphäre. Zu ihrer Weiterentwicklung wird es allerdings radikal veränderter Rahmenbedingungen bedürfen. Aber da ist Hoffnung: In einem Pressetext zum Workshop wird Planungsstadtrat Hannes Swoboda mit der gewagten Bemerkung zitiert, in Wien gehe es „im allgemeinen mit der Umsetzung von Visionen viel schneller“ als anderswo. Sein Nachfolger wird den Wahrheitsbeweis antreten müssen.
Worum dreht sich heute die Diskussion um die Stadt? Offensichtlich nicht mehr darum, ob die Stadt funktioniert. Noch vor ein paar Jahren galt sie ja als eine große defekte Maschine, die sozial, ökologisch oder stadträumlich repariert oder verbessert werden müsse. Heute steht vielmehr die Idee der Stadt als jenes Gebilde in Frage, das die moderne Gesellschaft zusammenhält. Der Soziologe Alain Touraine spricht in diesem Zusammenhang vom Verschwinden der Stadt: Sie habe zuerst durch das Entstehen der großen Nationalstaaten ihre Bedeutung als politische Institution verloren und schließlich durch die Globalisierung der Wirtschaft ihre verbindende Rolle als Ort der Produktion.
Natürlich haben wir, behauptet Touraine, noch den Eindruck, in Städten zu leben, aber wir leben nicht in „unseren“ Städten, sondern in längst vergangenen Stadtmodellen. Während die Stadt uns noch vorgaukelt, ein „Ganzes“ zu sein, wächst die Kluft zwischen jenen, die einem globalisierten Leben gewachsen sind, und jenen, die arm und unqualifiziert sind und sich auf lokale Gemeinschaften zurückziehen. Was wir im Moment erleben, sei daher das Verschwinden der Gesellschaften und insbesondere dessen, was wir seit dem 12. Jahrhundert geschaffen haben, der Stadt.
Nun ist die Krise der Stadt sicher so alt wie die Stadt selbst. Sie war zu allen Zeiten ein Ort der Kontraste und nicht der Harmonie. Insofern ist Touraines Argument überzogen, und es ist auch kaum glaubhaft, daß zwischen dem privaten und dem globalen Bereich nichts Urbanes mehr übrigbleibt. Aber in einem Punkt wird man Touraine recht geben müssen: Architektur und Städtebau sind nicht länger Instrumente der Weltverbesserung. Sie allein können weder unsere sozialen noch unsere politischen oder ökologischen Probleme lösen. Das klingt hart für eine Disziplin, die Corbusiers Schlachtruf „Baukunst oder Revolution!“ verinnerlicht hat, aber es läßt sich durchaus als Angelpunkt ihrer Erneuerung umdeuten. Denn ohne den selbstzerstörerischen Reflex der Moderne, immer das „große Ganze“ ins Lot bringen zu müssen, eröffnet sich ein unvoreingenommener Blick auf die Realität und damit die Option auf eine Stadt, die den Bedingungen ihrer Zeit besser angepaßt ist.
Was kann das konkret bedeuten? Zum Beispiel den Ausbruch aus einem System, in demes nur noch Getriebene gibt, die das Scheitern ihrer großen Ideale an Sachzwängen betrauern und sich gegenseitig die Schuld dafür zuschieben: Investoren, die zwar gerne Qualität schaffen wollten, aber leider an der Trägheit der öffentlichen Verwaltung scheitern; Architekten, deren große Visionen angesichts des allgemein inferioren Geschmacks und der Renditewünsche ihrer Auftraggeber bestenfalls als Karikaturen realisiert werden; und Politiker, die immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Partikularinteressen anstreben dürfen.
Ein von Rüdiger Lainer - er hatte mit seinem Projekt für das Flugfeld Aspern einmal versucht, Bauträger und öffentliche Verwaltung aus ihren festgefahrenen Positionen zu locken - konzipierter und organisierter Workshop machte es sich zur Aufgabe, aus einer solchen Pattsituation herauszukommen. Ohne falsche Bescheidenheit wurde das ganze Unternehmen „Millenniumsworkshop“ getauft mit dem Anspruch, „konkrete Utopien“ zu entwickeln und die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren. Als konkreter Ort wurde ein Areal im 12. Bezirk gewählt, das ehemalige Gelände der Kabel und Draht AG, ein verkehrsmäßig durch die verlängerte U 6 gut erschlossenes Gebiet, auf dem rund 1000 Wohnungen errichtet werden sollen.
Eingeladen waren Beamte verschiedener Magistratsabteilungen, die Direktoren mehrerer großer Bauträger, Vertreter des Bezirks und sechs Planungsteams. Gemeinsam sollten Leitbilder entwickelt und immer wieder an den konkreten gesetzlichen Bedingungen und auf ihre Finanzierbarkeit hin geprüft werden, nicht um diese Leitbilder auf ein „machbares“ Maß zurechtzustutzen, sondern um sinnvolle Veränderungen der Rahmenbedingungen zu formulieren.
Ein wesentliches Leitbild, das sich bei allen sechs der schließlich ausgearbeiteten Konzepte findet, ist das Ideal einer funktionell durchmischten Stadt. Nicht 1000 Wohnungen, auch nicht ein vordefinierter Mix von Wohnungen und Büro- oder Betriebsflächen sollten angeboten werden, sondern eine flexible Baustruktur, die beides zuläßt. Das ist natürlich nichts Neues. In Stadterweiterungsgebieten scheitert diese Nutzungsvielfalt aber an einer ganzen Reihe von Problemen: an Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz, die bei Raumhöhen und Stiegenbreiten zwar nur minimal über die Festlegungen in der Bauordnung hinausgehen, aber trotzdem eine neutrale Nutzung unmöglich machen; an einer Praxis der Flächenwidmung, die immer noch einer Entmischung der Stadt den Vorzug gibt; und schließlich an unterschiedlichen Instrumenten der öffentlichen Förderung, die eine Kombination von Wohn-, Gewerbe- und Bürobau zusätzlich erschwert. In Wien gibt es außerdem unterschiedliche Fonds für den Grundstückskauf für Wohn- oder Gewerbenutzung.
Ein weiteres Charakteristikum der Konzepte ist der Versuch, Wohnformen zuzulassen, die außerhalb des Standards liegen. Die Architektengruppe „Poor Boys Enterprise“ hat in ihrem Konzept versucht, Funktionen aus der Wohnung in einen öffentlichen Bereich auszulagern und eine Art von Stadthotel zu entwickeln, das Arbeitsplätze für Teleworker und Gemeinschaftsflächen aus der Isolation der Einzelwohnung herauslöst und ins Wohnumfeld integriert.
Formal tendieren die meisten der Konzepte dazu, jedes vorgefertigte und leicht konsumierbare Stadtbild zu verweigern. Mascha und Seethaler schlagen als Alternative zum Bebauungsplan eine offene Bebauungsmatrix vor, die durch systematische Verknüpfungen über die Parzellengrenzen hinweg nur noch sachliche Erfordernisse wie Lichteinfall, Emissionen und Infrastruktur festlegt, aber jeden Einfluß auf Form, Funktion oder Ästhetik ausschließt. Im Gegensatz zu diesem Totalverzicht auf jeden Städtebau entwickeln ARTEC eine neue städtebauliche Figur, ein klares, räumliches Gitter, das sie als Adaption der gründerzeitlichen Stadt mit einer differenzierter abgestuften Hierarchie der Verkehrswege verstehen. Lebendigkeit bekommt diese Struktur durch die Möglichkeit der späteren Verdichtung, die das ursprüngliche Gitter überlagert.
Insgesamt zeigen die Konzepte ein klares Bekenntnis zur Großstadt, wie sie Robert Musil einmal beschrieben hat: ein Geflecht von „Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, eine kochende Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht“.
Das Bild der jemenitischen Stadt Shebam, das auf dem Plakat zum Millenniumsworkshop zu sehen war, ist klug gewählt. Die Idee der Stadt ist zeitlos, und sie wird ihren Wert behalten als Vermittler zwischen der globalen und der individuellen Sphäre. Zu ihrer Weiterentwicklung wird es allerdings radikal veränderter Rahmenbedingungen bedürfen. Aber da ist Hoffnung: In einem Pressetext zum Workshop wird Planungsstadtrat Hannes Swoboda mit der gewagten Bemerkung zitiert, in Wien gehe es „im allgemeinen mit der Umsetzung von Visionen viel schneller“ als anderswo. Sein Nachfolger wird den Wahrheitsbeweis antreten müssen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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