Zeitschrift
archithese 4.2005
Trash
In der USA werden Menschen weisser Hautfarbe, die sich auf den untersten Stufen der sozialen Leiter befinden, zynisch als White Trash bezeichnet. Marylin Manson hat sie besungen, Eminem trotzig verkörpert – und dann hat sich die Mode ihrer bemächtigt. Mittlerweile gibt es für alle, die es sich leisten können, White- Trash-Kochbücher, White-Trash-Sushi (für Speck-Maki nehme man Sushireis, Speck, Gurke, Mayonnaise und Nori), White-Trash-Wrestling mit Stars wie El Ninja, Yeti, Dr. Hercules und Educator, ein Berliner Lokal namens White Trash Fast Food und die belgische Band White Trash European Blues Connection.
Trash ist Trend, auch in der Architektur. Spätestens seit Le Corbusier sind Künstler und Architekten von der tektonischen Wucht anonymer Industriebauten fasziniert; zunehmend entdeckt auch die urbane Partyszene die räumlichen Qualitäten von heruntergekommenen Silos, Bunkern und Tiefgaragen. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Bars im echten oder falschen Stil einer wieder zum Leben erweckten Epoche. Der «gute Geschmack», von der Popkultur erschüttert und in der Postmoderne auf eine harte Probe gestellt, lässt sich in kulturell diversifizierten Gesellschaften ohnehin nicht mehr allgemein gültig definieren. Wer vor einigen Jahren vielleicht noch fürchtete, als Kulturbanause dazustehen, baut sich heute hemmungslos eine Villa nach eigenem Gusto – oder vielmehr nach dem Vorbild leicht konsumierbarer Themenparks, Moden und Fernsehserien. Ob geschäftstüchtige Promoter viel Geld mit billiger Ästhetik verdienen oder ob kritische Architekten ironisch-liebevoll darüber sinnieren, wie es die Londoner Gruppe FAT ( archithese 5.2004) oder die Analogen tun: An Trash kommt man kaum vorbei. Spaziergänge in Disneyland, in DDR-Western-Städten und im Schweizer Hinterland stimmen nachdenklich; die Normbauten grosser Discounter, die häufig sowohl im ökonomischen als auch im ästhetischen Sinn billig sind, ebenfalls.
Nun gibt es aber neben den gut betuchten Bohemiens, die mit Industrieästhetik und trashy style kokettieren, und den naiven Häuslebauern, die sich ehrlich über gefällige Formen freuen, auch jene, für die günstige Wohnbauten eine Überlebensfrage bedeuten. Eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Slums, nicht selten in unbeschreiblich elenden Behausungen, die notdürftig aus Abfall zusammengebastelt sind. Räumliche und soziale Segregation sind die Folge; Abhilfe kann nur in Zusammenarbeit mit den Betroffenen geschaffen werden. Gefragt sind in erster Linie Wirtschaft und Politik, aber auch die Architekten.
Selbst in privilegierten Ländern ist der Bedarf nach Sozialwohnungen ungebrochen: Die Frage nach der Wohnung für das Existenzminimum ist noch lange nicht beantwortet. Besorgte Industrielle des 19. Jahrhunderts, die architektonische Avantgarde der Zwanzigerjahre, der Nationalsozialismus, der real existierende Sozialismus, westliche Sozialstaaten und zahllose engagierte Architekten haben sich des Problems angenommen; heute kommen Fertighausanbieter und Möbelhersteller hinzu, eine Tendenz, die viele als beunruhigend empfinden. Dennoch: Es entstehen immer wieder gelungene Beispiele, die zeigen, dass günstige Bauweise und mangelnde architektonische Qualität nicht unbedingt zusammenfallen müssen. Die soeben fertig gestellte Cité Manifeste in Mulhouse vereinigt gleich fünf Projekte, die trotz Sparzwang grosszügig und phantasievoll gestaltet sind.
Billige Ästhetik, Slums und günstige Bauten in hoher architektonischer Qualität – die schimmernden Facetten des Begriffs Trash sind Thema dieses Heftes. Redaktion
02 Editorial
08 Ästhetisches Heimweh
Rationalisierung und Sentiment in der Architektur
Robert Kaltenbrunner
14 Günstig und gut
Cité Manifeste, Mulhouse, 2001–2005
Judit Solt
18 Agence Jean Nouvel
20 Shigeru Ban / Jean de Gastines
22 Lacaton & Vassal
24 Duncan Lewis / Block
26 Matthieu Poitevin / ART’M Architecture
28 Parzelliertes Paradies
Impressionen aus Florida
30 Stadt Gottes
Die Entstehung von Parallelgesellschaften
Marion Kalmer
32 Slums, urbane Segregation
Zonen der Inklusion und Exklusion
Marc Angélil
38 Liebe Gäste, Grüss Gott
Wirtshaus und Erlebnishof Trofana Tyrol
40 Jenseits von Kitsch: the corporate sublime
Eine Architekturtheorie zu Disneys All-Star-Resort
Dirk Hebel, Dean Simpson
46 Countrytrash und Westernpop
Eine architektonische Reise durch Berlin
Friedrich von Borries, Torsten Fremer
50 Baukunst für alle!
Discounter beglücken den Erdkreis mit Typenbauten
Falk Jaeger
54 Ausflug ins Landesinnere
Betrachtungen über die Peripherie
Tibor Joanelli
TRADUCTIONS
60 Mal du pays esthétique
Rationalisation et sentiment en architecture
Robert Kaltenbrunner
62 Herzog & de Meuron
Allianz Arena, Munich, 2001–2005
Hubertus Adam
RUBRIKEN
Architektur aktuell
66 Herzog & de Meuron
Allianz Arena, München, 2001–2005
Hubertus Adam
72 Peter Eisenman
Holocaust-Denkmal, Berlin, 2003–2005
Judit Solt
78 Bünzli Courvoisier
Siedlung Hagenbuchrain, Zürich, 2000–2005
Hubertus Adam
84 fsai
Ausstellung
85 Jeff Wall im Schaulager Münchenschein
Hubertus Adam
Buchrezension
86 Harald Bodenschatz, Christiane Post:
Städtebau im Schatten Stalins
Robert Kaltenbrunner
89 Schweizer Baudokumentation
92 Neues aus der Industrie
95 Lieferbare Hefte
96 Vorschau
Trash ist Trend, auch in der Architektur. Spätestens seit Le Corbusier sind Künstler und Architekten von der tektonischen Wucht anonymer Industriebauten fasziniert; zunehmend entdeckt auch die urbane Partyszene die räumlichen Qualitäten von heruntergekommenen Silos, Bunkern und Tiefgaragen. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Bars im echten oder falschen Stil einer wieder zum Leben erweckten Epoche. Der «gute Geschmack», von der Popkultur erschüttert und in der Postmoderne auf eine harte Probe gestellt, lässt sich in kulturell diversifizierten Gesellschaften ohnehin nicht mehr allgemein gültig definieren. Wer vor einigen Jahren vielleicht noch fürchtete, als Kulturbanause dazustehen, baut sich heute hemmungslos eine Villa nach eigenem Gusto – oder vielmehr nach dem Vorbild leicht konsumierbarer Themenparks, Moden und Fernsehserien. Ob geschäftstüchtige Promoter viel Geld mit billiger Ästhetik verdienen oder ob kritische Architekten ironisch-liebevoll darüber sinnieren, wie es die Londoner Gruppe FAT ( archithese 5.2004) oder die Analogen tun: An Trash kommt man kaum vorbei. Spaziergänge in Disneyland, in DDR-Western-Städten und im Schweizer Hinterland stimmen nachdenklich; die Normbauten grosser Discounter, die häufig sowohl im ökonomischen als auch im ästhetischen Sinn billig sind, ebenfalls.
Nun gibt es aber neben den gut betuchten Bohemiens, die mit Industrieästhetik und trashy style kokettieren, und den naiven Häuslebauern, die sich ehrlich über gefällige Formen freuen, auch jene, für die günstige Wohnbauten eine Überlebensfrage bedeuten. Eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Slums, nicht selten in unbeschreiblich elenden Behausungen, die notdürftig aus Abfall zusammengebastelt sind. Räumliche und soziale Segregation sind die Folge; Abhilfe kann nur in Zusammenarbeit mit den Betroffenen geschaffen werden. Gefragt sind in erster Linie Wirtschaft und Politik, aber auch die Architekten.
Selbst in privilegierten Ländern ist der Bedarf nach Sozialwohnungen ungebrochen: Die Frage nach der Wohnung für das Existenzminimum ist noch lange nicht beantwortet. Besorgte Industrielle des 19. Jahrhunderts, die architektonische Avantgarde der Zwanzigerjahre, der Nationalsozialismus, der real existierende Sozialismus, westliche Sozialstaaten und zahllose engagierte Architekten haben sich des Problems angenommen; heute kommen Fertighausanbieter und Möbelhersteller hinzu, eine Tendenz, die viele als beunruhigend empfinden. Dennoch: Es entstehen immer wieder gelungene Beispiele, die zeigen, dass günstige Bauweise und mangelnde architektonische Qualität nicht unbedingt zusammenfallen müssen. Die soeben fertig gestellte Cité Manifeste in Mulhouse vereinigt gleich fünf Projekte, die trotz Sparzwang grosszügig und phantasievoll gestaltet sind.
Billige Ästhetik, Slums und günstige Bauten in hoher architektonischer Qualität – die schimmernden Facetten des Begriffs Trash sind Thema dieses Heftes. Redaktion
02 Editorial
08 Ästhetisches Heimweh
Rationalisierung und Sentiment in der Architektur
Robert Kaltenbrunner
14 Günstig und gut
Cité Manifeste, Mulhouse, 2001–2005
Judit Solt
18 Agence Jean Nouvel
20 Shigeru Ban / Jean de Gastines
22 Lacaton & Vassal
24 Duncan Lewis / Block
26 Matthieu Poitevin / ART’M Architecture
28 Parzelliertes Paradies
Impressionen aus Florida
30 Stadt Gottes
Die Entstehung von Parallelgesellschaften
Marion Kalmer
32 Slums, urbane Segregation
Zonen der Inklusion und Exklusion
Marc Angélil
38 Liebe Gäste, Grüss Gott
Wirtshaus und Erlebnishof Trofana Tyrol
40 Jenseits von Kitsch: the corporate sublime
Eine Architekturtheorie zu Disneys All-Star-Resort
Dirk Hebel, Dean Simpson
46 Countrytrash und Westernpop
Eine architektonische Reise durch Berlin
Friedrich von Borries, Torsten Fremer
50 Baukunst für alle!
Discounter beglücken den Erdkreis mit Typenbauten
Falk Jaeger
54 Ausflug ins Landesinnere
Betrachtungen über die Peripherie
Tibor Joanelli
TRADUCTIONS
60 Mal du pays esthétique
Rationalisation et sentiment en architecture
Robert Kaltenbrunner
62 Herzog & de Meuron
Allianz Arena, Munich, 2001–2005
Hubertus Adam
RUBRIKEN
Architektur aktuell
66 Herzog & de Meuron
Allianz Arena, München, 2001–2005
Hubertus Adam
72 Peter Eisenman
Holocaust-Denkmal, Berlin, 2003–2005
Judit Solt
78 Bünzli Courvoisier
Siedlung Hagenbuchrain, Zürich, 2000–2005
Hubertus Adam
84 fsai
Ausstellung
85 Jeff Wall im Schaulager Münchenschein
Hubertus Adam
Buchrezension
86 Harald Bodenschatz, Christiane Post:
Städtebau im Schatten Stalins
Robert Kaltenbrunner
89 Schweizer Baudokumentation
92 Neues aus der Industrie
95 Lieferbare Hefte
96 Vorschau
Weiterführende Links:
niggli Imprint der Braun Publishing AG