Bauwerk
Hageneiland
MVRDV - Ypenburg (NL) - 2002
Das Eigenheim als Karikatur
Die frischeste und frechste Architekturszene findet sich derzeit in Holland. Häuser, die in der Schweiz allenfalls als Objekte einer Ausstellung über Architekturutopien vorstellbar wären, gehören in den Niederlanden zum gebauten Alltag.
1. Februar 2003 - Roderick Hönig
Vor allem im Wohnbausektor haben dank staatlicher Förderung viele junge Architekten die Chance, ihren Visionen Form zu geben. Denn die Bevölkerung des dichtbesiedelten Landes braucht Platz: bis 2015 sollen im Rahmen des Vinex-Bauprogramms eine Million neue Häuser rund um die urbanen Zentren gebaut werden!
So entstehen vor den Toren Amsterdams, Rotterdams oder Utrechts end- und zentrumslose sowie oft auch monotone Häusermeere. Sie verweben die niederländischen Städte zu einem ringförmigen Siedlungsteppich. Die holländische Version des Schweizer Mittellands heisst Randstad und frisst sich wie dieses grossflächig in die Landschaft.
Das Resultat: Wie zwischen Boden- und Genfersee hört auch in Holland zwischen Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Dordrecht, Eindhoven, Nimwegen und Utrecht die Zersiedelung nirgends und nie wirklich auf.
Eine der vielen neuen Vinex-Vorstädte heisst Ypenburg und liegt etwa 15 Tramminuten ausserhalb von Den Haag. Im einstigen Niemandsland wurden innert weniger Jahre mehrere tausend Wohnungen aus dem Boden gestampft. Eine neue Tram- und Buslinie und ein Autobahnanschluss dienen dem Monokultur-Satelliten als Nabelschnur zum Stadtzentrum. Die weitläufige Siedlung wird mit grossen Alleen entlang trister Kanäle strukturiert. Schmale Nebenstrassen führen von den Hauptachsen zu den einzelnen Quartieren, die jeweils nach einem Thema gestaltet sind.
In Waterwijk ist das Thema Wasser. Die vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV entworfene Anlage liegt auf fünf künstlichen Halbinseln in einem künstlichen See. Rund 900 Wohnungen werden hier gebaut. Die jungen Architekten haben versucht, ähnlich einer Wohnbauausstellung möglichst viele Varianten des Wohnens nebeneinanderzustellen. So gibt es beispielsweise eine Hofhausinsel und eine Gartenhausinsel und grosse Blöcke, die rund um einen gemeinsam genutzten Innenhof angeordnet sind. Der drohenden Monotonie wird begegnet, indem jede Halbinsel von einem anderen Architektenteam bebaut wird.
Am frechsten sind die Häuser von MVRDV auf Hageneiland, der Gartenhausinsel. Das mit dem holländischen Pavillon an der Weltausstellung Expo 2000 Hannover und mit visionären Studien über die Bebauungsdichte in Holland weltweit berühmt gewordene junge Architektenteam überrascht mit einem provokativen Entwurf: Hageneiland ist die gebaute Karikatur des Eigenheimtraums. Die 119 Wohnhäuser sind bunte Lego-Häuschen, die Erschliessungen romantische Weglein und die Vorgärten so putzig, dass man am liebsten eine Gartenzwergsammlung darin unterbringen möchte.
Die kraftvoll auf die Urform des Hauses reduzierten Skulpturen bieten den idealen Hintergrund für architektonische Elemente wie Zäune, Gartenhäuschen, Vorgärten oder Strassenlampen. Die Häuser unterscheiden sich nur im Material und in der Länge. In den Vordergrund tritt also nicht die Architektur, den Blick ziehen vielmehr Elemente auf sich, die die Architekten normalerweise aus ihren Plänen verbannen und aus den Publikationsfotos herausretouchieren lassen.
So ruft der Spaziergang durch Hageneiland Bilder einer hyperindividuellen Schrebergartensiedlung hervor, nur dass die Häuser irgendwie irritieren: Die roten Ziegel, silbernen Zinkplatten, die braunen Holzschindeln, schwarzen Eternitpaneele, die blauen oder grünen Kunststoffplatten hören nicht etwa am Dachrand auf, sondern kleiden die Häuser rundherum vollkommen ein. Auch fehlen typische Elemente wie Dachtraufen.
Dieser subtile Trick macht aus dem Häuschen eine kunstvolle minimalistische Plastik und aus der Anlage ein vieldeutiges Muster. Und um kein Reihenhaussiedlungsgefühl aufkommen zu lassen, haben die Architekten die Häuser nicht zu langen Riegeln zusammengeschoben. Meist sind es Zweifamilienhäuser, die in gebührendem Abstand nebeneinander oder gegeneinander verschoben stehen. Das erzeugt immer wieder neue Aussenräume, und MVRDV gelingt es so, trotz den strengen niederländischen Planungsrichtlinen eine dorfähnliche Siedlungsstruktur herzustellen.
Das Häuser-Layout auf Hageneiland war es denn auch, und nicht die Architektur, was die Jury des NAI- Preises am meisten überzeugt hat. Der Preis, mit dem das renommierte holländische Architekturinstitut jährlich Projekte von holländischen Architekten unter 40 Jahren auszeichnet, ging im Dezember letzten Jahres zum ersten Mal an MVRDV.
Im Inneren sind die Häuschen konventionell gestaltet: Man betritt sie ebenerdig und wird von einem weiten Raum empfangen, der in der Mitte vom Küche/WC/Treppe-Kern in ein Wohn- und ein Esszimmer unterteilt ist. Mit 2,55 Metern sind die Räume für holländische Verhältnisse relativ hoch. Im oberen Stock liegen drei mittelgrosse Schlafzimmer und ein Bad. Von hier führt die schmale Treppe ins offene Dachgeschoss. Aus Kostengründen wurden die Häuser nicht unterkellert, als Stauraum teilt man sich mit dem Nachbar jeweils eines der transparenten Gartenhäuschen im Vorgarten. Diese gewächshausartigen Häuschen im Häuschenpark überspitzen die Karikatur noch.
Die Mietpreise für ein zwischen 121 und 130 Quadratmeter grosses Haus betragen zwischen 541 und 707 Euro pro Monat, die Kaufpreise lagen zwischen 164 000 und 237 000 Euro. Mit dem unterschiedlich grossen Wohn- und Ausbauangebot gelingt es, Mieter aus unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen nach Ypenburg zu locken. Diese Durchmischung der sozialen Schichten soll der Gefahr entgegenwirken, dass aus Ypenburg ein Wohnghetto für einen sozial und finanziell schlechter gestellten Bevölkerungsteil wird.
In der radikalen und provokativen Architektur steckt eine betont familienfreundliche Anlage: Alle Häuser sind mit einem Netz kleiner, autofreier Fusswege miteinander verbunden, dazwischen sind Spielplätze eingestreut, und jedes Haus hat einen eigenen (Pflanz-)Garten, entweder vor oder hinter dem Haus.
Die zu gross geratene Schrebergartensiedlung hat nicht nur die Diskussion in der Nachbarschaft, sondern auch den internationalen Architekturdiskurs angeheizt: Darf man beim Wohnungsbau vor allem von den Vertretern der Moderne zu einer sozialen Bauaufgabe deklariert mit Ironie agieren?, fragen die Kritiker. Sind die Häuschen gar eine zynische Antwort auf den Traum vom Eigenheim?
MVRDV waren bei diesem Projekt in der Zwickmühle. Einerseits hatten sie im Jahr 2001 in ihrer vielbeachteten Studie «Pig City» vorgeschlagen, der drohenden ökologischen Katastrophe und baulichen Zersiedlung mit einer ungewöhnlichen Verdichtungsmethode entgegenzuwirken: In 600 Meter hohen Türmen entlang der Maasflanke soll die landraubende Nutztierzucht übereinandergestapelt werden, lautete ihr provokativer Vorschlag, Land zu sparen. Gleichzeitig realisieren sie in Ypenburg nun selbst ein landverschleissendes Ein- und Mehrfamilienhausquartier.
MVRDV begegnen der ungemütlichen Situation mit Ironie und hoffen so, auf das Problem der gedankenlos und uniform geplanten Streusiedlungen ausserhalb der Zentren aufmerksam zu machen.
Trotzdem bleibt die Sache zweischneidig. Gelungen ist dem Büro jedenfalls, die Diskussion auf eine Frage zu lenken, die im Häuserbaugetöse offenbar wirklich untergegangen und auch für die Schweiz aktuell ist: Ist das Einfamilienhaus die richtige Strategie, auf die gestiegenen Wohnraumbedürfnisse zu reagieren?
So entstehen vor den Toren Amsterdams, Rotterdams oder Utrechts end- und zentrumslose sowie oft auch monotone Häusermeere. Sie verweben die niederländischen Städte zu einem ringförmigen Siedlungsteppich. Die holländische Version des Schweizer Mittellands heisst Randstad und frisst sich wie dieses grossflächig in die Landschaft.
Das Resultat: Wie zwischen Boden- und Genfersee hört auch in Holland zwischen Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Dordrecht, Eindhoven, Nimwegen und Utrecht die Zersiedelung nirgends und nie wirklich auf.
Eine der vielen neuen Vinex-Vorstädte heisst Ypenburg und liegt etwa 15 Tramminuten ausserhalb von Den Haag. Im einstigen Niemandsland wurden innert weniger Jahre mehrere tausend Wohnungen aus dem Boden gestampft. Eine neue Tram- und Buslinie und ein Autobahnanschluss dienen dem Monokultur-Satelliten als Nabelschnur zum Stadtzentrum. Die weitläufige Siedlung wird mit grossen Alleen entlang trister Kanäle strukturiert. Schmale Nebenstrassen führen von den Hauptachsen zu den einzelnen Quartieren, die jeweils nach einem Thema gestaltet sind.
In Waterwijk ist das Thema Wasser. Die vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV entworfene Anlage liegt auf fünf künstlichen Halbinseln in einem künstlichen See. Rund 900 Wohnungen werden hier gebaut. Die jungen Architekten haben versucht, ähnlich einer Wohnbauausstellung möglichst viele Varianten des Wohnens nebeneinanderzustellen. So gibt es beispielsweise eine Hofhausinsel und eine Gartenhausinsel und grosse Blöcke, die rund um einen gemeinsam genutzten Innenhof angeordnet sind. Der drohenden Monotonie wird begegnet, indem jede Halbinsel von einem anderen Architektenteam bebaut wird.
Am frechsten sind die Häuser von MVRDV auf Hageneiland, der Gartenhausinsel. Das mit dem holländischen Pavillon an der Weltausstellung Expo 2000 Hannover und mit visionären Studien über die Bebauungsdichte in Holland weltweit berühmt gewordene junge Architektenteam überrascht mit einem provokativen Entwurf: Hageneiland ist die gebaute Karikatur des Eigenheimtraums. Die 119 Wohnhäuser sind bunte Lego-Häuschen, die Erschliessungen romantische Weglein und die Vorgärten so putzig, dass man am liebsten eine Gartenzwergsammlung darin unterbringen möchte.
Die kraftvoll auf die Urform des Hauses reduzierten Skulpturen bieten den idealen Hintergrund für architektonische Elemente wie Zäune, Gartenhäuschen, Vorgärten oder Strassenlampen. Die Häuser unterscheiden sich nur im Material und in der Länge. In den Vordergrund tritt also nicht die Architektur, den Blick ziehen vielmehr Elemente auf sich, die die Architekten normalerweise aus ihren Plänen verbannen und aus den Publikationsfotos herausretouchieren lassen.
So ruft der Spaziergang durch Hageneiland Bilder einer hyperindividuellen Schrebergartensiedlung hervor, nur dass die Häuser irgendwie irritieren: Die roten Ziegel, silbernen Zinkplatten, die braunen Holzschindeln, schwarzen Eternitpaneele, die blauen oder grünen Kunststoffplatten hören nicht etwa am Dachrand auf, sondern kleiden die Häuser rundherum vollkommen ein. Auch fehlen typische Elemente wie Dachtraufen.
Dieser subtile Trick macht aus dem Häuschen eine kunstvolle minimalistische Plastik und aus der Anlage ein vieldeutiges Muster. Und um kein Reihenhaussiedlungsgefühl aufkommen zu lassen, haben die Architekten die Häuser nicht zu langen Riegeln zusammengeschoben. Meist sind es Zweifamilienhäuser, die in gebührendem Abstand nebeneinander oder gegeneinander verschoben stehen. Das erzeugt immer wieder neue Aussenräume, und MVRDV gelingt es so, trotz den strengen niederländischen Planungsrichtlinen eine dorfähnliche Siedlungsstruktur herzustellen.
Das Häuser-Layout auf Hageneiland war es denn auch, und nicht die Architektur, was die Jury des NAI- Preises am meisten überzeugt hat. Der Preis, mit dem das renommierte holländische Architekturinstitut jährlich Projekte von holländischen Architekten unter 40 Jahren auszeichnet, ging im Dezember letzten Jahres zum ersten Mal an MVRDV.
Im Inneren sind die Häuschen konventionell gestaltet: Man betritt sie ebenerdig und wird von einem weiten Raum empfangen, der in der Mitte vom Küche/WC/Treppe-Kern in ein Wohn- und ein Esszimmer unterteilt ist. Mit 2,55 Metern sind die Räume für holländische Verhältnisse relativ hoch. Im oberen Stock liegen drei mittelgrosse Schlafzimmer und ein Bad. Von hier führt die schmale Treppe ins offene Dachgeschoss. Aus Kostengründen wurden die Häuser nicht unterkellert, als Stauraum teilt man sich mit dem Nachbar jeweils eines der transparenten Gartenhäuschen im Vorgarten. Diese gewächshausartigen Häuschen im Häuschenpark überspitzen die Karikatur noch.
Die Mietpreise für ein zwischen 121 und 130 Quadratmeter grosses Haus betragen zwischen 541 und 707 Euro pro Monat, die Kaufpreise lagen zwischen 164 000 und 237 000 Euro. Mit dem unterschiedlich grossen Wohn- und Ausbauangebot gelingt es, Mieter aus unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen nach Ypenburg zu locken. Diese Durchmischung der sozialen Schichten soll der Gefahr entgegenwirken, dass aus Ypenburg ein Wohnghetto für einen sozial und finanziell schlechter gestellten Bevölkerungsteil wird.
In der radikalen und provokativen Architektur steckt eine betont familienfreundliche Anlage: Alle Häuser sind mit einem Netz kleiner, autofreier Fusswege miteinander verbunden, dazwischen sind Spielplätze eingestreut, und jedes Haus hat einen eigenen (Pflanz-)Garten, entweder vor oder hinter dem Haus.
Die zu gross geratene Schrebergartensiedlung hat nicht nur die Diskussion in der Nachbarschaft, sondern auch den internationalen Architekturdiskurs angeheizt: Darf man beim Wohnungsbau vor allem von den Vertretern der Moderne zu einer sozialen Bauaufgabe deklariert mit Ironie agieren?, fragen die Kritiker. Sind die Häuschen gar eine zynische Antwort auf den Traum vom Eigenheim?
MVRDV waren bei diesem Projekt in der Zwickmühle. Einerseits hatten sie im Jahr 2001 in ihrer vielbeachteten Studie «Pig City» vorgeschlagen, der drohenden ökologischen Katastrophe und baulichen Zersiedlung mit einer ungewöhnlichen Verdichtungsmethode entgegenzuwirken: In 600 Meter hohen Türmen entlang der Maasflanke soll die landraubende Nutztierzucht übereinandergestapelt werden, lautete ihr provokativer Vorschlag, Land zu sparen. Gleichzeitig realisieren sie in Ypenburg nun selbst ein landverschleissendes Ein- und Mehrfamilienhausquartier.
MVRDV begegnen der ungemütlichen Situation mit Ironie und hoffen so, auf das Problem der gedankenlos und uniform geplanten Streusiedlungen ausserhalb der Zentren aufmerksam zu machen.
Trotzdem bleibt die Sache zweischneidig. Gelungen ist dem Büro jedenfalls, die Diskussion auf eine Frage zu lenken, die im Häuserbaugetöse offenbar wirklich untergegangen und auch für die Schweiz aktuell ist: Ist das Einfamilienhaus die richtige Strategie, auf die gestiegenen Wohnraumbedürfnisse zu reagieren?
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