Zeitschrift
dérive 75
Sampler
In Österreich stieg die Zahl der zwischen Unternehmen und ihren KundInnen verschickten Pakete von 2016 auf 2017 um 27,3 Prozent auf über 100 Millionen. Bei etwa 40 Prozent davon handelt es sich um Retouren. Gleichzeitig verschwinden große, traditionelle Logistikareale aus den Städten, weil sie sich, einst an den Rändern gelegen, mittlerweile auf teuren zentralen Grundstücken befinden. Der Effekt: Weniger große LKWs, die in die Zentren fahren, dafür viel mehr Kleintransporter auf den Straßen.
»Die Ökobilanz dieser Verlagerung fällt eindeutig negativ aus«, schreiben Michael Hieslmair und Michael Zinganel in ihrem Beitrag Der Wiener Nordwestbahnhof – Geschichte eines Logistik-Knotens.
Die ereignisreiche und wechselvolle Geschichte des Nordwestbahnhofs wird dem- nächst zu Ende gehen, weil auf seinem Areal Wohnungen für 15.000 Menschen gebaut werden. Für uns Grund genug, einen Blick zurück zu werfen und seine Geschichte zu erzählen.
Nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Logistik ist eines der Themen in Benjamin Herrs Artikel Alle Macht den Rädern – Fahrradkuriere und Plattformen im urbanen Kapitalismus, in dem es auch um Prekarität im Gewerbe der Botendienste sowie Arbeitsrechte und -kämpfeim Zeitalter der Digitalisierung geht. Benjamin Herr war zum selben Thema übrigens auch Gast in der Aprilsendung von Radio dérive, die auf unserer Website – ebenso wie alle anderen Sendungen von Radio dérive – nachgehört werden kann.
Neben Logistik gibt es einen zweiten kleinen Schwerpunkt in dieser Sampler-Ausgabe, der sich mit Widerstand und Protestkultur, Sichtbarkeit und Hegemonie im öffentlichen Raum beschäftigt. Schließlich finden in vielen europäischen Städten seit Monaten regelmäßig Demonstrationen und Proteste statt – von Belgrad und Sarajevo über Berlin, Wien und Budapest bis zu den Gelbwesten in Paris und anderen französischen Städten. Eine der derzeit kontinuierlichsten Protestformen in Wien und anderen österreichischen Städten bilden die sogenannten Donnerstagsdemos: Sie richten sich einerseits gegen die rechts-rechtsextreme österreichische Regierung und sollen andererseits eine Bühne und einen Vernetzungsraum für die Vielfalt an Menschen bieten, die an einer Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse arbeiten. »Fix z’am« lautet der Slogan. Wir haben mit Gabu Heindl und Can Gülcü zwei VertreterInnen des Organisations-Teams zum Interview gebeten.
Was die Proteste in Wien mit jenen in Budapest eint, ist das Streben nach einer demokratischeren Gesellschaft und die Kritik an einer autoritären, antiurbanen Regierung.
In Budapest, zeigt Gabriella Csoszó in ihrem Text für dérive, geht es konkret um ganz bestimmte Plätze, wie etwa den Kossuth-Platz, und um die laufenden Versuche, die Definitionshoheit über sie zu gewinnen. Dieser Kampf wird mit dem Aufstellen und Entfernen von Denkmälern, mit Präsenz, Subversion und Protest ausgetragen.
Gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn gingen Anfang April in Berlin und anderen deutschen Städten Tausende auf die Straßen. Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen macht seit Monaten internationale Schlagzeilen und erhält bei Meinungsumfragen unerwartet großen Rückhalt aus der Bevölkerung. Gleichzeitig erfährt sie immer schrillere Kritik (»DDR-Methoden«) von den ideologischen UnterstützerInnen und ökonomischen ProfiteurInnen des herrschenden Systems, das weder in der Lage, noch gewillt zu sein scheint, Wohnraum zu leistbaren Mieten für die Berliner Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Andrej Holm, aktuell Partner von dérive bei einem Forschungsprojekt über Neues Soziales Wohnen an der TU Wien, hat Daten, Fakten und Argumente rund um die Kampagne und ihr Thema zusammengetragen und dazu einen Artikel für die vorliegende Ausgabe verfasst.
Kritik an den Auswüchsen bzw. mittlerweile leider schon Selbstverständlichkeiten des aktuellen Immobilienmarkts formuliert auch Anita Aigner: Sie hat sich das Konzept der Vorsorgewohnungen im Detail angesehen, das Wohnen tatsächlich nur mehr als Ware und Anlageprodukt sieht und speziell auf KleininvestorInnen zugeschnitten ist.
Die Brücke zum Interview mit den drei StadtforscherInnen Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu über Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei gelingt noch einmal über das Thema Widerstand und Protest. Mahalleler Birliği heißt eine Plattform von Stadtteilinitiativen, die sowohl für die rechtliche Sicherheit in ihren Wohnvierteln ein- treten als auch gegen Projekte der Stadterneuerung ohne Involvierung der BewohnerInnen kämpfen. Dabei geht es auch um die Zerstörung der Altstadt von Diyarbakır im Zuge einer monatelangen Militäraktion im Jahr 2015, was uns zum letzten Beitrag dieses Samplers führt. Die Soziologin und Kriminologin Andrea Kretschmann setzt sich darin mit Urban Warfare auseinander: Sie beforscht artifizielle Städte, die welt- weit von Armeen errichtet werden, um den Krieg in den Städten zu trainieren.
Das Kunstinsert Transport und Transformation stammt von Sonja Gangl, die großformatige, minutiöse Zeichnungen von Abfallprodukten der Konsumgesellschaft erstellt. »Die einzigartige Akribie ihres Bleistiftstriches wird zum Stilmittel, das den Sujets – kontrastierend zum Nichtwert der Objekte – für den Betrachter einen Wert verleiht,« schreibt Paul Rajakovics im Text zum Insert.
Ein Hinweis zum Abschluss: Das Frühjahrsprogramm der Reihe Stadt Streifen von Cinema dérive beschließen wir am 28. April, wie immer um 13 Uhr, im Wiener Filmcasino mit einem brandneuen Dokumentarfilm über die weltweite Wohnungskrise als Preview-Vorstellung: Der bereits bei der Weltpremiere ausgezeichnete Film PUSH von Fredrik Gertten folgt der UN-Sonderberichterstatterin Leilani Farha auf den Spuren der Finanzialisierung der Immobilienmärkte rund um die Welt. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen trifft dabei verzweifelte BewohnerInnen und Nachbarschaftsinitiativen ebenso wie Soziologin Saskia Sassen, Ökonomie-Nobelpreisträger Josef Stiglitz, Mafia-Aufdecker Roberto Saviano oder PAH-Gründerin und Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau. Im Anschluss bitten wir zum Filmgespräch mit Lukas Tockner, Referent für Wohnpolitik der AK Wien.
Die Redaktion
01
Editorial
Christoph Laimer
04—11
Der Wiener Nordwestbahnhof
Michael Hieslmaier, Michael Zinganel
12—16
Es könnten unsere Plätze sein
Gabriella Csoszo
17—25
Wohnraum als Investment
Anita Aigner
26—31
Viele fragten sich: Was tun?
Gabu Heindl, Can Gülcü
Kunstinsert
32—36
Sonja Gangl
Transport und Transformation
37—41
Alle Macht den Rädern
Benjamin Herr
42—46
Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei
Erbatur Cavusoglu, Selin Yazici, Ahmet Yildirim
47—50
Krieg und artifizieller Städtebau
Andrea Kretschmann
51—53
Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung
Andrej Holm
Besprechungen
54—62
Die Normierung der alltäglichen Unmenschlichkeit S. 54
Die österreichische Architektur im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit S. 55
Eloge für einen Nazi S. 56
Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau S. 57 Dichtefrust im land der hohen Berge? S. 59
Die Poesie der Ziegelsteine ist obsolet S. 60
Streetart goes underground S. 58
68
Impressum
»Die Ökobilanz dieser Verlagerung fällt eindeutig negativ aus«, schreiben Michael Hieslmair und Michael Zinganel in ihrem Beitrag Der Wiener Nordwestbahnhof – Geschichte eines Logistik-Knotens.
Die ereignisreiche und wechselvolle Geschichte des Nordwestbahnhofs wird dem- nächst zu Ende gehen, weil auf seinem Areal Wohnungen für 15.000 Menschen gebaut werden. Für uns Grund genug, einen Blick zurück zu werfen und seine Geschichte zu erzählen.
Nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Logistik ist eines der Themen in Benjamin Herrs Artikel Alle Macht den Rädern – Fahrradkuriere und Plattformen im urbanen Kapitalismus, in dem es auch um Prekarität im Gewerbe der Botendienste sowie Arbeitsrechte und -kämpfeim Zeitalter der Digitalisierung geht. Benjamin Herr war zum selben Thema übrigens auch Gast in der Aprilsendung von Radio dérive, die auf unserer Website – ebenso wie alle anderen Sendungen von Radio dérive – nachgehört werden kann.
Neben Logistik gibt es einen zweiten kleinen Schwerpunkt in dieser Sampler-Ausgabe, der sich mit Widerstand und Protestkultur, Sichtbarkeit und Hegemonie im öffentlichen Raum beschäftigt. Schließlich finden in vielen europäischen Städten seit Monaten regelmäßig Demonstrationen und Proteste statt – von Belgrad und Sarajevo über Berlin, Wien und Budapest bis zu den Gelbwesten in Paris und anderen französischen Städten. Eine der derzeit kontinuierlichsten Protestformen in Wien und anderen österreichischen Städten bilden die sogenannten Donnerstagsdemos: Sie richten sich einerseits gegen die rechts-rechtsextreme österreichische Regierung und sollen andererseits eine Bühne und einen Vernetzungsraum für die Vielfalt an Menschen bieten, die an einer Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse arbeiten. »Fix z’am« lautet der Slogan. Wir haben mit Gabu Heindl und Can Gülcü zwei VertreterInnen des Organisations-Teams zum Interview gebeten.
Was die Proteste in Wien mit jenen in Budapest eint, ist das Streben nach einer demokratischeren Gesellschaft und die Kritik an einer autoritären, antiurbanen Regierung.
In Budapest, zeigt Gabriella Csoszó in ihrem Text für dérive, geht es konkret um ganz bestimmte Plätze, wie etwa den Kossuth-Platz, und um die laufenden Versuche, die Definitionshoheit über sie zu gewinnen. Dieser Kampf wird mit dem Aufstellen und Entfernen von Denkmälern, mit Präsenz, Subversion und Protest ausgetragen.
Gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn gingen Anfang April in Berlin und anderen deutschen Städten Tausende auf die Straßen. Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen macht seit Monaten internationale Schlagzeilen und erhält bei Meinungsumfragen unerwartet großen Rückhalt aus der Bevölkerung. Gleichzeitig erfährt sie immer schrillere Kritik (»DDR-Methoden«) von den ideologischen UnterstützerInnen und ökonomischen ProfiteurInnen des herrschenden Systems, das weder in der Lage, noch gewillt zu sein scheint, Wohnraum zu leistbaren Mieten für die Berliner Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Andrej Holm, aktuell Partner von dérive bei einem Forschungsprojekt über Neues Soziales Wohnen an der TU Wien, hat Daten, Fakten und Argumente rund um die Kampagne und ihr Thema zusammengetragen und dazu einen Artikel für die vorliegende Ausgabe verfasst.
Kritik an den Auswüchsen bzw. mittlerweile leider schon Selbstverständlichkeiten des aktuellen Immobilienmarkts formuliert auch Anita Aigner: Sie hat sich das Konzept der Vorsorgewohnungen im Detail angesehen, das Wohnen tatsächlich nur mehr als Ware und Anlageprodukt sieht und speziell auf KleininvestorInnen zugeschnitten ist.
Die Brücke zum Interview mit den drei StadtforscherInnen Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu über Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei gelingt noch einmal über das Thema Widerstand und Protest. Mahalleler Birliği heißt eine Plattform von Stadtteilinitiativen, die sowohl für die rechtliche Sicherheit in ihren Wohnvierteln ein- treten als auch gegen Projekte der Stadterneuerung ohne Involvierung der BewohnerInnen kämpfen. Dabei geht es auch um die Zerstörung der Altstadt von Diyarbakır im Zuge einer monatelangen Militäraktion im Jahr 2015, was uns zum letzten Beitrag dieses Samplers führt. Die Soziologin und Kriminologin Andrea Kretschmann setzt sich darin mit Urban Warfare auseinander: Sie beforscht artifizielle Städte, die welt- weit von Armeen errichtet werden, um den Krieg in den Städten zu trainieren.
Das Kunstinsert Transport und Transformation stammt von Sonja Gangl, die großformatige, minutiöse Zeichnungen von Abfallprodukten der Konsumgesellschaft erstellt. »Die einzigartige Akribie ihres Bleistiftstriches wird zum Stilmittel, das den Sujets – kontrastierend zum Nichtwert der Objekte – für den Betrachter einen Wert verleiht,« schreibt Paul Rajakovics im Text zum Insert.
Ein Hinweis zum Abschluss: Das Frühjahrsprogramm der Reihe Stadt Streifen von Cinema dérive beschließen wir am 28. April, wie immer um 13 Uhr, im Wiener Filmcasino mit einem brandneuen Dokumentarfilm über die weltweite Wohnungskrise als Preview-Vorstellung: Der bereits bei der Weltpremiere ausgezeichnete Film PUSH von Fredrik Gertten folgt der UN-Sonderberichterstatterin Leilani Farha auf den Spuren der Finanzialisierung der Immobilienmärkte rund um die Welt. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen trifft dabei verzweifelte BewohnerInnen und Nachbarschaftsinitiativen ebenso wie Soziologin Saskia Sassen, Ökonomie-Nobelpreisträger Josef Stiglitz, Mafia-Aufdecker Roberto Saviano oder PAH-Gründerin und Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau. Im Anschluss bitten wir zum Filmgespräch mit Lukas Tockner, Referent für Wohnpolitik der AK Wien.
Die Redaktion
01
Editorial
Christoph Laimer
04—11
Der Wiener Nordwestbahnhof
Michael Hieslmaier, Michael Zinganel
12—16
Es könnten unsere Plätze sein
Gabriella Csoszo
17—25
Wohnraum als Investment
Anita Aigner
26—31
Viele fragten sich: Was tun?
Gabu Heindl, Can Gülcü
Kunstinsert
32—36
Sonja Gangl
Transport und Transformation
37—41
Alle Macht den Rädern
Benjamin Herr
42—46
Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei
Erbatur Cavusoglu, Selin Yazici, Ahmet Yildirim
47—50
Krieg und artifizieller Städtebau
Andrea Kretschmann
51—53
Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung
Andrej Holm
Besprechungen
54—62
Die Normierung der alltäglichen Unmenschlichkeit S. 54
Die österreichische Architektur im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit S. 55
Eloge für einen Nazi S. 56
Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau S. 57 Dichtefrust im land der hohen Berge? S. 59
Die Poesie der Ziegelsteine ist obsolet S. 60
Streetart goes underground S. 58
68
Impressum
Weiterführende Links:
dérive - Verein für Stadtforschung
Artikel