Akteur

Meinhard von Gerkan
2022

Der Traum vom Wunderkaktus

In der Nähe von Schanghai baut er eine Stadt für 800.000 Menschen. In China wird er bejubelt, in Europa kritisch beäugt: ein Gespräch mit dem Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan

22. November 2008 - Wojciech Czaja
der Standard: Wie weit ist die Satellitenstadt Lingang?

Meinhard von Gerkan: Der See in der Mitte der Stadt ist schon seit drei Jahren fertig, die Ringstraße ist bereits geschlossen und mittlerweile wurden über zwei Millionen Bäume gepflanzt - keine Strünke, sondern richtige Pflanzen! Wenn man heute nach Lingang kommt, hat man nicht das Gefühl, auf einer Baustelle zu stehen. Ganz im Gegenteil: An den Wochenenden fahren die Bewohner Schanghais nach Lingang und gehen dort spazieren wie in einem Park. Manche mieten sich Fahrräder und drehen eine Runde um den See. Immerhin sind das fast zehn Kilometer.

Wie werden die einzelnen Projekte bzw. Parzellen vergeben?

Von Gerkan: Zu Beginn gab es Bestrebungen, ausländische Investoren zu gewinnen, doch das hat sich mittlerweile geändert. Die Chinesen haben die Erfahrung gemacht, dass die Investoren aus dem Ausland Grundstücke und Immobilien oft nur aus Spekulationsgründen kaufen. Die Folge sind tote und ungenutzte Häuser und Stadtteile. Das soll in Lingang nicht passieren. Die Grundstücke werden daher versteigert. Ausländische Geldgeber von ihren Investitionen abzuhalten ist für einen wachsenden Wirtschaftsmarkt eine sehr ungewöhnliche Vorgangsweise. Ich hoffe, sie wirkt.

Ist Lingang ein Prestigeprojekt?

Von Gerkan: Natürlich ist das ein Prestigeprojekt. Und es ist kein Zufall, dass diese Stadt ist, wo sie ist. Sie dürfen nicht vergessen: Lingang selbst ist ja nichts anderes als das zivile Pendant für die Hafeninsel, die 32 Kilometer offshore vor der Küste liegt. Mit dem Festland ist der Hafen nur über eine Brücke verbunden. Als Normalsterblicher bekommt man ihn allerdings niemals zu Gesicht, denn das Passieren der Brücke ist nur mit einer Bewilligung möglich. Der Hafen von Lingang wird eines Tages der größte der Welt sein.

Das klingt nach Utopie.

Von Gerkan: Spätestens in dem Moment, da etwas gebaut wird, ist es nicht mehr utopisch. Lingang ist eine reale Stadt. Ich höre oft den Vorwurf, dass ich bei Lingang wie ein Schöpfer agiere. Doch wenn ich mir beispielsweise ansehe, was ein Nanophysiker den ganzen Tag treibt, dann komme ich schon eher ins Grübeln. Im Grunde macht auch er nur seine Arbeit - und zwar zugunsten der Menschen.

Haben Sie gelegentlich Skrupel, in einem Land wie China zu bauen? Viele Architekten lehnen eine Zusammenarbeit mit einem derartigen Regime aus Prinzip ab.

Von Gerkan: Nein, ich habe keine Skrupel. Vor allem nicht bei den Inhalten und Aufgaben, die wir dort erfüllen. Die ablehnende Haltung vieler Architekten ist übrigens ein Scheingefecht. Dieses scheinbar edle und löbliche Prinzip ist nichts anderes als eine Rechtfertigung. Was soll man denn sonst antworten, wenn der Journalist sagt: Mensch, alle große Architekten dieser Welt bauen in China, nur du nicht!

Was ist das Reizvolle am Bauen in China?

Von Gerkan: Es gibt in China architektonische und planerische Möglichkeiten, die es bei uns nicht gibt. China ist ein Land der Experimente und der Visionen. Zum anderen gibt es in China aufgrund der Aufbruchstimmung unzählige Bauaufgaben im kulturellen Bereich, mit denen man in Europa heutzutage kaum noch konfrontiert ist. Wie viele Theater, Opern und Bibliotheken werden denn in Europa schon gebaut? Allein in China bauen wir derzeit vier Opernhäuser. Nennen Sie mir einen einzigen Architekten, der so einem Reiz nicht verfällt!

Ein Schlaraffenland also?

Von Gerkan: Nein, das Bauen in China bringt auch viele Nachteile mit sich. Teilweise agieren die Chinesen sehr willkürlich und selbstherrlich. Viele halten sich nicht an Wettbewerbe oder ändern Entwürfe so lange um, bis man sie nicht mehr wiedererkennt. Es tritt oft Grauenvolles zutage.

Bauen Sie in China anders als in Europa?

Von Gerkan: Ein metaphorisches und bildhaftes Konzept mit einer großen Ausdruckskraft und einer starken Identität ist sicherlich kein schlechter Weg, um in China einen Wettbewerb zu gewinnen. In der Auswahl von Entwürfen steht die Form im Vordergrund. Das lässt sich nicht abstreiten. Die Folge ist eine große Dichte an irgendwelchen irrsinnigen Bauwerken - ich nenne sie immer Wunderkakteen. Das ist eine kurzlebige Mode, unter der viele Städte leiden. Auch wir realisieren einige Exemplare dieser bildhaften Architektur. Doch die meisten Projekte von uns zeichnen sich durch Understatement aus. Ich trage meine hanseatische Herkunft mit Stolz - auch im Reich der Mitte.

Thema Ökologie?

Von Gerkan: China ist noch nicht auf dem gleichen ökologischen Level wie andere Länder. Doch ein Umdenken ist bereits im Gange. Es ist uns beispielsweise gelungen, in Guangzhou ein Hochhaus zu bauen, das ich noch nirgendwo sonst auf der Welt gesehen habe. An den sonnenexponierten Fassaden haben wir bewegliche Verschattungselemente vorgesehen. Die Wärmeeinstrahlung und die Belichtungsintensität kann man individuell regeln. Das ist ein Novum im Hochhausbereich.

Ist Nachhaltigkeit ein Imagefaktor?

Von Gerkan: Die wirklich große Bereitschaft, ökologisch zu handeln, ist nur bei jenen Investoren gegeben, die für sich selbst bauen. Die meisten Investoren stellen die Imagewerte anders zur Schau. Meistens sind das golden oder blau verspiegelte Fassaden oder ganz eigentümliche Ornamente an der Spitze des Gebäudes. Ich habe auch schon Pagodendächer gesehen. Aber das ist nicht nur ein chinesisches Phänomen.

Wie viele Projekte haben Sie in China bereits realisiert?

Von Gerkan: Ich weiß nicht genau, wie viele davon schon fertig sind. Aber insgesamt sind es 81 Projekte in ganz China.

In wie vielen Ländern bauen Sie?

Von Gerkan: Keine Ahnung. Ein Dutzend wird's schon sein. Neben China sind das vor allem Vietnam, Südafrika, Indien, Lettland und Polen.

Welchen Jahresumsatz macht gmp?

Von Gerkan: Schätzungsweise zwischen 40 und 50 Millionen Euro.

Welche Rolle spielt die Eitelkeit?

Von Gerkan: Eine große. Es macht keinen Sinn, es zu leugnen. Ja, ich denke, ich bin eitel. Ein Architekt wird von einer gewissen Anerkennung seiner Bauten in der Gesellschaft genährt. Gibt es Menschen, die sich davon nicht beeindrucken lassen?

Am 1. September wurde die Academy for Architectural Culture (AAC) eröffnet. Damit soll ein Spagat zwischen Europa und China gemacht werden. Welche Motivation steckt dahinter?

Von Gerkan: Ich habe diese Akademie gemeinsam mit meinem Partner Volkwin Marg gegründet. Am ersten Lehrgang, der im Oktober zu Ende gegangen ist, haben 16 Asiaten und 16 Deutsche teilgenommen. Tatsache ist: Viele Architekten sind heute sehr schlecht ausgebildet. Wir wollen den Studentinnen und Studenten unsere Erfahrungen und unsere Auffassung vom Bauen im Ausland vermitteln - und zwar mitsamt den damit verbundenen Chancen, Gefahren und Defiziten, mit denen man im Ausland bisweilen konfrontiert ist.

Gibt es einen Abschluss?

Von Gerkan: Wir geben den Studenten am Ende ein Zertifikat, das die erfolgreiche Teilnahme an einem der Workshops der Academy for Architectural Culture bestätigt. In Zukunft ist eine Kooperation mit der neugegründeten HafenCityUniversität in Hamburg (HCU) geplant. Wenn alles klappt, werden wir schon in wenigen Jahren einen vollwertigen Master-Studiengang anbieten können.

Wie wird das Programm finanziert?

Von Gerkan: Wir haben vor zehn Jahren begonnen, zehn Prozent unseres jährlichen Gewinns zu sparen und in eine Stiftung einzuzahlen, die wir eigens zu diesem Zweck gegründet haben. Wir haben jetzt ein Stiftungskapital von rund 10 Millionen Euro. Von den Zinsen, die wir daraus lukrieren, finanzieren wir die Akademie.

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