Bauwerk

Hauptbahnhof Stuttgart
Paul Bonatz, Friedrich Eugen Scholer - Stuttgart (D) - 1928

Ignoranz und Sorglosigkeit

Dem Hauptbahnhof von Stuttgart droht der Teilabriss

19. Dezember 2008 - Hubertus Adam
Der Stuttgarter Hauptbahnhof markiert eine architekturgeschichtliche Schwellensituation, den Übergang vom Bahnhofspalast des Historismus, wie man ihn in Paris, Frankfurt oder Zürich findet, zum funktionalen Verkehrsbauwerk der Moderne. 1911 hatte Paul Bonatz gemeinsam mit Friedrich Eugen Scholer den Wettbewerb gewonnen; der erste Entwurf des Kopfbahnhofs zeigte deutliche Anklänge an die Reformarchitektur der Zeit und war von Eliel Saarinens Bahnhofsprojekt für Helsinki inspiriert. Im Verlauf der Planung gewann der Bau an Klarheit, die stereometrische Körperhaftigkeit wurde radikalisiert, und der ursprünglich in die Front eingebundene Turm rückte als vertikale Dominante an die Ostseite. Mit seinem Kalksteinmauerwerk, den Pfeilerarkaden und den in gigantischen Tormotiven sich zur Stadt hin öffnenden Schalterhallen ist das Bauwerk ein wichtiges Zeugnis für die Monumentalarchitektur der Zeit um 1914. Fertiggestellt wurde es seltsam verspätet erst 1928 – ein Jahr nach der Weissenhofsiedlung, einer der wichtigsten Manifestationen der modernen Architektur.

Bonatz selbst konnte die Schäden des Zweiten Weltkriegs beheben, doch die eigentliche Zerstörung des Baudenkmals droht erst jetzt. Mit der Bewilligung für die Neutrassierung der ICE-Strecke Stuttgart–Ulm soll der von Christoph Ingenhoven geplante unterirdische Durchgangsbahnhof realisiert werden. Damit stehen nicht nur massive Eingriffe in die grandiosen Schalterhallen bevor, sondern auch der Abriss der für den Rhythmus und die Wirkung des Gebäudes wichtigen Seitenflügel im Westen und Osten. Ebenfalls der Zerstörung ausgeliefert wird das nördlich dem Bahnhof vorgelagerte ingenieurtechnische Meisterwerk des «Tunnelgebirges», einer grandiosen Betonkonstruktion.

Einem weltweit unterstützten Protest von Planern und Denkmalschützern haben sich prominente Architekten wie David Chipperfield, Richard Meier oder Denise Scott Brown angeschlossen. Im Schulterschluss mit der Stuttgarter Stadtregierung aber hält die Bahn AG an dem Konzept des auf mehr als vier Milliarden taxierten unterirdischen Durchgangsbahnhofs fest. Und das, obwohl eine Optimierung des Kopfbahnhofs, wie alternative Studien beweisen, effizient und deutlich kostengünstiger wäre. Städte wie Frankfurt am Main oder München haben die Idee einer Untertunnelung ihrer bestehenden Bahnhöfe ohnehin längst beerdigt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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