Bauwerk

Altes Hospiz St. Gotthard
Miller & Maranta - St. Gotthard (CH) - 2009

Massiv auf dem Gotthard

Miller & Maranta zeigen Berührungsmut mit Traditionen und schaffen einen Gipfel alpiner Beherbergung.

1. September 2010 - Axel Simon
Der St. Gotthard ist nicht nur ein Mythos. Die baumlos strahlende Landschaft der Passhöhe hat keine Mühe, sich gegen den touristischen Sommerbetrieb durchzusetzen. Die vielen verschiedenen Wege und Strassen, die sich hier bis auf 2114 Meter über Null schrauben, zeugen von den Entwicklungsschritten des Reisens: Säumer, Kutschen, Autos. Ebenso die wenigen Gebäude.

Das «Albergo San Gottardo» (1866), die Jugendherberge im ehemaligen Stall, die Alte Sust (1837), früher Warenlager und Remise, heute Museum und Selbstbedienungsrestaurant, und schliesslich das Alte Hospiz, das seit dem 1. August als komfortable Dependance des Hotels dient. Es ist das älteste Haus zwischen den beiden Bergseelein. Die Kapelle, die sich in seinem hinteren Teil befindet, weihte der Mailänder Erzbischof vor achthundert Jahren. Kurz darauf baute man daneben das erste Hospiz, als Unterkunft der Pilger, Händler, Armen und Elenden.

Mehrfach gingen Lawinen, Kriege oder Feuer über das Haus, man baute es wieder auf und um, zuletzt vor hundert Jahren. Die einstige Herberge romantischer Grössen wie Goethe, Mendelssohn oder Wagner geriet in Vergessenheit und verkam. Zuletzt hauste hier das portugiesische Hotelpersonal im Durchzug. Die Stiftung Pro St. Gotthard besitzt seit 1972 alle Gebäude auf der Passhöhe. Eins nach dem anderen hat sie renoviert und wieder nutzbar gemacht. Doch es dauerte drei Jahrzehnte, bis sie den historischen Wert des Alten Hospizes erkannte, dessen Giebelseite so traurig nach Süden blickte. 2005 richtete die Stiftung einen Studienauftrag zu dessen Umbau und Erweiterung aus.

Doch wie geht man mit solch einem historisch bedeutenden Haus um, das sowohl technisch als auch architektonisch heutigen Beherbergungsansprüchen nicht mehr genügt? Man besinnt sich auf die Tradition des Hauses und baut es kräftig weiter. Und das taten die siegreichen Architekten aus Basel, Miller & Maranta. Sie machten sich zum Ziel, die architektonische Wirkung des Gebäudes zu klären und zu stärken. Dafür erhielten sie zwar seine Giebelform, erhöhten es jedoch um ein Geschoss, höhlten es aus und setzten eine neue Holzstruktur ins Innere und eine grosse schwere Dachhaube aus Blei darüber. Deren 25 Tonnen drücken das Haus nun auf den Fels des Gotthardmassivs.

Monumentale Melancholie

Frisch nach ihrem ETH-Studium hatten Quintus Miller und Paola Maranta die Fussgängerpasserelle Werdenberg über die A 13 gebaut. Die war aus Holz und schön verziert und zeigte, dass ihre Entwerfer bei Fabio Reinhard und Miroslav Šik studiert hatten. Die Fachwelt handelte die Brücke als die erste gebaute «Analoge Architektur», die bestehende Vorbilder mit verfremdeten Elementen vorgeschlagen hat. Zwanzig Jahre und viele abstrakte Miller-Maranta-Bauten später, kommt das Déjà-vu: Das Alte Hospiz riecht nach den Ölkreidebildern der «Analogen», denen monumentale Melancholie stets wichtiger war als der Nutzen eines Gebäudes. Gedrungen und käferhaft, die tief heruntergezogene Bleihaut einer Kathedrale würdig. Gespickt ist sie mit zahllosen Gauben. Mit mutiger Hand gingen Miller & Maranta ans Werk. Ein verhaltener Umgang mit dem Flickwerk des Bestandes wäre an dessen erbärmlichem Zustand gescheitert. Oberhalb der ersten Etage entkernten sie das Haus. Der in den 1980er-Jahren renovierte Kapellenraum blieb unverändert, die beiden Geschosse daneben sind neu aufgeteilt, im Erdgeschoss mit knappem Eingangsraum, Technik und Lager, im ersten Obergeschoss mit den Gemeinschaftsräumen hinter den markanten Rundbogenfenstern.

Darüber ist alles neu: Ein betoniertes Treppenhaus mit grosszügigem Gang, rechts und links davon eine eingestellte Holzkonstruktion mit 14 Zimmern bis unters Dach. Da der Pass nur in der Sommerhälfte vom Jahr geöffnet ist und nur in der Zeit gebaut werden konnte, wählten die Architekten eine Konstruktion, die die Zimmerleute vorfertigen konnten. Das Holzständerwerk, dass mit liegenden Bohlen ausgefacht ist, ist ein altes Prinzip, das neben einer schnellen Montage noch einen weiteren Vorteil hat: Gegenüber einem Strickbau schwindet es weniger — das «Innenhaus» darf sich gegenüber der steinernen Hülle nicht verändern. Ein Zimmer nimmt jeweils zwei Felder des Balkenrasters ein. Der Raum spannt sich zwischen Treppenhaus und Aussenwand, zwischen Eingangstür und Fenster, darin eine Kommode mit Sekretär, Sessel und Stehleuchte.

Zwei dicke Stützen und ein tiefer Unterzug trennen die Nische ab, in der das Bett steht. Die metallisch glänzenden Wände des Bades erinnern an die Schimmer-Landschaft vor der Tür. Die unbehandelte Fichte der Zimmerwände, Decken, Böden und Möbel duften nach dem Wald, der draussen nicht steht.

Aus dem Fundus

Ein einfaches Gasthaus hatte sich die Stiftung mit Blick auf die Geschichte des Hauses gewünscht. Aber eines, das gleichzeitig den Komforterwartungen heutiger Gäste Rechnung trägt — eine Aufgabe, der sich Miller & Maranta nicht zum ersten Mal widmen. Die schlichten Fichtenbetten im Alten Hospiz erinnern an diejenigen des Wohnturms der Villa Garbald im Bergell, die beiden Stuben erhellen Stehleuchten, von den Architekten für das Hotel Waldhaus in Sils-Maria entworfen. Ihr Tisch in der kleineren Stube lädt mit Eckbank zum Jassen ein, die grössere heizt ein Specksteinofen wie seit hundert Jahren. Bilder aus dem Fundus des St. Gotthard Museums hängen an den dunklen Kalkputzwänden, tagsüber schmückt sie der Ausblick aus den gedrungenen Fenstern. Es ist die verhaltene Pracht dieser Rundbogenfenster, die nun wieder das Innere des Hauses prägt, eine vom rauen Bergklima in Zaum gehaltene Kultiviertheit. Aussen lassen eine kaum sichtbare Naht im groben Kalkputz und die Fenster der Giebelfassade den letzten «Wuchs» des Hauses erahnen. Über den restaurierten Kastenfenstern der ersten beiden Etagen sitzen zwei Reihen neue, minimal grössere mit Doppelverglasung, aber noch mit Mittelsprosse. Den Abschluss macht eine grosse Öffnung mit nur einem Glasfeld und kündet vom spektakulären Raum dahinter, der sich bis unter den First öffnet. Der gehört zur «Suite», doch passt weder Name noch Nutzung. Für diesen Raum und Ort wünscht man sich ein rechtes Massenlager.

Das Alte Hospiz ist wiederbelebt, seine Zeitschichten zu einem neuen, ebenso stimmungsvollen wie stimmigen Ganzen verschliffen. Das ist den Architekten, der Bauherrschaft und der Denkmalpflege hoch anzurechnen, denn ein solcher Umgang mit dem Vorhandenen ist keineswegs selbstverständlich. Dieser Umgang ist ein Erbe der «Analogen Schule», die ihren Schülern Berührungsmut gegenüber Traditionen, Stimmungen und Atmosphären einimpfte. Nach zwei Jahrzehnten brauchte es aber auch den Mut der Architekten, sich auf ihre eigene Tradition einzulassen. Danke dafür


Kommentar „Weltoffener St. Gotthard“
Eine Passage der Multimediaschau im Passmuseum könnte von Roger Köppel, dem Verleger der Weltwoche, geschrieben sein: «Freiheit und Wohlstand muss man gegen viele Neider verteidigen.» Dieser Spruch, der die kulturelle Lufthoheit über den Mythos Gotthard auf Seiten der Nationalisten halten will, ist eine unzulässige Verdrehung von Tatsachen und Geschichten. Der St. Gotthard ist Ort und Symbol, an dem «Freiheit und Wohlstand» geteilt wurden und werden. Die ruhmreiche Geschichte vom Säumerweg bis zur Autobahn erzählt, wie Wohlstand gemehrt und Freiheiten hergestellt werden — zugunsten unsere hehren Bergler-Ahnen von Tell bis Guisan. Wenn in ein paar Jahren die Neat unter dem Pass hindurchfährt, wird hier nicht mehr das Herz der Schweizer Freiheit schlagen, sondern dasjenige des europäischen Transportwesens. Welch weltoffenes Teilen! Und die Menschen aus Portugal, Osteuropa, Spanien und Italien, die die Wurst-Rösti-Bier-Wirtschaft auf dem Pass gewährleisten, teilen ihre Freiheit mit dem Gotthard, auf dass er gastronomisch überhaupt funktioniert — und den Besitzern Wohlstand bringt. Also sieht es die blaue, frisch vom Bundesamt für Kultur am neuen Alten Hospiz angeschlagene Plakette richtig: «Europäisches Kulturerbe. Stätte mit grenzüberschreitendem oder gesamt europäischem Charakter.» Öffnen, einladen, teilen statt «gegen die Neider verteidigen» — das strahlt die Architektur von Quintus Miller und Paola Maranta aus. Ihr Haus ist ein Begegnungsort, zwar trutzig, aber keine Trutzburg. Die heitere Stimmung im Innern wird Japanerinnen, Griechen und Türken ebenso gefallen wie den Schweizern. Dort kann das geteilt werden, von dem wir so viel haben: Freiheit und Wohlstand. Und die aufgeregten Nationalisten können gut Nachtlager nehmen in der zum Hotel «La Claustra» umgebauten Reduit-Festung von San Carlo oder in der neuen Kaserne von Airolo. [Köbi Gantenbein]

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