Bauwerk
VinziRast-mittendrin
gaupenraub+/- - Wien (A) - 2013
4. Juni 2014 - Az W
Das sanierungsbedürftige Biedermeierhaus war trotz exzellenter Lage in Innenstadtnähe für Investoren unattraktiv: die bestehende Flächenwidmung erlaubte nur einen kleinen Erweiterungsspielraum. Im Fall eines Abrisses hätte das neue Gebäude entsprechend der geltenden Baufluchtlinie zurückrücken müssen. Diese ungünstige Ausgangslage erwies sich als Glücksfall für den Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stefan. Der Verein engagiert sich für Obdachlose und konnte an diesem Standort ein neuartiges Konzept umsetzen: Ehemalige Obdachlose und Studenten leben hier gemeinsam in Wohngemeinschaften. Veranstaltungsraum, Werkstätten und Gassenlokal öffnen das Haus nach außen, laden zum Besuch ein. 1500 m² Nutzfläche für 30 Bewohner – angesichts des Bauvolumens und des Kredits stand außer Frage, dass dieses Haus mehr können muss als nur Obdach bieten.
Je Etage gibt es drei Wohngemeinschaften, die mit 3 Zimmern, Bad, WC sowie einer kleinen Teeküche ausgestattet sind. Ein auffälliges Gestaltungselement im Innen- wie auch im Außenraum bilden die hellbraunen Heraklith-Platten. Sie sind eine der zahlreichen Sachspenden aus der Baubranche, mit denen das Projekt ermöglicht wurde. In den WG-Zimmern bilden die Platten eine Nische, die als Pinnwand dienen kann und zugleich schallreduzierend wirkt. Die Architekten wollten mit diesen Rückzugsnischen einen Ausgleich zu den vielfältigen Gemeinschaftsflächen bieten. Drei Wohngemeinschaften teilen sich eine Gemeinschaftsküche. Hier spielt sich das WG-Leben ab und hier kann es auch mal eng werden – physisch wie auch psychisch. Die Gemeinschaftsküchen verfügen deshalb über drei Zutrittsmöglichkeiten. Alexander Hagner skizziert hier das Bild eines Kochtopfs: Es ist wichtig, dass der Druck entweichen kann. Mit den drei Ein-/Ausgängen steht ein Druckventil zur Verfügung.
Der Architekt Alexander Hagner von gaupenraub +/- hat in seiner Funktion als Mitglied im Verein Vinzenzgemeinschaft St.Stefan in der Vergangenheit wertvolle Erfahrungen gesammelt, wie Räume gestaltet sein müssen, damit sie das Zusammenleben fördern und im Konfliktfall deeskalierend wirken. Erschließungswege sowie Ein- und Ausgänge übernehmen hierbei eine Schlüsselfunktion. Die Wohngemeinschaften werden über einen Laubengang erschlossen. Die Erschließung im Freien spart einerseits wertvolle Nutzfläche im Inneren des Gebäudes. Andererseits ist die Atmosphäre auf einem Außengang unvergleichlich entspannter, verglichen mit einem finsteren Gang im Gebäude. Die Winkelform des Laubengangs schafft Blickbeziehungen und unterstützt die Kommunikation über mehrere Stockwerke hinweg.
Die großzügige Dachterrasse bietet Platz für Hochbeete, in denen Gemüse angepflanzt wird, sowie für zahlreiche Sitzgelegenheiten. Dieser Freiraum am Dach als Freiheitsgrad und Option bildet ein wichtiges Element im Gesamtkonzept. Direkt an die Dachterrasse angrenzend befindet sich das Dachatelier. Der rundum verglaste Raum bietet auf Grund der vorspringenden Baufluchtlinie einen privilegierten Ausblick auf die Innenstadt. Das Dachatelier kann, ebenso auch der Veranstaltungsraum im Keller, von Externen für Konferenzen, Vorträge, aber auch Geburtstagsfeiern u.v.m. gebucht werden.
Das Haus soll die Schwelle abbauen, die wir in der Großstadt bei Begegnungen mit obdachlosen Menschen erleben. Das Gassenlokal „mittendrin“ erfüllt dabei eine Schlüsselfunktion. Hier arbeiten ehemalige Obdachlose. Raumhohe Verglasungen geben ein Blick auf das Innere frei. Gemütliche Sitznischen laden die Gäste ein, dem Treiben auf der Straße zuzusehen. Für die Gestaltung des Lokals stand äußerst wenig Geld zur Verfügung, denn der Verein finanzierte das Projekt mit Spendengeldern. Aus der finanziellen Not wurde eine sprichwörtliche Tugend: Materialien, die sonst im Müll landen, kommen hier dank unzähliger ehrenamtlich geleisteter Stunden zahlreicher Unterstützer zu neuen Ehren und treffen mit dem „shabby chic“ genau den Zeitgeist. Hunderte Obst- und Gemüsekisten wurden für die Wand- und Deckenverkleidung feinsäuberlich zerlegt und anschließend grafisch ansprechend arrangiert. Kissen, deren Überzüge aus recycleten Kaffeesäcken genäht wurden, Türgriffe, die entlang der Bar als Taschenhaken dienen, die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Vom Lokal gelangt man in den hofseitigen Vereinsgastgarten und zu den hauseigenen Werkstätten (Tischlerwerkstatt, Schneiderwerkstatt, Fahrradwerkstatt). Auch hier kommen gebrauchte Materialien zum Einsatz. Der vermeintlich originale Werkstattboden stammt tatsächlich vom Dachboden. Im Zuge des Dachausbaus wurde diese Ressource „frei“. Die Recyclinglösungen sind nicht nur kostensparend, sondern erzeugen einem sehr stimmigen Gesamteindruck. Oft sieht man erst auf den zweiten Blick, was man tatsächlich sieht, weil die zweckentfremdeten Materialien absolut stimmig in ihrer neuen Aufgabe zum Einsatz kommen.
Der Verein ging mit dem Projekt ein Risiko ein – der Architekt sprach bei der Eröffnung von einem Experiment, denn für das geplante Wohngemeinschaftsprojekt konnte auf keinerlei Erfahrungswerte bereits bestehender Projekte zurückgegriffen werden. Die Recherche im Vorfeld des Projekts zeigte, dass es weltweit noch nichts Vergleichbares gab. Die Architektur hat mit dem wohldurchdachten Projekt die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, dass dieses Experiment glücken kann. (Text: Martina Frühwirth)
Je Etage gibt es drei Wohngemeinschaften, die mit 3 Zimmern, Bad, WC sowie einer kleinen Teeküche ausgestattet sind. Ein auffälliges Gestaltungselement im Innen- wie auch im Außenraum bilden die hellbraunen Heraklith-Platten. Sie sind eine der zahlreichen Sachspenden aus der Baubranche, mit denen das Projekt ermöglicht wurde. In den WG-Zimmern bilden die Platten eine Nische, die als Pinnwand dienen kann und zugleich schallreduzierend wirkt. Die Architekten wollten mit diesen Rückzugsnischen einen Ausgleich zu den vielfältigen Gemeinschaftsflächen bieten. Drei Wohngemeinschaften teilen sich eine Gemeinschaftsküche. Hier spielt sich das WG-Leben ab und hier kann es auch mal eng werden – physisch wie auch psychisch. Die Gemeinschaftsküchen verfügen deshalb über drei Zutrittsmöglichkeiten. Alexander Hagner skizziert hier das Bild eines Kochtopfs: Es ist wichtig, dass der Druck entweichen kann. Mit den drei Ein-/Ausgängen steht ein Druckventil zur Verfügung.
Der Architekt Alexander Hagner von gaupenraub +/- hat in seiner Funktion als Mitglied im Verein Vinzenzgemeinschaft St.Stefan in der Vergangenheit wertvolle Erfahrungen gesammelt, wie Räume gestaltet sein müssen, damit sie das Zusammenleben fördern und im Konfliktfall deeskalierend wirken. Erschließungswege sowie Ein- und Ausgänge übernehmen hierbei eine Schlüsselfunktion. Die Wohngemeinschaften werden über einen Laubengang erschlossen. Die Erschließung im Freien spart einerseits wertvolle Nutzfläche im Inneren des Gebäudes. Andererseits ist die Atmosphäre auf einem Außengang unvergleichlich entspannter, verglichen mit einem finsteren Gang im Gebäude. Die Winkelform des Laubengangs schafft Blickbeziehungen und unterstützt die Kommunikation über mehrere Stockwerke hinweg.
Die großzügige Dachterrasse bietet Platz für Hochbeete, in denen Gemüse angepflanzt wird, sowie für zahlreiche Sitzgelegenheiten. Dieser Freiraum am Dach als Freiheitsgrad und Option bildet ein wichtiges Element im Gesamtkonzept. Direkt an die Dachterrasse angrenzend befindet sich das Dachatelier. Der rundum verglaste Raum bietet auf Grund der vorspringenden Baufluchtlinie einen privilegierten Ausblick auf die Innenstadt. Das Dachatelier kann, ebenso auch der Veranstaltungsraum im Keller, von Externen für Konferenzen, Vorträge, aber auch Geburtstagsfeiern u.v.m. gebucht werden.
Das Haus soll die Schwelle abbauen, die wir in der Großstadt bei Begegnungen mit obdachlosen Menschen erleben. Das Gassenlokal „mittendrin“ erfüllt dabei eine Schlüsselfunktion. Hier arbeiten ehemalige Obdachlose. Raumhohe Verglasungen geben ein Blick auf das Innere frei. Gemütliche Sitznischen laden die Gäste ein, dem Treiben auf der Straße zuzusehen. Für die Gestaltung des Lokals stand äußerst wenig Geld zur Verfügung, denn der Verein finanzierte das Projekt mit Spendengeldern. Aus der finanziellen Not wurde eine sprichwörtliche Tugend: Materialien, die sonst im Müll landen, kommen hier dank unzähliger ehrenamtlich geleisteter Stunden zahlreicher Unterstützer zu neuen Ehren und treffen mit dem „shabby chic“ genau den Zeitgeist. Hunderte Obst- und Gemüsekisten wurden für die Wand- und Deckenverkleidung feinsäuberlich zerlegt und anschließend grafisch ansprechend arrangiert. Kissen, deren Überzüge aus recycleten Kaffeesäcken genäht wurden, Türgriffe, die entlang der Bar als Taschenhaken dienen, die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Vom Lokal gelangt man in den hofseitigen Vereinsgastgarten und zu den hauseigenen Werkstätten (Tischlerwerkstatt, Schneiderwerkstatt, Fahrradwerkstatt). Auch hier kommen gebrauchte Materialien zum Einsatz. Der vermeintlich originale Werkstattboden stammt tatsächlich vom Dachboden. Im Zuge des Dachausbaus wurde diese Ressource „frei“. Die Recyclinglösungen sind nicht nur kostensparend, sondern erzeugen einem sehr stimmigen Gesamteindruck. Oft sieht man erst auf den zweiten Blick, was man tatsächlich sieht, weil die zweckentfremdeten Materialien absolut stimmig in ihrer neuen Aufgabe zum Einsatz kommen.
Der Verein ging mit dem Projekt ein Risiko ein – der Architekt sprach bei der Eröffnung von einem Experiment, denn für das geplante Wohngemeinschaftsprojekt konnte auf keinerlei Erfahrungswerte bereits bestehender Projekte zurückgegriffen werden. Die Recherche im Vorfeld des Projekts zeigte, dass es weltweit noch nichts Vergleichbares gab. Die Architektur hat mit dem wohldurchdachten Projekt die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, dass dieses Experiment glücken kann. (Text: Martina Frühwirth)
Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien
Ansprechpartner:in für diese Seite: Maria Welzig
Akteure
ArchitekturBauherrschaft
Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan
Tragwerksplanung
Fotografie