Bauwerk
Silodam-Container
MVRDV - Amsterdam (NL) - 2002
Ein Museum der Wohntypen
Der Silodam-Wohncontainer von MVRDV in Amsterdam
Die ersten spektakulären Bauten des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV liessen vermuten, dass es vor allem durch innovative Architektur und durch aussergewöhnliche Konstruktionen aufzufallen sucht. Nun hat es mit dem Silodam-Container in Amsterdam erneut einen wegweisenden Bau realisiert: ein spannendes Wohngebäude.
7. März 2003 - Klaus Englert
Vor wenigen Jahren gehörte das junge Architektentrio MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) noch zu den Nobodys der Szene. Dies änderte sich sehr schnell, als die drei den lukrativen Auftrag erhielten, für 40 Millionen Gulden ein neues Gebäude für die Sendeanstalt VPRO in Hilversum zu errichten. Plötzlich galten sie als Senkrechtstarter in der grossen Schar talentierter holländischer Architekten. Schon kurze Zeit später debütierten sie auf dem internationalen Parkett mit ihrem kurios- phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei Rotterdamer mit dem modischen Kürzel in aller Munde. Viele Kritiker waren überzeugt, dass sie nun siegesgewiss von Grossprojekt zu Grossprojekt schreiten würden. Doch zum Glück kam alles anders. Denn MVRDV wollte vor allem durch innovative Architektur, durch aussergewöhnliche Konstruktionen auffallen. So folgte auf ihre Expo- Attraktion ein wirklicher Überraschungscoup: „das denkbar schmalste Haus“ - so MVRDV - auf der Amsterdamer Scheepstimmermanstraat, dem Mekka experimentellen Bauens im neu erschlossenen Hafengebiet (NZZ 7."9."01). Dieses Miniatur-Wohnhaus gleicht einem gebauten Manifest, da es durch intelligente Geschossaufteilung eine verblüffende räumliche Vielfalt ermöglicht. Auch bei den nächsten Projekten in der niederländischen Hauptstadt blieb MVRDV der selbst gesteckten Maxime treu. Besonders gilt dies für den Silodam-Container, ein kürzlich fertig gestelltes Wohngebäude in der Nähe des Alten Holzhafens.
Hipper Ozeandampfer
Das Bauwerk erhebt sich am Kopfende eines ehemaligen Piers, der mittlerweile zur Topadresse in den neuen Siedlungen der „Waterstad“ geworden ist. Er verlängert die axialsymmetrische Ausrichtung der zwei vorgelagerten Speicherbauten: eines monumentalen Getreidesilos mit der Aura einer säkularen Backsteinkathedrale und eines angrenzenden Speichers, der dem „béton brut“ der fünfziger Jahre verpflichtet ist. Die Eigenwilligkeit dieser beiden Industriefossilien ist nicht zu übersehen, aber die knallbunte Schachtel aus dem Experimentierlabor des Rotterdamer Avantgardebüros sticht schon von weitem ins Auge. Die gestapelten Container auf Stelzen wirken jedenfalls wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der umgebenden Hafengebäude.
Eine niederländische Tageszeitung titelte denn auch: „Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen“. Die Metapher klingt zwar reichlich phantastisch, ist aber durchaus zutreffend. Anders als die beiden Speichergebäude ist das „Containerschiff“ nämlich nicht auf dem sicheren Grund des Piers gebaut, sondern ragt mit massiven Stützen aus dem Hafenbecken empor. Der Eindruck eines Ozeandampfers drängt sich auch auf, weil die ersten beiden Gebäudeteile nur durch frei über das Hafenbecken schwebende Stege erreichbar sind. Dagegen erfolgt der Zugang zu den letzten beiden Blockabschnitten über eine breite Freitreppe. Dieses bühnenhafte Entrée hat mehrere Funktionen: Es öffnet den zunächst geschlossen wirkenden Block und durchschneidet die gesamte Gebäudetiefe. Hier sind die Lasten förmlich zu spüren, die die massiven Stützen abfangen, doch zugleich erstaunt die unerwartete Offenheit der Passage, die sich zu einer grossflächigen Terrasse mit Blick über die Flusslandschaft ausweitet. Ausserdem regelt das Entrée den Zugang zu den jeweiligen Erschliessungsbereichen der Blockabschnitte, aber auch zu einem Café, das sich unterhalb der Aussichtsplattform befindet und wie eine ausgezogene Schublade über den Ij hinausragt. Aus diesem Guckkasten können die Gäste den Hausbewohnern zuschauen, wie sie mit ihren kleinen Booten auf dem Fluss herumschippern. Dieses Flair der „Waterstad“ sei ihr besonders wichtig, betont Nathalie de Vries von MVRDV, und deswegen habe man im Team lange überlegt, wie man dem Wohnen am Wasser am besten Rechnung tragen könne.
Nähe zum ursprünglichen Amsterdamer Lebenselement - dies könnte das Motto des Rotterdamer Trios sein. Aber die Architekten von MVRDV folgen nicht einfach der gängigen Mode; sie verstehen sich vielmehr als Trendsetter. Deswegen bekräftigt Nathalie de Vries das eigentliche Markenzeichen des jungen Architektenteams: höchste Differenziertheit in der Raumgestaltung. Der Silodam-Container birgt daher im Innern so manche Überraschung, die von aussen kaum zu erahnen ist. Etwas unspektakulärer spricht Nathalie de Vries lieber von einem „Museum der Typen“. Gemeint ist ein Wohngebäude, das mit den traditionellen Formen der Wohnarchitektur radikal bricht. Im Grunde realisiert der Silodam- Container ein früheres Manifest von MVRDV: „Die Forderung nach grösserer Vielfalt und ungewöhnlicheren Wohnungsformen nimmt überhand. Das ideale Haus hat ausgedient; es gibt tausend ideale Häuser.“ In einem schönen Traum könnte man sich vorstellen, diese tausend idealen Häuser im „Museum der Typen“ zu durchstreifen. Da es sich leider um ein Museum mit privaten Wohnungen handelt, wird es bei dem Traum bleiben.
Miniatur-Nachbarschaften
Doch das originelle Konstruktionsprinzip ist für jeden auch an der Fassade ablesbar, betrachtet man das Farbenkleid des Wohncontainers. „Mehrere Häuser in einem Haus“ versprechen die Architekten, man kann auch nüchterner sagen: „Mehrere Blocksegmente ergeben ein Wohngebäude.“ Die einzelnen „Häuser“ sind dann jene konstruktiven Elemente, die auf Grund gleicher Geschosshöhe und Farbe, die an Korridoren und Galerien ablesbar ist, gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Hier sollen sich nach dem Willen der Architekten „Miniatur- Nachbarschaften“ bilden. Womit wir bei der Philosophie von MVRDV wären: Nur eine hochgradige Differenzierung der Wohnbereiche entspricht dem zunehmenden Hang zu individuellen Lebensformen.
Die an der Fassade erkennbaren zwanzig verschiedenen Farben entsprechen ebenso vielen Wohnungstypen. Das Silodam-Museum beherbergt Wohnungen von höchst unterschiedlicher Grösse: In dieser „Unité d'habitation“ gibt es Wohnungen mit bis zu drei Geschossen; andere sind über umlaufende, mehrgeschossige Galerietrakte erreichbar; wieder andere besitzen einen eigenen Zugang zu einer Dachterrasse; ebenso kommen Wohnflächen vor, die rings um einen Patio gebaut sind; oder auch Apartments, die sich durch die gesamte Tiefe des Gebäudes ziehen. Wie nicht anders bei MVRDV zu erwarten, ist manches nichts weiter als Spielerei. Man trifft aber auch auf unerwartete Einfälle, die den Kontext phantasievoll einbeziehen. Etwa die im Sockelgeschoss einzig durch Holzstege miteinander verbundenen Wohnungen, die den Bewohnern täglich vor Augen führen, wie nah die Architekten am Wasser gebaut haben. - MVRDV ist eine kleine Revolution im Wohnungsbau gelungen. Im Amsterdamer Hafen gibt es nun tausend ideale Häuser in einem Haus.
Hipper Ozeandampfer
Das Bauwerk erhebt sich am Kopfende eines ehemaligen Piers, der mittlerweile zur Topadresse in den neuen Siedlungen der „Waterstad“ geworden ist. Er verlängert die axialsymmetrische Ausrichtung der zwei vorgelagerten Speicherbauten: eines monumentalen Getreidesilos mit der Aura einer säkularen Backsteinkathedrale und eines angrenzenden Speichers, der dem „béton brut“ der fünfziger Jahre verpflichtet ist. Die Eigenwilligkeit dieser beiden Industriefossilien ist nicht zu übersehen, aber die knallbunte Schachtel aus dem Experimentierlabor des Rotterdamer Avantgardebüros sticht schon von weitem ins Auge. Die gestapelten Container auf Stelzen wirken jedenfalls wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der umgebenden Hafengebäude.
Eine niederländische Tageszeitung titelte denn auch: „Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen“. Die Metapher klingt zwar reichlich phantastisch, ist aber durchaus zutreffend. Anders als die beiden Speichergebäude ist das „Containerschiff“ nämlich nicht auf dem sicheren Grund des Piers gebaut, sondern ragt mit massiven Stützen aus dem Hafenbecken empor. Der Eindruck eines Ozeandampfers drängt sich auch auf, weil die ersten beiden Gebäudeteile nur durch frei über das Hafenbecken schwebende Stege erreichbar sind. Dagegen erfolgt der Zugang zu den letzten beiden Blockabschnitten über eine breite Freitreppe. Dieses bühnenhafte Entrée hat mehrere Funktionen: Es öffnet den zunächst geschlossen wirkenden Block und durchschneidet die gesamte Gebäudetiefe. Hier sind die Lasten förmlich zu spüren, die die massiven Stützen abfangen, doch zugleich erstaunt die unerwartete Offenheit der Passage, die sich zu einer grossflächigen Terrasse mit Blick über die Flusslandschaft ausweitet. Ausserdem regelt das Entrée den Zugang zu den jeweiligen Erschliessungsbereichen der Blockabschnitte, aber auch zu einem Café, das sich unterhalb der Aussichtsplattform befindet und wie eine ausgezogene Schublade über den Ij hinausragt. Aus diesem Guckkasten können die Gäste den Hausbewohnern zuschauen, wie sie mit ihren kleinen Booten auf dem Fluss herumschippern. Dieses Flair der „Waterstad“ sei ihr besonders wichtig, betont Nathalie de Vries von MVRDV, und deswegen habe man im Team lange überlegt, wie man dem Wohnen am Wasser am besten Rechnung tragen könne.
Nähe zum ursprünglichen Amsterdamer Lebenselement - dies könnte das Motto des Rotterdamer Trios sein. Aber die Architekten von MVRDV folgen nicht einfach der gängigen Mode; sie verstehen sich vielmehr als Trendsetter. Deswegen bekräftigt Nathalie de Vries das eigentliche Markenzeichen des jungen Architektenteams: höchste Differenziertheit in der Raumgestaltung. Der Silodam-Container birgt daher im Innern so manche Überraschung, die von aussen kaum zu erahnen ist. Etwas unspektakulärer spricht Nathalie de Vries lieber von einem „Museum der Typen“. Gemeint ist ein Wohngebäude, das mit den traditionellen Formen der Wohnarchitektur radikal bricht. Im Grunde realisiert der Silodam- Container ein früheres Manifest von MVRDV: „Die Forderung nach grösserer Vielfalt und ungewöhnlicheren Wohnungsformen nimmt überhand. Das ideale Haus hat ausgedient; es gibt tausend ideale Häuser.“ In einem schönen Traum könnte man sich vorstellen, diese tausend idealen Häuser im „Museum der Typen“ zu durchstreifen. Da es sich leider um ein Museum mit privaten Wohnungen handelt, wird es bei dem Traum bleiben.
Miniatur-Nachbarschaften
Doch das originelle Konstruktionsprinzip ist für jeden auch an der Fassade ablesbar, betrachtet man das Farbenkleid des Wohncontainers. „Mehrere Häuser in einem Haus“ versprechen die Architekten, man kann auch nüchterner sagen: „Mehrere Blocksegmente ergeben ein Wohngebäude.“ Die einzelnen „Häuser“ sind dann jene konstruktiven Elemente, die auf Grund gleicher Geschosshöhe und Farbe, die an Korridoren und Galerien ablesbar ist, gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Hier sollen sich nach dem Willen der Architekten „Miniatur- Nachbarschaften“ bilden. Womit wir bei der Philosophie von MVRDV wären: Nur eine hochgradige Differenzierung der Wohnbereiche entspricht dem zunehmenden Hang zu individuellen Lebensformen.
Die an der Fassade erkennbaren zwanzig verschiedenen Farben entsprechen ebenso vielen Wohnungstypen. Das Silodam-Museum beherbergt Wohnungen von höchst unterschiedlicher Grösse: In dieser „Unité d'habitation“ gibt es Wohnungen mit bis zu drei Geschossen; andere sind über umlaufende, mehrgeschossige Galerietrakte erreichbar; wieder andere besitzen einen eigenen Zugang zu einer Dachterrasse; ebenso kommen Wohnflächen vor, die rings um einen Patio gebaut sind; oder auch Apartments, die sich durch die gesamte Tiefe des Gebäudes ziehen. Wie nicht anders bei MVRDV zu erwarten, ist manches nichts weiter als Spielerei. Man trifft aber auch auf unerwartete Einfälle, die den Kontext phantasievoll einbeziehen. Etwa die im Sockelgeschoss einzig durch Holzstege miteinander verbundenen Wohnungen, die den Bewohnern täglich vor Augen führen, wie nah die Architekten am Wasser gebaut haben. - MVRDV ist eine kleine Revolution im Wohnungsbau gelungen. Im Amsterdamer Hafen gibt es nun tausend ideale Häuser in einem Haus.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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