Zeitschrift

Metamorphose 05/10
Höher wohnen
Metamorphose 05/10
zur Zeitschrift: Metamorphose
Fokus: Höher wohnen

„Hochhäuser müssen sowohl in sozialer als auch in architektonischer Hinsicht als eine beachtlich gefährlichere Form des Bauens betrachtet werden, als Einfamilienhäuser oder niedrige Apartmenthäuser.“ (Alvar Aalto [1])

Einst Inbegriff modernen Wohnens, später Symbol eines gescheiterten Konzepts: das Hochhaus. Warum werden in Europa heute kaum noch Wohntürme errichtet? Sollten sie inzwischen nicht wieder mit anderen Augen betrachtet werden? Wie lassen sich bestehende Hochhäuser an heutige Bedürfnisse anpassen? Welches Potential steckt in diesem Bautyp?

Das Leben im Hochhaus gehört nicht zu den beliebtesten Wohnformen. Wer es sich leisten kann, zieht in der Regel in andere Gebäudetypen. Anonymität und Kinderfeindlichkeit etwa werden häufig mit dem Hochhaus assoziiert, aber auch anspruchslose Architektur. Denn da die meisten Wohntürme aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammen, aus der Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalismus, dessen Resultate gemeinhin besonders wenig geschätzt werden, bleibt ein wenig von der Ablehnung, die der Formensprache jener Jahre gilt, auch am Typus des Wohnhochhauses hängen.

Zu den Menschen, die dem Wohnturm skeptisch gegenüberstehen, zählte schon Alvar Aalto, obwohl er selbst zwei vielbeachtete Punkthochhäuser errichtet hat: im Bremer Stadtteil Neue Vahr und im Berliner Hansaviertel. Er verwies jedoch darauf, dass die Planung solcher Bauten eine ganz besondere Sorgfalt erfordere: „Ein schlecht geplantes Privathaus oder ein weniger erfolgreich geplanter bescheidener niedriger Wohnblock stört ein Wohngebiet weniger als eine schlecht geplante und konstruierte Gruppe von Hochhäusern.“ [1]

Nicht nur die soziale und architektonische Dimension dieses Gebäudetyps ist heikel, sondern auch die städtebauliche. Der Wohnturm braucht die Nähe zur Innenstadt, nur wo schon eine gewisse Dichte herrscht, ist es sinnvoll, noch dichter, also höher, zu bauen. Das Gros aller Hochhäuser steht jedoch am Stadtrand, viele sogar auf dem flachen Land. Das Konzept der Siebzigerjahre, mit einem hohen Haus eine vergrößerte Grünfläche freizuhalten und damit eine städtische Parklandschaft zu erzeugen, ging in den seltensten Fällen auf. Weder erhielt man eine wirklich lebendig-urbane Qualität, noch funktioniert das Abstandsgrün zwischen den Häusern tatsächlich als öffentlicher Freiraum für alle Bürger. Es entstand weder Stadt noch Park. In Vororten bringen Hochhäuser kaum Vorteile, weil sich dort mit niedrigeren Gebäuden meist höhere Wohnqualitäten erzeugen lassen. Das Bauen in die Höhe ist nur dort sinnfällig, wo ein Bauen in die Breite nicht möglich ist.

All dies trägt dazu bei, dass hierzulande kaum noch Hochhäuser zum Wohnen errichtet werden. Jedoch sind uns die vielen „Wohnscheiben“ und „städtebaulichen Dominanten“ der Vergangenheit erhalten und verlangen danach, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gilt es dabei nur, mit dem Wissen von Heute den Defiziten von Gestern zu begegnen? Oder halten diese Bauten auch Antworten auf die Fragen unserer Zeit bereit?

Ich meine, sie bieten einige Chancen. Etwa, wenn man sie durch die ökologische Brille betrachtet: Kaum ein anderer Gebäudetyp bietet bessere Voraussetzungen, sich in ein Vorbild an Sparsamkeit zu verwandeln. Ihr günstiges A/V-Verhältnis sorgt bei gleicher Bauweise für einen niedrigeren Heizbedarf als bei anderen Wohnbautypen, zudem macht ihre kompakte Form eine energetische Sanierung der Gebäudehülle besonders wirtschaftlich. Durch ihre Höhe und ihre exponierte Stellung eignen sich die Fassadenflächen außerordentlich gut zur Solarenergienutzung. Und natürlich ist die hohe Bewohnerdichte von Turmhäusern nicht ohne Einfluss auf die Stadt und trägt etwa dazu bei, den ÖPNV rentabel betreiben zu können, unterstützt also einen möglichen Verzicht auf das eigene Fahrzeug.

Der Wohnturm ist auch von Vorteil in einer alternden Gesellschaft. Wer nicht mehr Autofahren kann, ist für ein engmaschiges Bus- und Bahnnetz dankbar, das sich in Hochhaussiedlungen nun einmal eher rentiert als in Einfamilienhaus-Gebieten. Auch die Nahversorgung mit Ärzten und Geschäften des täglichen Bedarfs, die für ältere Menschen wichtiger wird, funktioniert nur ab einer bestimmten Bewohnerdichte. Und nicht zuletzt erspart der im Hochhaus notwendig vorhandene Aufzug Senioren das mühsame Treppensteigen, sodass der Wohnturm für diesen wachsenden Teil der Bevölkerung an Attraktivität gewinnen dürfte.

Neben all den bekannten Problemen, die Hochhäuser in der Vergangenheit bereitet haben, bergen sie doch auch ein Potenzial, das es zu nutzen gilt. Unter den geänderten Vorzeichen unserer Zeit könnten sie auf der Beliebtheitsskala der unterschiedlichen Wohnformen ein gutes Stück nach oben klettern.

Christian Schönwetter


Anmerkungen:
[01] Dörte Kuhlmann: Mensch und Natur. Alvar Aalto in Deutschland. Weimar 1999, S. 31

Bestandsaufnahme
06-11 | Wunde geschlossen: Wiederaufbau am Museum für Naturkunde in Berlin
12-17 | Projekte
18 | Bücher
19 | Termine

20-21 | Höher Wohnen
22-25 | Von Menschen in Türmen: Soziologische Aspekte des Wohnens im Hochhaus
26-27 | Der Architekt als Psychologe: Mieterbetreuung während eines Umbaus
28-31 | 01 Ausgeklügelter Ansatz: Wohnhochhaus „Weberstraße“ in Winterthur (CH)
32-37 | 02 Errötet: Studentenwohnheim „Wundtstraße“ in Dresden
38-41 | 03 Kosmetik für eine Ikone: „Unité d’Habitation“ in Marseille
42-45 | 04 Ein Bett im Kornsilo: Wohnhochhaus „Siloetten“ in Løgten (DK)

Technik und Trend
46-49 | Achtzig Prozent Heizkosten sparen: Weltweit erster Passivhaus-Wohnturm im Bestand
50-51 | Sitzen statt stürzen: Statik und Konstruktion bei der Balkonsanierung
52-54 | Fragiler Freisitz: Denkmalgerechte Balkoninstandsetzung
55-57 | Barrieren abbauen: Zentrale Herausforderung für die Wohnungswirtschaft

Produkte
58-59 | Trockenbau
60-61 | Bauchemie
62-63 | Neuheiten

Rubriken
64-65 | Verkannte Perlen – Nagespuren am Beton: Die Kampfsportanlage „Tokyo Budokan“ ist angezählt
66 | Vorschau
66 | Impressum
66 | Bildnachweis

teilen auf

Weiterführende Links:
Konradin Medien GmbH

Tools: