Zeitschrift
dérive 36
Aufwertung
Eine „behutsame Erneuerung und Imagekorrektur“ wünschen der Wiener Planungsstadtrat Rudi Schicker und die Vizebürgermeisterin Renate Brauner dem Wiener Stuwerviertel. Das Stuwerviertel – außerhalb Wiens vermutlich kaum bekannt – spielt eine zentrale Rolle im Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive. Das Thema lautet Aufwertung, und das Stuwerviertel bildet dafür ein ideales Beispiel. Der Schwerpunkt liefert kein breites theoretisches Hintergrundwissen, keine historische Abhandlung und keine internationalen Analysen, diese Arbeit wurde aus dem Blickwinkel der Gentrification bereits von dérive Heft 4 geleistet. Aufwertung wirft vielmehr einen sehr genauen Blick auf ein Viertel im Umbruch.
Das Stuwerviertel ist Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks, der Leopoldstadt. Die Gegend war vor der Donauregulierung eine Aulandschaft. Die Weltausstellung von 1873 löste einen Bauboom aus, der in den folgenden Jahrzehnten zur Entwicklung des Viertels führte. Die rund 20.000 EinwohnerInnen verfügen im Durchschnitt über weniger Einkommen und haben eine schlechtere Ausbildung als andere WienerInnen. Das Besondere am Stuwerviertel ist seine Abgeschlossenheit. Vielleicht hat diese Insellage dazu beigetragen, dass viele BewohnerInnen ihrem Grätzel stark verbunden sind und auch NeuzuzüglerInnen von einer besonderen Atmosphäre schwärmen. Sieht man sich die Entwicklung ähnlicher Viertel in anderen Städten an, müsste man davon ausgehen, dass dem Stuwerviertel eine Gentrifizierung sondergleichen bevorsteht. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie U2 ist der Anschluss an hochrangige öffentliche Verkehrsmittel noch besser, als er ohnehin schon war. Die Mieten sind (noch?) relativ günstig, die Zahl der KünstlerInnenateliers steigt kontinuierlich, Dachböden werden ausgebaut, Hunderte neue Wohnungen sind in Bau, die Wirtschaftsuniversität wird in einigen Jahren in unmittelbarer Nähe ihre Pforten öffnen, eine große Zahl neuer Arbeitsplätze entsteht im Umkreis, und angeblich bieten Cafés bereits Latte Macchiato an. Ein untrügliches Zeichen, dass neue Zeiten anbrechen. Ob es zu einer „behutsamen“ Entwicklung kommen wird, wie die zuständigen PolitikerInnen ankündigen, oder zu einer Vertreibung der einkommensschwachen BewohnerInnen sowie zu einer Zerstörung der charakteristischen Atmosphäre, wie KritikerInnen befürchten, werden die nächsten Jahre zeigen.
Roman Seidl zeichnet in seinem Einleitungsartikel Unter Druck? ein sehr genaues Bild der aktuellen Lage und der Entwicklung der letzten Jahre. Hannes Guschelbauer und Erwin Fleger, zwei Vertreter der für das Stuwerviertel zuständigen Gebietsbetreuung Stadterneuerung, einer von der Stadt Wien beauftragten Einrichtung, geben im Interview Auskunft u.a. über die Sanierungstätigkeit und ihre Möglichkeiten, Verdrängung zu verhindern. Betül Bretschneider hat sich das Beteiligungsverfahren für die Neugestaltung des Max-Winter-Parks im Detail angesehen und berichtet in ihrem Artikel Stalking Max-Winter-Platz über die Schwierigkeiten einer Kommunikation auf Augenhöhe. In seinem zweiten Beitrag stellt Roman Seidl Projekte vor, die im und um das Stuwerviertel jetzt und in Zukunft entstehen werden. Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit Eva van Rahden, der Geschäftsführerin von Sophie, einer Beratungsstelle für Prostituierte. Sie berichtet über die spezielle Situation der Sexarbeit im Stuwerviertel, die störenden Begleiterscheinungen der Prostitution und die Rechtslage für Prostituierte in Wien. Zum Thema Prostitution siehe auch Manfred Russo neue Folge der Geschichte der Urbanität.
Als künstlerischer Beitrag zum Schwerpunkt sind sowohl am Cover als auch im Schwerpunktteil Fotos der Aktion Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän! von Marlene Haring zu sehen. Bei der 2005 durchgeführten Aktion kroch Haring als Ganzkörperblondine auf allen vieren durch Prater und Ausstellungsstraße (Coverbild) ins Stuwerviertel, vorbei an Sexshops (und einigen vorbereiteten Interventionen im Straßenraum) und verfolgt von einer mit Fotoapparaten und Videokameras ausgestatteten Menschenmenge. Das Ende der Aktion ist auf der Rückseite von dérive zu betrachten. Weitere Fotos und Informationen zur Aktion finden sich auf www.marleneharing.com.
Den Magazinteil leitet Katharina Kirsch-Soriano da Silva mit einem Artikel über die von BewohnerInnen durchgeführten Um- und Ausbauten in Siedlungen in Recife (Brasilien) ein. Erik Meinharter stellt das Projekt unORTnung vor und Thomas Ballhausen sprach mit dem Künstler Michael Goldgruber „über das Verschwinden der Wildnis, die andauernde künstlerische Auseinandersetzung mit einem reglementierenden Blickregime und das Spannungsverhältnis von Aussicht und Aufsicht.“
Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer
Inhalt
Editorial
Christoph Laimer
Schwerpunkt: Aufwertung
Unter Druck? Vom angeblich sanften Ende der „Insel auf der Insel“
Roman Seidl
Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän, 2005
Marlene Haring
Ungewisse Zukunft eines Stadtteils. Das Stuwerviertel im Aufwertungssog
Christoph Laimer im Gespräch mit Erwin Fleger und Hannes Guschelbauer
Stalking Max-Winter-Platz. Kommunikation auf Augenhöhe, ein Versuch
Betül Bretschneider
Zielgebiete des Wiener Stadtentwicklungsplans
Roman Seidl
Sexarbeit im Stuwerviertel. Prostitution im Zeichen der Imagekorrektur
Christoph Laimer im Gespräch mit Eva van Rahden
KünstlerInnenseite
Willi Tobler trägt das Gedicht To the Lost Space Age vor; im Anschluss daran Diskussion mit dérive-LeserInnen, wie die Zeitschrift wohl aussehen würde, wenn es heute tatsächlich jene Weltraumkolonien gäbe, die vor 30 Jahren für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geplant waren
Ralo Mayer
Magazin
Evolving by doing! Mutationen von Großsiedlungen in Recife/Brasilien
Katharina Kirsch-Soriano da Silva
Die Ordnung der unORTnung. Wie viel unORTnung braucht die Stadt?
Erik Meinharter
Die Kunst der neuen Perspektive
Thomas Ballhausen im Gespräch mit Michael Goldgruber
Serie
Geschichte der Urbanität, Teil 27 - Moderne IV: Der neue Eros des öffentlichen Raumes
Manfred Russo
Besprechungen
Die Mobilmachung des Flaneurs
Manfred Russo über die Ausstellung Big City – New York Street Photography im Wien Museum
Hafenstadt, herausgeputzt
Daniel Kalt über Port Cities as Areas of Transition herausgegeben von Waltraud Kokot et al.
Typisch: Vorurteile
Susanne Karr über die Ausstellung typisch! Klischees von Juden und Anderen im Jüdischen Museum Wien
Linz, rebellisch
Elke Rauth über RebellInnen! Geschichten erfahren mit dem Omnibus im Rahmen von Linz 09
Fifty Fifty – „Ein Museum“
Paul Rajakovics über die Ausstellung Fifty Fifty – Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren im Wien Museum
Scheinriese Kulturwirtschaft
Bernd Hüttner über Kulturwirtschaft und Kreative Stadt herausgegeben vom Institut für Kulturpolitik
Raum ist nicht gleich Raum
Erik Meinharter über Raumwissenschaften herausgegeben von Stephan Günzel
Pop Goes The World
Thomas Ballhausen über Könnte Köln sein von Andreas Neumeister
Regionalisierung und Regionalwissenschaft
Christa Kamleithner über Kritische Regionalwissenschaft – Gesellschaft, Politik, Raum herausgeben von Wolfgang Krumbein et al.
Das ABC der Stadt
Elke Rauth über Stadtalphabet Wien von Martin Ulrich Kehrer und das Buchstabenmuseum Berlin
Momentaufnahmen aus dem iranischen Alltag
Christoph Laimer über Iran, a Winter Journey herausgegeben von Nariman Mansouri und Stephan Schwarz
Das Stuwerviertel ist Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks, der Leopoldstadt. Die Gegend war vor der Donauregulierung eine Aulandschaft. Die Weltausstellung von 1873 löste einen Bauboom aus, der in den folgenden Jahrzehnten zur Entwicklung des Viertels führte. Die rund 20.000 EinwohnerInnen verfügen im Durchschnitt über weniger Einkommen und haben eine schlechtere Ausbildung als andere WienerInnen. Das Besondere am Stuwerviertel ist seine Abgeschlossenheit. Vielleicht hat diese Insellage dazu beigetragen, dass viele BewohnerInnen ihrem Grätzel stark verbunden sind und auch NeuzuzüglerInnen von einer besonderen Atmosphäre schwärmen. Sieht man sich die Entwicklung ähnlicher Viertel in anderen Städten an, müsste man davon ausgehen, dass dem Stuwerviertel eine Gentrifizierung sondergleichen bevorsteht. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie U2 ist der Anschluss an hochrangige öffentliche Verkehrsmittel noch besser, als er ohnehin schon war. Die Mieten sind (noch?) relativ günstig, die Zahl der KünstlerInnenateliers steigt kontinuierlich, Dachböden werden ausgebaut, Hunderte neue Wohnungen sind in Bau, die Wirtschaftsuniversität wird in einigen Jahren in unmittelbarer Nähe ihre Pforten öffnen, eine große Zahl neuer Arbeitsplätze entsteht im Umkreis, und angeblich bieten Cafés bereits Latte Macchiato an. Ein untrügliches Zeichen, dass neue Zeiten anbrechen. Ob es zu einer „behutsamen“ Entwicklung kommen wird, wie die zuständigen PolitikerInnen ankündigen, oder zu einer Vertreibung der einkommensschwachen BewohnerInnen sowie zu einer Zerstörung der charakteristischen Atmosphäre, wie KritikerInnen befürchten, werden die nächsten Jahre zeigen.
Roman Seidl zeichnet in seinem Einleitungsartikel Unter Druck? ein sehr genaues Bild der aktuellen Lage und der Entwicklung der letzten Jahre. Hannes Guschelbauer und Erwin Fleger, zwei Vertreter der für das Stuwerviertel zuständigen Gebietsbetreuung Stadterneuerung, einer von der Stadt Wien beauftragten Einrichtung, geben im Interview Auskunft u.a. über die Sanierungstätigkeit und ihre Möglichkeiten, Verdrängung zu verhindern. Betül Bretschneider hat sich das Beteiligungsverfahren für die Neugestaltung des Max-Winter-Parks im Detail angesehen und berichtet in ihrem Artikel Stalking Max-Winter-Platz über die Schwierigkeiten einer Kommunikation auf Augenhöhe. In seinem zweiten Beitrag stellt Roman Seidl Projekte vor, die im und um das Stuwerviertel jetzt und in Zukunft entstehen werden. Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit Eva van Rahden, der Geschäftsführerin von Sophie, einer Beratungsstelle für Prostituierte. Sie berichtet über die spezielle Situation der Sexarbeit im Stuwerviertel, die störenden Begleiterscheinungen der Prostitution und die Rechtslage für Prostituierte in Wien. Zum Thema Prostitution siehe auch Manfred Russo neue Folge der Geschichte der Urbanität.
Als künstlerischer Beitrag zum Schwerpunkt sind sowohl am Cover als auch im Schwerpunktteil Fotos der Aktion Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän! von Marlene Haring zu sehen. Bei der 2005 durchgeführten Aktion kroch Haring als Ganzkörperblondine auf allen vieren durch Prater und Ausstellungsstraße (Coverbild) ins Stuwerviertel, vorbei an Sexshops (und einigen vorbereiteten Interventionen im Straßenraum) und verfolgt von einer mit Fotoapparaten und Videokameras ausgestatteten Menschenmenge. Das Ende der Aktion ist auf der Rückseite von dérive zu betrachten. Weitere Fotos und Informationen zur Aktion finden sich auf www.marleneharing.com.
Den Magazinteil leitet Katharina Kirsch-Soriano da Silva mit einem Artikel über die von BewohnerInnen durchgeführten Um- und Ausbauten in Siedlungen in Recife (Brasilien) ein. Erik Meinharter stellt das Projekt unORTnung vor und Thomas Ballhausen sprach mit dem Künstler Michael Goldgruber „über das Verschwinden der Wildnis, die andauernde künstlerische Auseinandersetzung mit einem reglementierenden Blickregime und das Spannungsverhältnis von Aussicht und Aufsicht.“
Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer
Inhalt
Editorial
Christoph Laimer
Schwerpunkt: Aufwertung
Unter Druck? Vom angeblich sanften Ende der „Insel auf der Insel“
Roman Seidl
Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän, 2005
Marlene Haring
Ungewisse Zukunft eines Stadtteils. Das Stuwerviertel im Aufwertungssog
Christoph Laimer im Gespräch mit Erwin Fleger und Hannes Guschelbauer
Stalking Max-Winter-Platz. Kommunikation auf Augenhöhe, ein Versuch
Betül Bretschneider
Zielgebiete des Wiener Stadtentwicklungsplans
Roman Seidl
Sexarbeit im Stuwerviertel. Prostitution im Zeichen der Imagekorrektur
Christoph Laimer im Gespräch mit Eva van Rahden
KünstlerInnenseite
Willi Tobler trägt das Gedicht To the Lost Space Age vor; im Anschluss daran Diskussion mit dérive-LeserInnen, wie die Zeitschrift wohl aussehen würde, wenn es heute tatsächlich jene Weltraumkolonien gäbe, die vor 30 Jahren für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geplant waren
Ralo Mayer
Magazin
Evolving by doing! Mutationen von Großsiedlungen in Recife/Brasilien
Katharina Kirsch-Soriano da Silva
Die Ordnung der unORTnung. Wie viel unORTnung braucht die Stadt?
Erik Meinharter
Die Kunst der neuen Perspektive
Thomas Ballhausen im Gespräch mit Michael Goldgruber
Serie
Geschichte der Urbanität, Teil 27 - Moderne IV: Der neue Eros des öffentlichen Raumes
Manfred Russo
Besprechungen
Die Mobilmachung des Flaneurs
Manfred Russo über die Ausstellung Big City – New York Street Photography im Wien Museum
Hafenstadt, herausgeputzt
Daniel Kalt über Port Cities as Areas of Transition herausgegeben von Waltraud Kokot et al.
Typisch: Vorurteile
Susanne Karr über die Ausstellung typisch! Klischees von Juden und Anderen im Jüdischen Museum Wien
Linz, rebellisch
Elke Rauth über RebellInnen! Geschichten erfahren mit dem Omnibus im Rahmen von Linz 09
Fifty Fifty – „Ein Museum“
Paul Rajakovics über die Ausstellung Fifty Fifty – Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren im Wien Museum
Scheinriese Kulturwirtschaft
Bernd Hüttner über Kulturwirtschaft und Kreative Stadt herausgegeben vom Institut für Kulturpolitik
Raum ist nicht gleich Raum
Erik Meinharter über Raumwissenschaften herausgegeben von Stephan Günzel
Pop Goes The World
Thomas Ballhausen über Könnte Köln sein von Andreas Neumeister
Regionalisierung und Regionalwissenschaft
Christa Kamleithner über Kritische Regionalwissenschaft – Gesellschaft, Politik, Raum herausgeben von Wolfgang Krumbein et al.
Das ABC der Stadt
Elke Rauth über Stadtalphabet Wien von Martin Ulrich Kehrer und das Buchstabenmuseum Berlin
Momentaufnahmen aus dem iranischen Alltag
Christoph Laimer über Iran, a Winter Journey herausgegeben von Nariman Mansouri und Stephan Schwarz
Weiterführende Links:
dérive - Verein für Stadtforschung
Artikel