Bauwerk
Guthrie Theater
Jean Nouvel - Minneapolis (USA) - 2006
Kultur als Zukunftsfaktor
Jean Nouvels Guthrie Theater in Minneapolis
Minneapolis, in der Mitte der USA gelegen, sucht sich als kulturelle Metropole zu positionieren. Die Sequenz neuer Bauten kulminiert im Guthrie Theater, mit dem Jean Nouvel das postindustrielle Arkadien der Flusslandschaft am Mississippi ins Blickfeld rückt.
1. September 2006 - Hubertus Adam
Als man im 19. Jahrhundert begann, die Wasserkraft zu nutzen und Mühlenbauten am Flussufer zu errichten, avancierte das 1867 zur Stadt erhobene Minneapolis zum wichtigsten Getreideumschlagplatz des Landes. Heute ist Minneapolis - das sich und das benachbarte St. Paul, die Kapitale von Minnesota, gerne als «Twin Cities» bezeichnet - dank wirtschaftlicher Prosperität eine kulturell attraktive Stadt. Gleichwohl zählt sie für Touristen kaum zu den Hot Spots des Landes: In der geographischen Mitte der Vereinigten Staaten gelegen und von den attraktiven Destinationen der West- wie der Ostküste gleichermassen weit entfernt, besass die Stadt bisher wenig Attraktionspotenzial, zumindest für überseeische Besucher. Fragte man einen Durchschnittsamerikaner nach Minneapolis, so käme diesem wohl zuerst das Stichwort Shopping in den Sinn. Mit dem von Victor Gruen geplanten Southdale Shopping Center (1956) steht hier die erste, mit der Mall of America (1992) von Jon Jerde die grösste Mall des Landes, die als touristische Destination ersten Ranges gilt.
Kultureller Kraftakt
Dass die Innenstädte veröden, ist ein Phänomen, mit dem sich Minneapolis wie viele amerikanische Grossstädte konfrontiert sieht. In den achtziger Jahren entstand «downtown» die obligatorische Silhouette, hier mit Hochhäusern unter anderem von SOM, Cesar Pelli und Philip Johnson. Und wie in anderen Städten auch gilt Kultur derzeit als probates Gegenmittel, um das Image der fragmentierten City mit ihrem Patchwork aus spiegelverglasten Wolkenkratzern, historischen Bauten und zu Parkplätzen umgewidmeten Brachen aufzupolieren. In einem gewaltigen Kraftakt haben verschiedene Institutionen zusammengespannt, um ihre Häuser zu erneuern, zu erweitern oder gar neu zu errichten. Den Anfang machte schon im April des vergangenen Jahres die Erweiterung des Walker Art Center durch Herzog & de Meuron (NZZ 23. 5. 05), das sich am westlichen Rande der Innenstadt befindet.
Ein gutes Jahr später, am 20. Mai dieses Jahres, eröffnete die von Cesar Pelli geplante Minneapolis Public Library, die einen ganzen Block der Innenstadt beansprucht und weitgehend durch die öffentliche Hand finanziert wurde. Eine trichterförmige Galerie, von einem über die Front auskragenden Flugdach überdeckt, dient als grosszügige Erschliessungsachse, von der aus die Lesesäle und Auditorien auf vier Ebenen zugänglich sind. Minneapolis hat mit der Bibliothek vielleicht kein Wahrzeichen erhalten, doch ein überaus benutzerfreundliches Gebäude. Die Gesamtlänge der Regalfläche misst 38,5 Meilen, und fast alle Bestände sind als Freihandmagazine unmittelbar zugänglich. Die Lesesäle besitzen dank der umlaufenden Verglasung und dem Raster aus Pilzstützen eine luftige und freundliche Atmosphäre; und wenn es draussen dunkel wird, strahlt die Bibliothek wie ein funkelnder Kristall. Ein wenig skandinavisch mutet das Gebäude an, welches das Licht zum Thema macht - nicht ohne Grund, denn die dunklen und kalten Winter in Minneapolis sind berüchtigt.
Drei Wochen später öffnete das Minneapolis Institute of Art (MIA), das eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Vereinigen Staaten beherbergt, seine Erweiterung. Der Ursprungsbau von McKim, Mead and White aus dem Jahr 1915 zeigt mit Portikus und Freitreppe die seinerzeit für Kulturbauten in den USA typischen neoklassizistischen Formen. Der japanische Architekt Kenzo Tange fügte 1975 seitlich zwei schlichte Flügel an, die abgesetzt sind durch gläserne Verbindungsbereiche. Nun hat Michael Graves Tanges Westflügel erweitert.
Der neue Flügel des MIA besteht aus einer Enfilade von jeweils fünf Sälen in den zwei Hauptgeschossen (parallel zum Tange-Trakt) und einer südlich anschliessenden, quadratischen Erweiterung mit einem kuppelüberwölbten Atrium in der Mitte. Das gesamte Sockelgeschoss dient der Verwaltung, ausserdem sind hier die Grafische Sammlung und die Bibliothek untergebracht. Mit insgesamt 34 neuen Sälen ist die Ausstellungsfläche um 40 Prozent vergrössert worden - wovon moderne Kunst und Designs besonders profitieren. Graves hat sich in den Ausstellungsräumen bewusst zurückgehalten und das Konzept von Tanges Kunstlichtsälen adaptiert, so dass im Inneren kaum auffällt, wo man den neuen Flügel betritt. Klar als von der Hand Graves' erkennbar ist lediglich der für Empfänge genutzte Gewölbesaal im zweiten Obergeschoss. Moderat- klassizierend zeigt sich auch das Äussere: Schlichte Pilaster und Rundstützen gliedern die Kalksteinfassaden, die mit den früheren Bauphasen gut harmonieren.
Kreuzbestäubungen
Ohne Zweifel besitzt das neue Guthrie Theater den attraktivsten Standort unter den neuen Kulturbauten. Es befindet sich am Steilufer des Mississippi im «Milling District», der Keimzelle der Stadt, und reiht sich ein in die noch vorhandene Phalanx von Mühlengebäuden und Getreidesilos aus Stahlbeton. Die Bauten faszinierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Architekten in Europa; erstmals hatte Walter Gropius 1911 Fotos in einer Ausstellung zum Thema Industriebau präsentiert und dann im Jahrbuch des Deutschen Werkbunds 1913 als Werke veröffentlicht, die «in ihrer monumentalen Gewalt des Eindrucks fast einen Vergleich mit den Bauten des alten Ägyptens» aushielten. Dank ihrer stereometrischen Form avancierten sie in Europa zu Katalysatoren für die Suche nach einer neuen Architektur und galten für Erich Mendelsohn oder Le Corbusier als Inbegriff einer neuen Monumentalität.
Seit einiger Zeit wird der «Milling District» als historisches Erbe vor Ort wiederentdeckt. Am Ufer finden Ausgrabungen statt, und über einen stillgelegten Eisenbahnviadukt von 1883 gelangt man im weiten Bogen auf die andere Seite des Flusses. Die landschaftliche Situation diente Jean Nouvel, der den Direktauftrag für den Neubau des renommierten, 1963 von Tyrone Guthrie gegründeten Sprechtheaters europäischer Prägung erhalten hatte, als Ausgangspunkt. Um Aussicht über das Flussgebiet des Mississippi zu ermöglichen, hob er die beiden Theatersäle und das Foyer auf die Ebene des dritten Obergeschosses an. Während die Probenräume in den Ebenen darunter angeordnet sind, wurden Kulissendepot und Malersaal niveaugleich in einem mehrgeschossigen Parkhaus jenseits der Strasse untergebracht. Ein Gang führt hinüber in das Theater - und durch eine schwefelgelbe Glasscheibe hindurch kann man vom Foyer aus die Bühnenarbeiter beobachten.
Kontextuelle Bezüge
Perspektiven sind bei diesem Gebäude alles: Als Verlängerung des Foyers ragt die «Endless Bridge», in einem Aussichtsbalkon kulminierend, rüsselartig hinein in das Mississippi-Tal; Fenster, einmal hoch-, einmal querformatig, rahmen die Perspektiven in das postindustrielle Arkadien. Die «Thrust Stage» mit ihrem halbkreisförmigen Zuschauerrund von 1100 Plätzen lässt die Raumdisposition des alten Guthrie anklingen; die rechteckige «Proscenium Stage» ist für 700 Besucher ausgelegt. Ein wiederum gelb verglaster Raum mit atemberaubenden Ausblicken dient als Foyer für die Studiobühne auf dem Dach.
Aus europäischer Sicht steht Nouvels Guthrie Theater im Schatten des am gleichen Wochenende eingeweihten Pariser Musée Quai Branly. Zu Unrecht. Denn der mit dunkelblauen Metallplatten verkleidete Theaterbau, Nouvels erster Auftrag in den USA, darf als jüngstes Meisterwerk des Architekten bezeichnet werden. Als rätselhaft-technoides Gebilde lagert es über dem Flusstal, und es huldigt der Zukunft ebenso, wie es auf die Vergangenheit reagiert: Durch eine gelbe Scheibe der «endless bridge» gerät genau der Getreidespeicher aus Minneapolis ins Visier, den Gropius 1913 publizierte und der heute das «Mill Museum» beherbergt. In Zeiten politischer Entfremdung thematisiert Nouvel jene Kreuzbestäubungen, die Abendland und Neue Welt auf kultureller Ebene in Faszination verbinden.
Kultureller Kraftakt
Dass die Innenstädte veröden, ist ein Phänomen, mit dem sich Minneapolis wie viele amerikanische Grossstädte konfrontiert sieht. In den achtziger Jahren entstand «downtown» die obligatorische Silhouette, hier mit Hochhäusern unter anderem von SOM, Cesar Pelli und Philip Johnson. Und wie in anderen Städten auch gilt Kultur derzeit als probates Gegenmittel, um das Image der fragmentierten City mit ihrem Patchwork aus spiegelverglasten Wolkenkratzern, historischen Bauten und zu Parkplätzen umgewidmeten Brachen aufzupolieren. In einem gewaltigen Kraftakt haben verschiedene Institutionen zusammengespannt, um ihre Häuser zu erneuern, zu erweitern oder gar neu zu errichten. Den Anfang machte schon im April des vergangenen Jahres die Erweiterung des Walker Art Center durch Herzog & de Meuron (NZZ 23. 5. 05), das sich am westlichen Rande der Innenstadt befindet.
Ein gutes Jahr später, am 20. Mai dieses Jahres, eröffnete die von Cesar Pelli geplante Minneapolis Public Library, die einen ganzen Block der Innenstadt beansprucht und weitgehend durch die öffentliche Hand finanziert wurde. Eine trichterförmige Galerie, von einem über die Front auskragenden Flugdach überdeckt, dient als grosszügige Erschliessungsachse, von der aus die Lesesäle und Auditorien auf vier Ebenen zugänglich sind. Minneapolis hat mit der Bibliothek vielleicht kein Wahrzeichen erhalten, doch ein überaus benutzerfreundliches Gebäude. Die Gesamtlänge der Regalfläche misst 38,5 Meilen, und fast alle Bestände sind als Freihandmagazine unmittelbar zugänglich. Die Lesesäle besitzen dank der umlaufenden Verglasung und dem Raster aus Pilzstützen eine luftige und freundliche Atmosphäre; und wenn es draussen dunkel wird, strahlt die Bibliothek wie ein funkelnder Kristall. Ein wenig skandinavisch mutet das Gebäude an, welches das Licht zum Thema macht - nicht ohne Grund, denn die dunklen und kalten Winter in Minneapolis sind berüchtigt.
Drei Wochen später öffnete das Minneapolis Institute of Art (MIA), das eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Vereinigen Staaten beherbergt, seine Erweiterung. Der Ursprungsbau von McKim, Mead and White aus dem Jahr 1915 zeigt mit Portikus und Freitreppe die seinerzeit für Kulturbauten in den USA typischen neoklassizistischen Formen. Der japanische Architekt Kenzo Tange fügte 1975 seitlich zwei schlichte Flügel an, die abgesetzt sind durch gläserne Verbindungsbereiche. Nun hat Michael Graves Tanges Westflügel erweitert.
Der neue Flügel des MIA besteht aus einer Enfilade von jeweils fünf Sälen in den zwei Hauptgeschossen (parallel zum Tange-Trakt) und einer südlich anschliessenden, quadratischen Erweiterung mit einem kuppelüberwölbten Atrium in der Mitte. Das gesamte Sockelgeschoss dient der Verwaltung, ausserdem sind hier die Grafische Sammlung und die Bibliothek untergebracht. Mit insgesamt 34 neuen Sälen ist die Ausstellungsfläche um 40 Prozent vergrössert worden - wovon moderne Kunst und Designs besonders profitieren. Graves hat sich in den Ausstellungsräumen bewusst zurückgehalten und das Konzept von Tanges Kunstlichtsälen adaptiert, so dass im Inneren kaum auffällt, wo man den neuen Flügel betritt. Klar als von der Hand Graves' erkennbar ist lediglich der für Empfänge genutzte Gewölbesaal im zweiten Obergeschoss. Moderat- klassizierend zeigt sich auch das Äussere: Schlichte Pilaster und Rundstützen gliedern die Kalksteinfassaden, die mit den früheren Bauphasen gut harmonieren.
Kreuzbestäubungen
Ohne Zweifel besitzt das neue Guthrie Theater den attraktivsten Standort unter den neuen Kulturbauten. Es befindet sich am Steilufer des Mississippi im «Milling District», der Keimzelle der Stadt, und reiht sich ein in die noch vorhandene Phalanx von Mühlengebäuden und Getreidesilos aus Stahlbeton. Die Bauten faszinierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Architekten in Europa; erstmals hatte Walter Gropius 1911 Fotos in einer Ausstellung zum Thema Industriebau präsentiert und dann im Jahrbuch des Deutschen Werkbunds 1913 als Werke veröffentlicht, die «in ihrer monumentalen Gewalt des Eindrucks fast einen Vergleich mit den Bauten des alten Ägyptens» aushielten. Dank ihrer stereometrischen Form avancierten sie in Europa zu Katalysatoren für die Suche nach einer neuen Architektur und galten für Erich Mendelsohn oder Le Corbusier als Inbegriff einer neuen Monumentalität.
Seit einiger Zeit wird der «Milling District» als historisches Erbe vor Ort wiederentdeckt. Am Ufer finden Ausgrabungen statt, und über einen stillgelegten Eisenbahnviadukt von 1883 gelangt man im weiten Bogen auf die andere Seite des Flusses. Die landschaftliche Situation diente Jean Nouvel, der den Direktauftrag für den Neubau des renommierten, 1963 von Tyrone Guthrie gegründeten Sprechtheaters europäischer Prägung erhalten hatte, als Ausgangspunkt. Um Aussicht über das Flussgebiet des Mississippi zu ermöglichen, hob er die beiden Theatersäle und das Foyer auf die Ebene des dritten Obergeschosses an. Während die Probenräume in den Ebenen darunter angeordnet sind, wurden Kulissendepot und Malersaal niveaugleich in einem mehrgeschossigen Parkhaus jenseits der Strasse untergebracht. Ein Gang führt hinüber in das Theater - und durch eine schwefelgelbe Glasscheibe hindurch kann man vom Foyer aus die Bühnenarbeiter beobachten.
Kontextuelle Bezüge
Perspektiven sind bei diesem Gebäude alles: Als Verlängerung des Foyers ragt die «Endless Bridge», in einem Aussichtsbalkon kulminierend, rüsselartig hinein in das Mississippi-Tal; Fenster, einmal hoch-, einmal querformatig, rahmen die Perspektiven in das postindustrielle Arkadien. Die «Thrust Stage» mit ihrem halbkreisförmigen Zuschauerrund von 1100 Plätzen lässt die Raumdisposition des alten Guthrie anklingen; die rechteckige «Proscenium Stage» ist für 700 Besucher ausgelegt. Ein wiederum gelb verglaster Raum mit atemberaubenden Ausblicken dient als Foyer für die Studiobühne auf dem Dach.
Aus europäischer Sicht steht Nouvels Guthrie Theater im Schatten des am gleichen Wochenende eingeweihten Pariser Musée Quai Branly. Zu Unrecht. Denn der mit dunkelblauen Metallplatten verkleidete Theaterbau, Nouvels erster Auftrag in den USA, darf als jüngstes Meisterwerk des Architekten bezeichnet werden. Als rätselhaft-technoides Gebilde lagert es über dem Flusstal, und es huldigt der Zukunft ebenso, wie es auf die Vergangenheit reagiert: Durch eine gelbe Scheibe der «endless bridge» gerät genau der Getreidespeicher aus Minneapolis ins Visier, den Gropius 1913 publizierte und der heute das «Mill Museum» beherbergt. In Zeiten politischer Entfremdung thematisiert Nouvel jene Kreuzbestäubungen, die Abendland und Neue Welt auf kultureller Ebene in Faszination verbinden.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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