Bauwerk

Pfarreizentrum Bonadutz
Walter Bieler - Bonaduz (CH) - 2007

Intuitiv Bemessen

Auffallend, trotzdem schlicht und zurückhaltend in den Dorfkern von Bonaduz integriert zeigt sich der neue Holzbau von Walter Bieler. An diesem Projekt soll seine Tätigkeit in Zusammenhang mit Holzkonstruktionen, für die er Ende 2007 von holz21, dem Förderprogramm des Bundes für Umwelt (Bafu), gewürdigt wurde, aufgezeigt werden. Im Vordergrund stehen die geschichtlichen Meilensteine der Holzentwicklung und die intuitive Arbeitsweise, die Bielers Ingenieurleistung prägen.

Der in Bonaduz aufgewachsene Holzbauingenieur Walter Bieler war beim Neubau des Pfarreizentrums in seinem Heimatdorf nicht nur für die Tragkonstruktion verantwortlich, er nahm erstmals alle Funktionen der am Bau beteiligten Fachplaner wahr. Die Lust, in alle Fachbereiche hineinzuschauen, verführte ihn zu dieser ganzheitlichen Arbeit. Rationale Argumente hätten dagegen gesprochen, so Bieler, weder aus finanzieller noch aus fachlicher Sicht hätte er diese Herausforderung annehmen dürfen. Normalerweise integriert Bieler nicht alle Funktionen in einer Person, sondern schätzt die konstruktive Arbeit im Team. Architekten suchen bereits zu Beginn der Planung seine Erfahrung und seine Ideen zu konzeptionellen Tragwerksentwürfen. Die Statik losgelöst von der Architektur zu planen sei nüchtern, meint Bieler, das Tragwerk mit Konzept und als integralen Bestandteil der Architektur zu entwerfen sei viel bereichernder. Seine Freude an und sein Respekt vor der Architektur fördern die Teamarbeit – waren aber auch mit ein Grund, warum er das Pfarreizentrum im Alleingang verwirklicht hat. Es steht nun anstelle des alten Stalls auf dem Areal der Kirchgemeinde im Dorfkern von Bonaduz. Drei Hauptelemente in einfacher und präziser Form aus Holz bilden den Neubau: Vom Steg als Eingangspforte gelangt man ins Erschliessungsgebäude und von dort ins Hauptgebäude mit einem grosszügigen Saal, dem Sitzungszimmer und dem Kulturarchiv. Die Aussenwandverkleidung aller drei Objekte ist aus Holz (Lamellen und Schindeln) und grenzt sich mit ihren warmen Farben von den umliegenden Holz- und Steinhäusern ab. Das Haupthaus übernimmt die Fluchtlinie der angrenzenden Häuser und führt so die Identität stiftende Baukultur des Dorfs fort.

Der Zugang

Das Tragwerk des Stegs ist als einfacher Balken konzipiert. Ein massiver, blockverleimter Brettschichtholzträger von 44 cm Höhe und 178 cm Breite überbrückt flachkant eine Spannweite von 10.70 m. Die Auflager befinden sich auf der Südwand des Erschliessungsgebäudes und auf dem Passerellenportal, das den Zugang vom Kirchenplatz bildet. Das Portal ist ein steifer Rahmen aus verschweisstem, feuerverzinktem Flachstahl und übernimmt die horizontale Aussteifung in Querrichtung des Stegs, ohne massiv zu wirken. Sprossen (69 /112 mm) aus Lärchenholz hängen im Abstand von 12.8 mm vom Biegebalken herunter (Länge 3.15 bis 3.50 m) und tragen als Zugstangen die horizontal angeschlossene, begehbare Fläche. Als vertikale Sprossenwände schliessen sie den Gehweg in einen Korridor ein, ermöglichen aber den Blick in die Umgebung. Blosses Rechnen erbrachte für diese leichte Holzkonstruktion keinen Steifigkeitsnachweis – die Bemessungen lieferten zu hohe Schwingungen. Bielers Gespür, seine Intuition und die jahrelange Erfahrung mit Holzbauten machten es trotzdem möglich. Jede einzelne, englisch versetzt gestossene Planke des Gehweges (Verschleissschicht) trägt zur horizontalen Aussteifung bei, sodass zwar Schwingungen spürbar sind, doch in einem tolerierbaren Mass. In solchen kleinen Projekten werden Feinheiten, die in grossen Bauten verloren gehen, zur ingenieurmässigen Herausforderung. Die Suche nach Einfachheit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Stabilität führt zu einer Gratwanderung. Erst mit dem über Jahre aufgebauten Erfahrungsschatz und dem grösser werdenden Selbstbewusstsein nahm sich Bieler die Freiheit und auch den Mut, im Rahmen der Tragwerksplanung dem Gespür für den Kräftefluss bei der Bemessung, aber auch der Architektur eine so wesentliche Rolle beizumessen. «In jungen Jahren traute man sich das noch nicht zu», so der 60-jährige Walter Bieler.

Das Verflechten

Die Verbindungen der einzelnen Holztragelemente am Steg zeigen eine Qualität auf, die für Bielers Bauten kennzeichnend ist. Sowohl aus technischer als auch aus architektonischer Sicht legt er Wert auf das Erscheinungsbild von Verbindungsdetails. Am Steg stossen die Sprossen aus den Seitenwänden und dem Gehbereich nicht satt aneinander – die Verbindungsstellen sind luftumspült, sodass potenzielle Nassstellen trocknen können. Damit erreicht der Planer Dauerhaftigkeit und erfüllt einen wesentlichen Aspekt holzgerechten Entwerfens. Anhaltende Feuchtigkeit würde zu Fäulnis führen und damit das Tragwerk verrotten lassen, denn trotz allen Holzwerkstoffen und neuen Technologien bleibt Holz ein natürlicher Baustoff und damit biologisch abbaubar. Gerade die Weiterentwicklung der Verbindungstechnik hat dem Holzbau neuen Aufschwung gegeben. Galt Holz im 19. Jahrhundert vor allem bei Brücken noch als Hightechmaterial (Holzbrücken überspannten 50–60 m, während die Spannweite von Steinbogenbrücken max. 20 m betrug), machten ihm Stahl und Beton zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Platz streitig. Erst in den 1960er-Jahren entdeckte man den einheimischen Rohstoff wieder. Antriebe kamen aus der Forschung zu Holzverbindungstechniken an der ETH Zürich sowie vom Bund, der mit einem Impulsprogramm (1986 bis 1991) unter anderem den von Amerika importierten Elementbau unterstützte. Der heimische Roh- und Baustoff sollte besser genutzt werden, denn vom Zuwachs von 8 bis 10 Mio. m3/Jahr in der Schweiz wurden damals nur 3.5 bis 4 Mio. genutzt. Zwar wurden 2006 bereits 5.7 Mio. m3 Wald geschlagen, doch heute noch überaltert der Wald Jahr für Jahr, und grosse Mengen Holz verrotten ungenutzt.

Der Durchbruch

Zusammen mit der weiterentwickelten Verbindungstechnik kamen die Holzwerkstoffeigenschaften besser zum Tragen. Holz kann beispielsweise genauso viel Druckspannung im Querschnitt aufnehmen wie Beton (16 N/mm2 für Brettschichtholzträger), ist dafür aber leich-ter (spezifisches Gewicht Holz: 500–800 kg/m3, Stahlbeton: 2500 kg/m3, Stahl: 7900 kg/m3). Ausserdem weist das Material eine höhere Oberflächentemperatur auf als Stahl und Beton, was die Kondensation verringert. Letzteres ist mit ein Grund, warum gerade bei Eishallen Ingenieurtragwerke aus Holz mit jenen aus Beton und Stahl konkurrieren können. Bieler erstellte 1979 zusammen mit Krähenbühl Architekten die Davoser Eishalle (Bild 4) mit einem spektakulären Holztragwerk, das eine Fläche von 88 × 88 m stützenfrei überspannt (max. Höhe des Hauptträgers: 1.96 m). Zweifelten die Bauherren vor Erstellen dieses Klassikers bezüglich Tragstruktur noch daran, dass mit einer Holzkonstruktion eine grössere Spann­weite als 15 m überbrückt werden kann, verflogen diese Bedenken danach rasch. Zwar unterschätzt man das Potenzial des Baustoffs Holz immer noch, doch mit jeder Realisation eines kühnen, modernen und eindrücklichen Holztragwerks wird die Akzeptanz von Holz als leistungsfähiges Material im Ingenieurbau gesteigert. Im ökologischen Zusammenhang fand der Holzbau ebenfalls seinen Platz in der Baubranche, unterstützt durch den psychologisch guten Zugang des Menschen zu diesem Baustoff. Im Pfarreizentrum Bonaduz wurden Hölzer aus dem Bündnerland und aus dem Gebiet um St. Gallen verarbeitet. Bieler unterstützt diese einheimische Baustoffnutzung – unter Vor-behalt. Langfristig könne dieses oft zur Forderung gewordene Argument eine einschränkende Wirkung haben. Ein allzu starker Selbstschutz, bei dem Beteiligte sich auf den handwerklich verbauten Baustoff versteifen und industriell hergestellten Fertigprodukten keinen Zugang mehr gewähren, könne in eine Sackgasse führen. Neuen Lösungen und Entwicklungen, neuen Techniken und Formen müsse man unbedingt Raum lassen und offen gegen­übertreten. Nur so könnten die Weiterentwicklung voranschreiten und Synergien zwischen Statik und Konstruktion geschaffen werden: Kreuzweise verleimte Massivplatten bieten z.B. neue Möglichkeiten für das Zusammensetzspiel mit Holzelementen.

Die Formgebung

Der Steg am Pfarreizentrum Bonaduz erhält durch die gewählte Tragstruktur ein Dach, das die tragenden Bauteile vor direkter Witterung schützt. Im Holzbrückenbau wurde diese oft kostenintensive Art von Schutz über Jahrzehnte angewandt, bis Walter Bieler eine Alterna­tive entwickelte. Bei der Laaderbrücke in Nesslau (SG, Bild 5) konstruierte er im Jahre 1996 eine dichte Fahrbahn, die die darunter liegende Tragkonstruktion vor direkter Witterung schützt: eine tragfähige Fahrbahnplatte aus Furnierschichtholz, darüber eine wasserdichte Kunststoffabdichtung, abgedeckt mit Bitumenbelag. Auf chemischen Schutz verzichtet er dabei vollständig, da er der Meinung ist, dass der wertvollste Schutz konstruktiv sei. Trotz dieser Pionierarbeit kehrt Bieler scheinbar zur alten Konstruktionsweise zurück. «In jedem Projekt suche ich die optimale Form und wende die passende Technik an», erklärt er, «so kam diese (eher historische) Formgebung für den Steg in Bonaduz zustande.» Sie minimiert den Terraineinschnitt und maximiert die Öffnung zwischen Böschung und Steg – ein offener, lichtdurchfluteter Gartenbereich breitet sich unter dem Steg hindurch aus.

Die Einschränkung

«Der Baustoff Holz diszipliniert den Konstrukteur», erwähnt Walter Bieler. Grundsätzlich ist Holz eine Stabstatik und keine Flächenstatik, was einen in der Konstruktionsfreiheit einschränkt. Das Tragwerk ist geprägt von zusammengefügten Stäben, wodurch der Kräftefluss erkennbar wird. Die Freude an Holztragwerken werde aber dennoch nicht getrübt. Im Gegenteil, «es tut gut, Grenzen zu haben und in gewisser Weise eingeschränkt zu sein». Der gewonnenen Freiheit durch die Liberalisierung der Brandschutzrichtlinien im Holzbau (Schweizerische Brandschutzvorschriften der Vereinigung der kantonalen Feuerversicherungen VKF, Ausgabe 2003, gültig seit 2005) setzt Bieler ebenfalls Grenzen. Mehrgeschossige Bauten sind zwar möglich, doch müsse ein 7-geschossiges Haus nicht a priori in Holz gebaut werden. Denn Holz hat, wie jeder andere Baustoff auch, seine Schwächen (z.B. Schall). Gefördert werden solle vielmehr die Mischbauweise. Bieler schöpft darum die sich bietenden werkstoffspezifischen Möglichkeiten aus und weist jedem Material sein technisch und architektonisch optimales Einsatzgebiet zu – entsprechend auch im Pfarreizentrum. Die zwei auf den alten Grundmauern errichteten, gegenüber dem ursprünglichen Stall um 60 cm erhöhten Häuser sind komplett als Holzrahmenbau aus Fichte erstellt. Tragende Wände aus Rahmenelementen mit Vorsatzschalung und Dächer aus Kastenelementen, die bis zu 10 m Spannweite überbrücken, leiten die anfallenden Lasten in die neuen Betonfundamente ab (Frosttiefe 80 cm). Einzig die Decke über dem Kulturarchiv, der Öffentlichkeit zugänglich und im alten Heustall gebaut, wurde aus brandtechnischen Gründen aus Beton erstellt. Die Steine der ursprünglichen, während des Umbaus eingestürzten Grundmauern wurden an gleicher Stelle wieder aufgeschichtet. Auf die neue, wesentlich höhere Raumhöhe aufgemauert, sind sie im Sitzungszimmer im Erdgeschoss (alter Kuhstall) ersichtlich und dienen der Lastabtragung, übernehmen aber ebenso eine ästhetische Funktion. Alle Innenräume sind von warmen Le-Corbusier-Farben (französischer Goldocker, Melser Schiefer, Pompeijanisch Rot etc.) nach einem Farbkonzept von kt. C0L0R (Katrin Trautwein) geprägt und die Holzverkleidung millimetergenau den Abmessungen von Fensterlaibungen und Raumecken angepasst. Dies gibt den ganz auf gesellschaftliche Anlässe ausgelegten zwei Häusern eine ruhige Atmosphäre. Grosszügige Fenster – vor allem im Festsaal des Hauptgebäudes – geben ausserdem den Blick in die umliegende Berglandschaft frei (Calanda, Feldis).

Die Unschärfe

Das Gefälle des Stegs ab dem Kirchplatz und die Forderung nach schwellenlosen, invalidengerechten Bödenübergängen ergaben das Niveau der Deckenoberkante im Obergeschoss, wobei die zwei Geschosse aber nur mit Treppen verbunden sind. Rollstuhlfahrende finden ihren Weg über die Aussenwege und die unteren beiden Eingänge. Die wegen der beschränkten Platzverhältnisse bewusst schmal ausgeführte Treppe im Erschliessungsgebäude bringt die ingenieurmässige Arbeitsweise von Bieler ein weiteres Mal zum Vorschein: Das Geländer ist als Biegeträger tragend und lässt die Treppe zusammen mit dem stufenweisen Zuschnitt an der Unterseite als Körper erscheinen. Eine rechnerische Bemessung alleine hätte zu grosse Dimensionen ergeben und die Geländerdicke zu massiv werden lassen. Das intuitive, von Erfahrung geprägte Handrechnen brachte einen eleganten Körper hervor: «Man muss die Deformationen auch einmal zu gross sein lassen – das Spiel mit der rechnerischen Durchbiegung und der Erfahrung in der Praxis bringt schliesslich die ausreichende Steifigkeit.»

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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Kath. Gemeinde Bonaduz