Bauwerk

Wohn- und Atelierhaus
Doris Thut - München (D)
Wohn- und Atelierhaus, Foto: Walter Zschokke
Wohn- und Atelierhaus, Foto: Walter Zschokke

Harter Kern, holzige Schale

Nördlich von München hat die aus Wien gebürtige Architektin Doris Thut für eine Künstlerfamilie ein Wohn- und Atelierhaus geschaffen kompakt und offen zugleich.

25. Mai 1996 - Walter Zschokke
Wohnen und Arbeiten, Familie und Kunst unter einem Dach zu vereinen, so lautete der Auftrag einer Künstlerfamilie an die Architektin Doris Thut, die zusammen mit ihrem Partner Ralph Thut in München ein Architekturbüro führt. Das über einen kurzen Fahrweg erschlossene Grundstück liegt in leicht hügeliger Landschaft. Das Wohnhaus unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sehr von seinen Nachbarn; Erdgeschoß und ausgebautes Dach waren laut Bebauungsbestimmungen zulässig; das Satteldach entspricht der Vorschrift. Man nähert sich dem Haus von Südosten, eine grüne Hecke weist von links zum Eingang hin; die ankommende Bewegung wird abgelenkt und zur Rechten von einer schräg stehenden Wandfläche aus weißen Holzpaneelen zumeingezogenen Windfang geleitet.

Das Ankommen ist räumlich bereits sehr klar artikuliert, und doch erlaubt die hüfthohe Hecke einen Blick in den dahinter liegenden Gartenbereich. Familienmitglieder können durch einen schmalen Schlupf, an der Hecke vorbei, geradewegs zum Außensitzplatz unter dem großen Dach weitergehen. Andere Besucher wählen den Weg zu Windfang und Hausglocke.

Das 1990 fertiggestellte Haus entwickelt sich aus einem rechteckigen Grundriß unter dem in Nordsüdrichtung verlaufenden Dachfirst. An der Westseite sind die Wohnräume angeordnet, an der Ostseite liegt ein großzügiges, bis unters Dach reichendes Atelier. Dazwischen zieht sich durch die gesamte Gebäudelänge eine Schicht aus Neben- und Durchgangsräumen, die sich an eine massive Betonwand anschmiegen. Letztere dient der Aussteifung und als Speichermasse.

Sowohl kurz nach dem Eingang als auch im hinteren Bereich besteht je eine Querverbindung zwischen Wohnteil und Atelier. Damit werden Erschließungsalternativen möglich. Im Obergeschoß ist ein Teil dieses Mittelstreifens als Arbeitsgalerie ausgebildet - mit Blick auf das Atelier. Ein sich am First entlangziehendes Oberlicht läßt die Westsonne herein und versorgt die Galerie und die schmale Stiege auf der Wohnzimmerseite mit Licht.

Der Wohnraum liegt drei Stufen tiefer als der Eingang, er folgt mit seiner Höhenlage dem sanft abfallenden Terrain. Ein freistehendes Gestell trennt den Kochbereich ab, die kleine Küche läßt sich abschließen. Hinter der Küche liegt noch ein Kinderzimmer, das über eine Dusche mit Toilette verfügt. Hier erweist sich die Zugangsmöglichkeit durch das Atelier als angenehm: Besonders heranwachsende Kinder schätzen es, wenn sie nicht immer durch den Wohnraum gehen müssen, um in ihre Zimmer zu gelangen; die Eltern sind ebenfalls ungestört.

Derartige grundrißliche Wahlfreiheiten sind dem Hausfrieden förderlich. Über dem Wohnraum ist eine weitere Ga-lerie, als Spieldiele und zum Fernsehen, eingezogen. Die konstruktive Verwendung dreizölliger Furnierholzplatten für den Boden sparte Bauhöhe, sodaß in dem knappen zur Verfügung stehenden Volumen sehr viel Aufenthalts- und Bewegungsraum geschaffen wurde: Elternzimmer, Bad und zwei Kammern fanden im Obergeschoß noch Platz. An der Südwestseite des Hauses schließt eine großzügige, gedeckte Holzplattform an.

Was auf den ersten Blick verborgen bleibt, ist die Tatsache, daß das kompakte, räumlich attraktive Wohnhaus in seiner konstruktiven Systematik optimal durchdacht und durchrationalisiert ist. Es steckt wesentlich mehr Überlegung und herstellungsbezogene Forschung darin, als für eine derartige Bauaufgabe erforderlich. Die tragende Holzrahmenkonstruktion beispielsweise wurde in ihrer Systematik aus den USA übernommen, weil die „Unicom Method of House Construction“ intelligenter und materialsparender ist als das in Deutschland übliche System. Die Furnierholzplatten für die Decken stammen aus Finnland.

Auf derartige Produkte überhaupt aufmerksam zu werden - insbesondere, wenn sie nicht dem modischen Aufputz der Fassade dienen, sondern als konstruktive Elemente Verwendung finden sollen - erfordert Sachkenntnis. Während für die Holzbausystematik Erfahrungen aus Übersee und für die Deckenplatten neueste Holzwerkstoffe aus Skandinavien Verwendung fanden, dienten landesübliche kesseldruckimprägnierte (Telegraphen-)Masten als Stützen für das Vordach an der Westseite und vor der Südwestecke.

Eine große Bandbreite und lockere Unbefangenheit in der Anwendung von Materialien und Konstruktionsweisen zeichnen die Arbeiten von Doris und Ralph Thut aus - sind sie doch immer Produkte ausgedehnter Forschungen. Daher stecken in diesem scheinbar einfachen Einfamilienhaus das Wissen und die Erfahrung von Reihenhaus- und Mehrfamilienhausbauten, für die die Architekten bereits in den siebziger Jahren mit Preisen ausgezeichnet wurden.

In den achtziger Jahren folgten Gastprofessuren in Cambridge, USA, und an der Technischen Universität Graz. Seit 1990 ist Doris Thut Professorin an der Fachhochschule in München und Ralph Thut Professor an der Ingenieurschule im schweizerischen Biel.

Sie treiben ihre Forschungen für eine Architektur des Gebrauchs mit jedem Bauwerk einen Schritt weiter. Wenn ein Auftrag mit ihrer Überzeugung nicht zur Deckung gebracht werden kann, verzichten sie. Für kostengünstigen und zugleich ökologisch verantwortungsbewußten Wohnbau sind die beiden Architekten heute in Fachkreisen international anerkannt.

Lokale Politiker tun sich mit dieser Architektur oft schwer, weil diese nicht den gängigen Mustern entspricht und „Ek-ken“ und „Borsten“ aufweist und weil die Entwerfer an gesellschaftlichen Realitäten nicht vorbeisehen. Der Bau in Erding bei München ist ein sprechendes Beispiel dafür.

Die Beachtung auch der sozialen Faktoren im Städtebau hat zu interessanten Wettbewerbsentwürfen geführt. Vielschichtige Arbeiten wie die der Thuts verlangen allerdings ein genaues Hinsehen - was nicht bei allen Beurteilungsgremien garaniert ist.

Begonnen hat es vor über drei Jahrzehnten in der Meisterklasse von Ernst A. Plischke an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Während Doris Thut in Wien aufgewachsen ist, fand Ralph Thut nach einer Zeichnerlehre in der Schweiz den Weg von der Praxis zum akademischen Studium der Architektur. Von Wien wechselten die beiden später an die Akademie in München und schlossen dort das Studiummit dem Diplom ab. Im Rahmen der Mitarbeit an einem Wohnbau von Otto Steidle machten sie bereits Ende der sechziger Jahre praktische Erfahrungen. Seit 1972 führen Doris und Ralph Thut ein gemeinsames Architekturbüro in München, wo sie mit einem Pionierbauwerk, dem 1978 fertiggestellten Wohnbau für sechs Familien im Stadtteil Perlach, ökologische und energetische Fragen beantwortet haben, lange bevor andere ein Problembewußtsein dafür entwickelten.

An diesem Haus, in dem sie auch selber wohnen, konnten sie nicht nur Tauglichkeit und Dauerhaftigkeit neuentwickelter und kostengünstiger konstruktiver Details im täglichen Gebrauch überprüfen, sondern auch soziale Prozesse in der Hausgemeinschaft besser verstehen. Diese Erfahrungen erlaubten ihnen eine nüchterne, weder idealistische noch zynische Bearbeitung des wichtigen Problemkomplexes verdichteten Wohnens. In ihren theoretischen Reflexionen schreiben sie: „Die konsequente Einbeziehung des Gebrauchsprozesses - durch Beobachtung, Erinnerung, Vorstellung - bewirkt, daß qualitative Komponenten in die Gestaltung konkreter einfließen können und die Funktionen erweitert werden.“

Weil die Thuts ihre theoretischen Überlegungen ernst nehmen, werden ihre Entwürfe und Bauten, wie die besagte Wohnanlage an der Max-Planck-Straße in Erding, die bereits seit zehn Jahren bestens funktioniert, zur gebauten Kritik am oft seelenlosen Massenwohnbau unserer Zeit.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur