Bauwerk
Julierturm
Giovanni Netzer - Julierpass (CH) - 2017
Der Turmbau zu Babel
Mitten in den Schweizer Alpen steht ein 30 Meter hoher Theaterturm. Der blutrote Wahnsinnsbau zählt zu den ungewöhnlichsten Projekten der letzten Jahre.
12. August 2017 - Wojciech Czaja
Ich bin der Sieg, ich bin der Sieg, ich bin der Held im Todesritt“, heißt es. „Und dann ging die Sonne hinab, und der Himmel wurde rot wie Blut, und der Himmel verschwand.“ Die zeitgenössische Oper Apocalypse des Schweizer Komponisten Gion Antoni Derungs handelt von Hunger, Krieg und Tod, vom Fall Babylons, vom infernalen Untergang der Welt. Eindringlich prasseln die Noten aufs Trommelfell, sperrig klingen die mal deutschen, mal lateinischen, mal rätoromanischen Worte. „Noli timere! Und die Trümmer der Stadt krachten in sich zusammen.“
Besser hätte man Ort und Oper nicht zusammenbringen können. Schon die Eröffnungspremiere vor einer Woche brachte die Potenziale dieses so unwirklich wirkenden Theaters an das sich langsam zu Ende neigende Tageslicht. Und es ist mitnichten Zufall, dass Text und Zeit fast auf die Minute genau aufeinander abgestimmt waren. Und der Himmel wurde rot wie Blut, nicht nur drüben in Mesopotamien, sondern auch hüben in den Schweizer Bergen, am Julierpass auf 2284 Meter Seehöhe.
Der Postbus kämpft sich mit 30 km/h die Kehren hoch, mit jeder Kurve wird die Luft kühler und die Landschaft karger, und spätestens, als man nach zwanzig Minuten die Baumgrenze passiert, kann man sich kaum noch vorstellen, dass in diesem gottverlassenen Hochland jemals Heidi über Stock und Stein gehüpft sein soll. Sils, Surlej, Silvaplana und das Millionärsstädtchen St. Moritz sind längst hinter den Bergen verschwunden, als am Horizont plötzlich ein ochsenblutroter Turm auftaucht.
Abweisend. Bedrohlich. Geheimnisvoll. Und von so einer ruhigen, minimalistischen Ästhetik gezeichnet, wie sie nur die Schweizer beherrschen. Nicht von ungefähr erinnert das 30 Meter hohe Objekt mit seinen übereinanderliegenden Rundbogenfenstern an den Turmbau zu Babel. Und als wäre das alles nicht schon genug der schauderhaften Mystik, muss man, als man endlich am Tor angekommen ist und kopfüber in den Himmel hochblickt, an den schwarzen Monolithen denken, der dereinst im Kino-Epos 2001: Odyssee im Weltraum den Affen zum Affen machte.
Mit einem Knarren öffnet sich die Tür. Der tiefrote Pinselstrich ist in der Holzoberfläche noch deutlich zu erkennen. Ein wenig braucht das Auge, um sich an die Enge des Innenraums zu gewöhnen. Nach wenigen Sekunden offenbart sich ein zehneckiges Panoptikum mit Nischen und Bogenfenstern hinaus in die Welt. In der Mitte ist ein großes, leeres Nichts, in dem eine kreisrunde Plattform von der Decke hängt. Während der Vorstellungen kann die mobile Bühne mittels Kettenzugs wie ein Lift auf und ab fahren. Die Ähnlichkeit zum elisabethanischen Globe Theatre in London ist nicht von der Hand zu weisen. Bis zu 220 Personen fasst der Saal.
„In jedem anderen Theaterhaus ist man von der Welt abgeschirmt, und zwischen Publikum und Fiktionsraum hängt ein Vorhang, der das Geschehen noch ferner abrückt und noch distanzierter erscheinen lässt“, sagt Giovanni Netzer. „Doch hier verschmelzen Bühne, Kulisse und Landschaft zu einem grenzenlosen Ganzen. Dieser Raum ist alles andere als ein Guckkasten, alles andere als eine Blackbox. Es ist ein Ort, an dem wir üben können, uns den Naturgewalten zu fügen und mit ihnen zu arbeiten.“
Archaische Themen
Netzer ist Intendant des 2005 gegründeten Theaterfestivals Origen. Wie der Name schon sagt, hat man sich zur Aufgabe gemacht, die darstellenden Künste in ihrer Ursprünglichkeit auf die Bühne zu bringen. Gezeigt werden traditionelle Formate aus dem Engadin, regionale Ressourcen aus den Bereichen Oper, Tanz und Theater, aber auch archaische Themen aus der Historie – mit Vorliebe gregorianische Gesänge, Parabeln über die sieben Todsünden, Apokalyptisches aus dem Alten Testament.
„Ich habe Theologie studiert und kann meine Wurzeln nicht leugnen“, sagt der 50-Jährige. „Doch auch ohne diesen Hintergrund wird man hier oben in den Bergen, an diesem so geschichtsträchtigen Julierpass, über den einst die Seidenstraße verlief und an dem heute noch verschiedene Sprach- und Kulturkreise aufeinanderprallen, einer höheren Gewalt gewahr. Hier kann man über das eigene Leben und die Ewigkeit der Steine nachdenken. In den Städten hat man dafür keine Zeit.“
Doch wozu braucht man inmitten dieser wie auch immer gearteten, weltlichen oder geistlichen Gewalten überhaupt Architektur? „Der Julierturm ist weniger ein Haus als vielmehr ein Bühnenbild, das die Funktionen Bühne, Kulisse und Zuschauerraum in sich vereint“, widerspricht der Gesamtkünstler, der in diesem Projekt höchstselbst in die Rolle des Architekten schlüpfte und sich dem Entwurf in hunderten Skizzen und 80 verschiedenen Kartonmodellen näherte. Wie jedes Schaustück ist auch dieses nur ein temporäres. Nach vier Jahren soll der Julierturm, der auf einem bereits bestehenden Parkplatz neben dem Bergsee errichtet wurde und sich als höchstgelegenes Opernhaus Europas rühmt, abgebaut und das Grundstück wieder renaturiert werden.
„Nichts ist ewig. Nicht auf der Bühne. Und schon gar nicht hier oben in den Bergen, wo der Winter brutal hart ist und der Wind mit bis zu 250 km/h über den Pass fegt“, sagt Netzer. „Der Turm wird so unvollendet bleiben wie jener in Babylon. Denn wenn man hier oben Theater macht, dann muss man auch akzeptieren, dass am Ende die Naturgewalten siegen werden.“ Schon bald, hofft der Theatermacher, wird die ochsenblutrote Lasur die erste Patina angelegt haben. Und tatsächlich ist die Konstruktion nicht für die Ewigkeit bestimmt: Der Graubündner Bauingenieur Walter Bieler baute nach den Plänen Netzers eine einschalige Konstruktion aus zwölf Zentimeter dickem Brettschichtholz, die mittels 28.000 Schrauben zusammengehalten wird. Die einzelnen Module wurden mittels Schwertransporter auf den Pass hochgefahren. Die den Himmel und das Gesteinsmassiv reflektierenden Glasscheiben wurden per Autokran an Ort und Stelle eingehängt. Der Rest ist ein Langzeitprovisorium.
Vier Wochen hat die Bauzeit gedauert – von der Fundamentplatte bis zum letzten Scheinwerfer. Ein paar Details wie etwa Aufzug, Heizung und Bühnentechnik werden sich noch bis in den Herbst ziehen. In Summe wird der Julierturm, der sich ausschließlich über Firmensponsoring, Privatspenden und gestiftete Sitzplätze und Fensterlogen finanziert, drei Millionen Schweizer Franken (2,6 Millionen Euro) gekostet haben. „Ego sum alpha et omega, principium et finis“, heißt es am Ende der Apocalypse. Diesen Wahnsinn muss man gesehen haben.
Der Julierturm wird ganzjährig bespielt. Um den Individualverkehr einzudämmen, ist der Besuch der Aufführungen ausschließlich mit Shuttlebus oder öffentlichem Postbusverkehr möglich. Routen ab Chur und St. Moritz. Die Fahrt ist im Eintrittspreis inbegriffen.
Besser hätte man Ort und Oper nicht zusammenbringen können. Schon die Eröffnungspremiere vor einer Woche brachte die Potenziale dieses so unwirklich wirkenden Theaters an das sich langsam zu Ende neigende Tageslicht. Und es ist mitnichten Zufall, dass Text und Zeit fast auf die Minute genau aufeinander abgestimmt waren. Und der Himmel wurde rot wie Blut, nicht nur drüben in Mesopotamien, sondern auch hüben in den Schweizer Bergen, am Julierpass auf 2284 Meter Seehöhe.
Der Postbus kämpft sich mit 30 km/h die Kehren hoch, mit jeder Kurve wird die Luft kühler und die Landschaft karger, und spätestens, als man nach zwanzig Minuten die Baumgrenze passiert, kann man sich kaum noch vorstellen, dass in diesem gottverlassenen Hochland jemals Heidi über Stock und Stein gehüpft sein soll. Sils, Surlej, Silvaplana und das Millionärsstädtchen St. Moritz sind längst hinter den Bergen verschwunden, als am Horizont plötzlich ein ochsenblutroter Turm auftaucht.
Abweisend. Bedrohlich. Geheimnisvoll. Und von so einer ruhigen, minimalistischen Ästhetik gezeichnet, wie sie nur die Schweizer beherrschen. Nicht von ungefähr erinnert das 30 Meter hohe Objekt mit seinen übereinanderliegenden Rundbogenfenstern an den Turmbau zu Babel. Und als wäre das alles nicht schon genug der schauderhaften Mystik, muss man, als man endlich am Tor angekommen ist und kopfüber in den Himmel hochblickt, an den schwarzen Monolithen denken, der dereinst im Kino-Epos 2001: Odyssee im Weltraum den Affen zum Affen machte.
Mit einem Knarren öffnet sich die Tür. Der tiefrote Pinselstrich ist in der Holzoberfläche noch deutlich zu erkennen. Ein wenig braucht das Auge, um sich an die Enge des Innenraums zu gewöhnen. Nach wenigen Sekunden offenbart sich ein zehneckiges Panoptikum mit Nischen und Bogenfenstern hinaus in die Welt. In der Mitte ist ein großes, leeres Nichts, in dem eine kreisrunde Plattform von der Decke hängt. Während der Vorstellungen kann die mobile Bühne mittels Kettenzugs wie ein Lift auf und ab fahren. Die Ähnlichkeit zum elisabethanischen Globe Theatre in London ist nicht von der Hand zu weisen. Bis zu 220 Personen fasst der Saal.
„In jedem anderen Theaterhaus ist man von der Welt abgeschirmt, und zwischen Publikum und Fiktionsraum hängt ein Vorhang, der das Geschehen noch ferner abrückt und noch distanzierter erscheinen lässt“, sagt Giovanni Netzer. „Doch hier verschmelzen Bühne, Kulisse und Landschaft zu einem grenzenlosen Ganzen. Dieser Raum ist alles andere als ein Guckkasten, alles andere als eine Blackbox. Es ist ein Ort, an dem wir üben können, uns den Naturgewalten zu fügen und mit ihnen zu arbeiten.“
Archaische Themen
Netzer ist Intendant des 2005 gegründeten Theaterfestivals Origen. Wie der Name schon sagt, hat man sich zur Aufgabe gemacht, die darstellenden Künste in ihrer Ursprünglichkeit auf die Bühne zu bringen. Gezeigt werden traditionelle Formate aus dem Engadin, regionale Ressourcen aus den Bereichen Oper, Tanz und Theater, aber auch archaische Themen aus der Historie – mit Vorliebe gregorianische Gesänge, Parabeln über die sieben Todsünden, Apokalyptisches aus dem Alten Testament.
„Ich habe Theologie studiert und kann meine Wurzeln nicht leugnen“, sagt der 50-Jährige. „Doch auch ohne diesen Hintergrund wird man hier oben in den Bergen, an diesem so geschichtsträchtigen Julierpass, über den einst die Seidenstraße verlief und an dem heute noch verschiedene Sprach- und Kulturkreise aufeinanderprallen, einer höheren Gewalt gewahr. Hier kann man über das eigene Leben und die Ewigkeit der Steine nachdenken. In den Städten hat man dafür keine Zeit.“
Doch wozu braucht man inmitten dieser wie auch immer gearteten, weltlichen oder geistlichen Gewalten überhaupt Architektur? „Der Julierturm ist weniger ein Haus als vielmehr ein Bühnenbild, das die Funktionen Bühne, Kulisse und Zuschauerraum in sich vereint“, widerspricht der Gesamtkünstler, der in diesem Projekt höchstselbst in die Rolle des Architekten schlüpfte und sich dem Entwurf in hunderten Skizzen und 80 verschiedenen Kartonmodellen näherte. Wie jedes Schaustück ist auch dieses nur ein temporäres. Nach vier Jahren soll der Julierturm, der auf einem bereits bestehenden Parkplatz neben dem Bergsee errichtet wurde und sich als höchstgelegenes Opernhaus Europas rühmt, abgebaut und das Grundstück wieder renaturiert werden.
„Nichts ist ewig. Nicht auf der Bühne. Und schon gar nicht hier oben in den Bergen, wo der Winter brutal hart ist und der Wind mit bis zu 250 km/h über den Pass fegt“, sagt Netzer. „Der Turm wird so unvollendet bleiben wie jener in Babylon. Denn wenn man hier oben Theater macht, dann muss man auch akzeptieren, dass am Ende die Naturgewalten siegen werden.“ Schon bald, hofft der Theatermacher, wird die ochsenblutrote Lasur die erste Patina angelegt haben. Und tatsächlich ist die Konstruktion nicht für die Ewigkeit bestimmt: Der Graubündner Bauingenieur Walter Bieler baute nach den Plänen Netzers eine einschalige Konstruktion aus zwölf Zentimeter dickem Brettschichtholz, die mittels 28.000 Schrauben zusammengehalten wird. Die einzelnen Module wurden mittels Schwertransporter auf den Pass hochgefahren. Die den Himmel und das Gesteinsmassiv reflektierenden Glasscheiben wurden per Autokran an Ort und Stelle eingehängt. Der Rest ist ein Langzeitprovisorium.
Vier Wochen hat die Bauzeit gedauert – von der Fundamentplatte bis zum letzten Scheinwerfer. Ein paar Details wie etwa Aufzug, Heizung und Bühnentechnik werden sich noch bis in den Herbst ziehen. In Summe wird der Julierturm, der sich ausschließlich über Firmensponsoring, Privatspenden und gestiftete Sitzplätze und Fensterlogen finanziert, drei Millionen Schweizer Franken (2,6 Millionen Euro) gekostet haben. „Ego sum alpha et omega, principium et finis“, heißt es am Ende der Apocalypse. Diesen Wahnsinn muss man gesehen haben.
Der Julierturm wird ganzjährig bespielt. Um den Individualverkehr einzudämmen, ist der Besuch der Aufführungen ausschließlich mit Shuttlebus oder öffentlichem Postbusverkehr möglich. Routen ab Chur und St. Moritz. Die Fahrt ist im Eintrittspreis inbegriffen.
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