Zeitschrift
archithese 6.2006
Zeitgenössische Utopien
Das «Ende der Utopie» ist in den letzten Jahren immer wieder verkündet worden: Im Zuge von Globalisierung und Deregulierung der Märkte sei der architektonische Diskurs des sozialen Fortschritts zum Erliegen gekommen. Damit habe auch die Utopie – die soziale und politische Missstände anprangert, indem sie alternative Lebensformen aufzeigt – ihren Sinn verloren.
In der Tat zeichnen sich die meisten Projekte, die heute mit dem Attribut «utopisch» versehen werden, durch eine bemerkenswerte Zahmheit aus. Viele sind visionär allein in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung zukünftige Technologien voraussetzt: Damit sind sie zwar wie die Utopie ausserhalb der Realität anzusiedeln, aber ihnen fehlt jene subversive Komponente, die utopische Entwürfe seit jeher auszeichnet. Im Gegensatz zur frühen Moderne, die mit baulichen Mitteln für eine bessere Welt kämpfte, oder zur Architektur der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, die soziales Engagement mit bissiger Kritik an den herrschenden Zuständen verband, scheint sich die heutige Architektur in formalen Spielen, Trends und Moden zu erschöpfen.
Dieses Heft untersucht, inwiefern diese pessimistische Einschätzung wirklich stimmt. In ihrem Rückblick auf die Geschichte der architektonischen Utopie zeigt Annett Zinsmeister die inhaltlichen und formalen Vorbilder für manches vermeintlich neue Projekt. Rem Koolhaas betrachtet die Utopien des 20. Jahrhunderts und betont, zwischen Faszination und Abscheu schwankend, deren Verquickung mit totalitaristischen politischen Systemen. Gian Piero Frassinelli, ehemaliges Mitglied von Superstudio, vergleicht die düsteren Utopien der Florentiner Gruppe mit der heutigen Realität, die er als noch viel düsterer einschätzt – und kommt zu dem Schluss, dass jene Utopien kläglich versagt hätten. Philip Ursprung stellt mit Didier Faustino einen jungen Architekten vor, der – anstatt von einer utopischen Welt ausserhalb der modernen Realität zu träumen – die heutige Architektur einer harten Kritik unterzieht. Die Horrorvision Slave City von Joep van Lieshout führt das Streben nach Effizienz und Gewinn ad absurdum.
Und die Utopie? Vielleicht gibt es sie doch. Bei näherem Hinsehen zeichnen sich zwei unterschiedliche Tendenzen ab. Zum einen ist die Utopie bescheidener geworden: Anstatt Tabula rasa für die Errichtung einer neuen Welt machen zu wollen, nimmt sie die Realität als gegeben an und konzentriert sich auf kleine, gezielte Eingriffe – und schafft es paradoxerweise gerade dank diesem Pragmatismus, etwas zu verändern. Ilka und Andreas Ruby haben auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig verschiedene solcher «Pragmatopien» vorgefunden. Ein weiteres Beispiel stellt die Mediathek dar, die UN Studio für das vom Hurrikan Katrina heimgesuchte New Orleans planen, oder auch die Studie von Nigel Coates, der das heutige London als riesiges multikulturelles Experiment begreift.
Zum anderen kann eine «Privatisierung der Utopie» festgestellt werden. Tibor Joanelly erklärt die Utopie der Achtundsechziger, die ein Leben in Freiheit und ein Auskommen ohne Umweltzerstörung suchte, für gescheitert und setzt ihr den heutigen Rückzug des Individuums in private Welten entgegen. Aaron Betsky erläutert anhand aktueller Beispiele, wie sich die utopische Komponente des «home, sweet home» in auf den ersten Blick unscheinbaren Einfamilienhäusern manifestieren kann. Redaktion
02 Editorial
12 Constructing Utopia
Kurze Geschichte der architektonischen Utopie | Annett Zinsmeister
18 Wiederkehrende Bilder
Episoden aus der Geschichte der Utopie
22 Ich habe einen Traum
Rem Koolhaas blickt auf die Utopie zurück | Rem Koolhaas und Gunnar Luetzow
24 Das Samson-Syndrom
Zerstörung als Leitbild unserer Zeit | Gian Piero Frassinelli
28 Arbeitende Körper
Didier Faustino und der wunde Punkt der Architektur | Philip Ursprung
34 Albtraum der Effizienz
Slave City, 2006 | Atelier van Lieshout
38 Utopie und Stadt
(Keine) Visionen an der Architekturbiennale Venedig | Ilka und Andreas Ruby
44 Hilfe durch Architektur
UN Studio: Eine Mediathek für New Orleans | Caroline Bos
48 Escape Espace
Die privatisierte Utopie | Tibor Joanelly
52 American Utopia
Home sweet home, the inhabitable utopia | Aaron Betsky
58 Welcome to Babylon:don
London, a multicultural urban experiment | Nigel Coates
62 Micro Space/Global Time | Thom Mayne
Originalversion
64 La Sindrome de Sanson | Gian Piero Frassinelli
Architektur aktuell
66 Georg Scheel Wetzel
Blindeninstitutsstiftung Regensburg, 2000–2005 | Hubertus Adam
72 Liechti Graf Zumsteg Architekten
Begegnungszentrum Klinik Königsfelden, Windisch | Martino Stierli
76 Beat Rothen: Grafisches Druckzentrum, Sulgen, 2006 | Benjamin Muschg
Rubriken
80 Nekrolog
Gerold Wiederin | Hubertus Adam
82 Ausstellung
O.M. Ungers. Kosmos der Architektur | Ulrich Brinkmann
84 Buchrezensionen
- C. Bernhardt, G. Fehl, G. Kuhn, U. von Petz:
Geschichte der Planung des öffentlichen Raums
- C.-C. Wiegandt: Öffentliche Räume | Robert Kaltenbrunner
86 V. M. Lampugnani, K. Frey, E. Perotti:
Geschichte der Städtebautheorie III | Judit Solt
88 G. Zohlen: Rudolf Fränkel, die Gartenstadt Atlantic und Berlin | Hubertus Adam
92 Neues aus der Industrie
96 Jahresregister
103 Lieferbare Hefte
104 Vorschau und Impressum
In der Tat zeichnen sich die meisten Projekte, die heute mit dem Attribut «utopisch» versehen werden, durch eine bemerkenswerte Zahmheit aus. Viele sind visionär allein in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung zukünftige Technologien voraussetzt: Damit sind sie zwar wie die Utopie ausserhalb der Realität anzusiedeln, aber ihnen fehlt jene subversive Komponente, die utopische Entwürfe seit jeher auszeichnet. Im Gegensatz zur frühen Moderne, die mit baulichen Mitteln für eine bessere Welt kämpfte, oder zur Architektur der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, die soziales Engagement mit bissiger Kritik an den herrschenden Zuständen verband, scheint sich die heutige Architektur in formalen Spielen, Trends und Moden zu erschöpfen.
Dieses Heft untersucht, inwiefern diese pessimistische Einschätzung wirklich stimmt. In ihrem Rückblick auf die Geschichte der architektonischen Utopie zeigt Annett Zinsmeister die inhaltlichen und formalen Vorbilder für manches vermeintlich neue Projekt. Rem Koolhaas betrachtet die Utopien des 20. Jahrhunderts und betont, zwischen Faszination und Abscheu schwankend, deren Verquickung mit totalitaristischen politischen Systemen. Gian Piero Frassinelli, ehemaliges Mitglied von Superstudio, vergleicht die düsteren Utopien der Florentiner Gruppe mit der heutigen Realität, die er als noch viel düsterer einschätzt – und kommt zu dem Schluss, dass jene Utopien kläglich versagt hätten. Philip Ursprung stellt mit Didier Faustino einen jungen Architekten vor, der – anstatt von einer utopischen Welt ausserhalb der modernen Realität zu träumen – die heutige Architektur einer harten Kritik unterzieht. Die Horrorvision Slave City von Joep van Lieshout führt das Streben nach Effizienz und Gewinn ad absurdum.
Und die Utopie? Vielleicht gibt es sie doch. Bei näherem Hinsehen zeichnen sich zwei unterschiedliche Tendenzen ab. Zum einen ist die Utopie bescheidener geworden: Anstatt Tabula rasa für die Errichtung einer neuen Welt machen zu wollen, nimmt sie die Realität als gegeben an und konzentriert sich auf kleine, gezielte Eingriffe – und schafft es paradoxerweise gerade dank diesem Pragmatismus, etwas zu verändern. Ilka und Andreas Ruby haben auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig verschiedene solcher «Pragmatopien» vorgefunden. Ein weiteres Beispiel stellt die Mediathek dar, die UN Studio für das vom Hurrikan Katrina heimgesuchte New Orleans planen, oder auch die Studie von Nigel Coates, der das heutige London als riesiges multikulturelles Experiment begreift.
Zum anderen kann eine «Privatisierung der Utopie» festgestellt werden. Tibor Joanelly erklärt die Utopie der Achtundsechziger, die ein Leben in Freiheit und ein Auskommen ohne Umweltzerstörung suchte, für gescheitert und setzt ihr den heutigen Rückzug des Individuums in private Welten entgegen. Aaron Betsky erläutert anhand aktueller Beispiele, wie sich die utopische Komponente des «home, sweet home» in auf den ersten Blick unscheinbaren Einfamilienhäusern manifestieren kann. Redaktion
02 Editorial
12 Constructing Utopia
Kurze Geschichte der architektonischen Utopie | Annett Zinsmeister
18 Wiederkehrende Bilder
Episoden aus der Geschichte der Utopie
22 Ich habe einen Traum
Rem Koolhaas blickt auf die Utopie zurück | Rem Koolhaas und Gunnar Luetzow
24 Das Samson-Syndrom
Zerstörung als Leitbild unserer Zeit | Gian Piero Frassinelli
28 Arbeitende Körper
Didier Faustino und der wunde Punkt der Architektur | Philip Ursprung
34 Albtraum der Effizienz
Slave City, 2006 | Atelier van Lieshout
38 Utopie und Stadt
(Keine) Visionen an der Architekturbiennale Venedig | Ilka und Andreas Ruby
44 Hilfe durch Architektur
UN Studio: Eine Mediathek für New Orleans | Caroline Bos
48 Escape Espace
Die privatisierte Utopie | Tibor Joanelly
52 American Utopia
Home sweet home, the inhabitable utopia | Aaron Betsky
58 Welcome to Babylon:don
London, a multicultural urban experiment | Nigel Coates
62 Micro Space/Global Time | Thom Mayne
Originalversion
64 La Sindrome de Sanson | Gian Piero Frassinelli
Architektur aktuell
66 Georg Scheel Wetzel
Blindeninstitutsstiftung Regensburg, 2000–2005 | Hubertus Adam
72 Liechti Graf Zumsteg Architekten
Begegnungszentrum Klinik Königsfelden, Windisch | Martino Stierli
76 Beat Rothen: Grafisches Druckzentrum, Sulgen, 2006 | Benjamin Muschg
Rubriken
80 Nekrolog
Gerold Wiederin | Hubertus Adam
82 Ausstellung
O.M. Ungers. Kosmos der Architektur | Ulrich Brinkmann
84 Buchrezensionen
- C. Bernhardt, G. Fehl, G. Kuhn, U. von Petz:
Geschichte der Planung des öffentlichen Raums
- C.-C. Wiegandt: Öffentliche Räume | Robert Kaltenbrunner
86 V. M. Lampugnani, K. Frey, E. Perotti:
Geschichte der Städtebautheorie III | Judit Solt
88 G. Zohlen: Rudolf Fränkel, die Gartenstadt Atlantic und Berlin | Hubertus Adam
92 Neues aus der Industrie
96 Jahresregister
103 Lieferbare Hefte
104 Vorschau und Impressum
Weiterführende Links:
niggli Imprint der Braun Publishing AG