Akteur
Eine Rede zu seinem fünfzigsten Todestag
Vor genau dreißig Jahren, im Dezember 1979, erschien der erste Vorlesungszyklus von Julius Posener zur modernen Architektur als ARCH Heft Nummer 48. Bis 1983 erschienen insgesamt fünf Ausgaben, die, später als Posener-Schuber zusammengefaßt, Generationen von Architekturstudenten und Architekten das Grundwissen über die Geschichte der modernen Architektur vermittelt haben. Als Referenz an die Anfänge der ARCH Vorlesungsreihe, die mit Bruno Tauts „Architekturlehre“ ihre Fortsetzung findet, sei hier ein kurzer Auszug aus Poseners Rede zum fünfzigsten Todestag von Taut abgedruckt, nicht zuletzt deshalb, weil sich Posener als einer der wenigen Theoretiker mit der „Architekturlehre“ von Taut auseinandergesetzt hat. Manfred Speidel widmet ihr in seinem Nachwort am Ende der Ausgabe eine ausführliche Analyse.
In Rußland war er auf eine Art des Widerstandes gestoßen, welche über seine Vorstellung ging: auf ein Trägheitsmoment, wenn man den Mangel an Organisation mit diesem Worte bezeichnen darf. Es machte ihn buchstäblich wild. Diese Erfahrung hat ihm bestätigt, daß er in einem Lande arbeiten mußte, in dem man beides versteht: die Organisation der Bauaufgabe und die Freiheit dessen, der plant. Ob das Deutschland heute ist, weiß ich nicht. Damals war es Deutschland; weshalb Bruno Taut 1933 gezögert hat, wegzugehen.
Freunde mußten ihn erst darauf aufmerksam machen, daß er im Dritten Reich persona non grata sein würde. Dieses Zögern darf uns nicht wundern: Gropius ist bis in die späten dreißiger Jahre geblieben, Mies desgleichen. Architekten, die in den zwanziger Jahren in Deutschland eine neue Architektur geschaffen hatten, haben sich nicht leicht von Deutschland getrennt. Poelzig ist sozusagen auf gepackten Koffern gestorben. Auch er sollte in die Türkei gehen, aber er konnte sich dazu nicht bringen. Taut ist 1933 fortgegangen. Das ist bemerkenswert, nicht, wie ungern er gegangen ist. Er ging nach Japan. Manfred Speidel[01] hat vor nicht langer Zeit festgestellt, daß er 600 Entwürfe für Möbel und andere Hausgegenstände in Japan gemacht hat. Er hat sie nicht als einer gemacht, der die Resultate eines produktiven Lebens in ein fremdes Land mitbringt; was Bruno Taut in Japan gemacht hat, setzt sich mit Japan auseinander, ist für Japan gedacht. Er hat sich sogleich mit der neuen Architektur in Japan beschäftigt – und mit der japanischen Tradition. Er hat uns darüber nach Paris einen Aufsatz geschickt: „Traditionelle und neue Architektur in Japan“.
Uns, das war die Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui, an der ich damals gearbeitet habe.[02] Sicher hätte er diese neuen Erfahrungen lieber in Deutschland mitgeteilt. Nun schickte er, der Emigrant, sie einem Emigranten, und so blieben sie gewissermaßen in Deutschland; genauer, in der Internationale des emigrierten Deutschland. Japan war ihm eine Bereicherung. Man stelle sich das vor: Bruno Taut hatte ein umfangreiches Werk als Architekt und als Planer geschaffen. Gemeinsam mit seinem Freunde und Landsmann Martin Wagner – beide kamen aus Königsberg –, der seit 1926 Stadtbaurat in Berlin war, des ganzen Berlin, welches erst seit 1920 besteht, hatte Bruno Taut Planung und Bau der großen Siedlungen am Berliner Stadtrand vorangetrieben, mehr als irgendeiner der anderen Architekten, welche an der Planung und am Bau dieser Siedlungen teilgenommen hatten. Das geschah in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. [...] Zur Zeit seiner Emigration war er weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt. Und dann kommt es zu einem Neubeginn in Japan. Das ist nicht das gleiche wie die amerikanische Erfahrung später emigrierter Architekten wie Mies und Gropius; es ist auch nicht das gleiche wie die Versuche jüdischer Architekten in Palästina, sich als Europäer mit einem Lande auseinanderzusetzen, welches sie als das ihre ansehen wollten. Tauts Schicksal und seine Reaktion auf dieses Schicksal stehen allein.
Auch in Japan begegneten dem Architekten, der aus Europa kam, Versuche einer neuen Architektur, welche von der europäischen Moderne beeinflußt waren. Wichtiger war für Taut die Begegnung mit Zeugen einer traditionellen Architektur, einer bis in alle Einzelheiten festgelegten Konstruktion aus Holz, welche er in der kaiserlichen Villa in Katsura für sich entdeckt hat – und für uns –, und in dem Ise-Tempel, der seit alten Zeiten immer wieder in der ursprünglichen Gestalt neu konstruiert wird. Das war nicht eine Architektur, welche der Vergangenheit angehörte; sie lebte weiter, ebenso wie die Form der Tee-Zeremonie und gewisse Formen der Bedienung weiterleben.
Auch konnte man die Elemente von Katsura in den hölzernen Häusern japanischer Dörfer wiederfinden. Bruno Taut kam als ein Lernender. Gleichzeitig hat er versucht, zwischen Katsura und der neuen Architektur in Europa, an deren Entstehen er selbst beteiligt war, Beziehungen herzustellen. In seiner posthum veröffentlichten „Architekturlehre“, von der wir Genaueres später sagen wollen, findet er die Prinzipien der neuen Architektur durch Katsura bestätigt; gleichzeitig prüft er diese Prinzipien an Katsura und erweitert sie, ja, man kann sagen, daß er sie verwandelt hat. Er war Bruno Taut, einer, der in einem neuen Lande die Augen weit offenhielt und bereit war, selbst ein Neuer zu werden. [...]
Für Bruno Taut wurde Katsura ein klassisches Gebäude. Eines jener Gebäude, in denen Architektur sich manifestiert; und es sollte nicht das letzte bleiben, denn er ist ja von Japan nach der Türkei weitergezogen, und dort hat er wieder die Augen weit geöffnet, und die Moscheen des Sinan den Bauten hinzugefügt, in denen Architektur sich manifestiert; besonders die Süleymaniye in Istanbul.
Wieder geht er zu der im Lande eigenen Architektur. Er spricht nur wenig von der Hagia Sophia, der byzantinischen Kirche. Diese war vom Standpunkt der türkischen Architektur eine Vorstufe. Der türkische Raum wird erst durch Sinan verwirklicht, etwa tausend Jahre nach der Hagia Sophia. Man fragt sich, welche Gebäude er diesem Universum hinzugefügt hätte, wäre er weitergewandert. Aber er ist in Istanbul gestorben. Das war seine letzte Erfahrung, aber man kann das beinahe einen Zufall nennen. [...]
Taut hat sich in seinem posthumen Werk, der „Architekturlehre“, über seine Art zu komponieren ausgesprochen. [...]
„Man muß manchmal warten, man muß auch die Kraft zum Warten haben, trotzdem man zur raschen Fertigstellung gedrängt wird. Man muß warten, bis das, was bisher Schema war, beginnt, sich mit Leben zu füllen, bis man aufhört zu denken und tatsächlich nur fühlt.
Alles Ähnliche, was bisher gebaut ist, hat man bis dahin überdacht; jetzt gelangt man dazu, die besonderen neuen Voraussetzungen wie ein neues Leben vor sich zu sehen, es wächst ganz unklar im Gefühl das, was man die „Idee“ nennt. Das Gefühl ist wie ein Filter; es hält nur die Erfahrungen und das Wissen fest, das für diese neue Aufgabe zu gebrauchen ist. Dann beginnt schließlich die Hand zu zeichnen, beinahe automatisch oder bewußtlos. Der Kopf ist ausgeschaltet. Die Hand zeichnet abstrakte Linien auf das Papier, sie teilt die Straßen ein, die Baublöcke, die Häuser; sie gliedert das erste Schema so, daß die Einteilung der ganzen Sache harmonisch wird.“[03] [...]
Die Stelle aus der „Architekturlehre“ [...] bezieht sich [...] auf die Arbeit mit der GEHAG, in deren Büro der Ortsplan „wissenschaftlich“ schlüssig ausgearbeitet worden war. Taut nimmt diese Pläne nach Hause und unterwirft sie der Formung durch das Unbewußte. Er beschreibt in der „Architekturlehre“ auch, wie er auf ähnliche Art mit den Fassadenzeichnungen verfahren ist; daß ein Fenster auch dann noch an der richtigen Stelle sitzt, wenn es ein wenig verschoben wird, nicht, weil der neue Ort „wissenschaftlich“ noch besser wäre.
Die Genauigkeit, die er wissenschaftlich nennt – man könnte sie ebensogut funktional nennen –, genügt ihm nicht, ja, er will sagen, daß sie nicht nur ihm nicht genüge: sie genügt überhaupt nicht. Aus der korrekten Lösung der Gleichung muß etwas anderes gemacht werden, nicht, damit das daraus werde, was man Kunst nennt – oder Architektur –, sondern damit es bewohnbar werde: bewohnbar nicht in dem Sinne, daß die Küche funktioniert, das Wohnzimmer, das Kinderzimmer, die natürliche Beleuchtung etc.: das alles gehört zur Lösung der Gleichung. Wenn alles das funktioniert, meinte Taut, sei das gleichwohl noch nicht bewohnbar; um es bewohnbar zu machen – den Ort und das Haus –, müsse man es in Proportion bringen. Das Kapitel der „Architekturlehre“, in dem Taut von dieser Umwandlung durchs Unbewußte spricht, überschreibt er „Die Proportion“.
Nun ist der Architekt daran gewöhnt, dieses Wort Proportion in einem anderen Sinne zu gebrauchen. Die Männer der Renaissance haben es so gebraucht – und Le Corbusier. Ihnen war Proportion eine Maßbeziehung, sie mag arithmetisch sein wie die Angaben, welche Vitruv uns aus der späten Antike übermittelt hat, oder geometrisch wie das, was Le Corbusier dann „tracés régulateurs“ genannt hat: das ist die geometrische Grundfigur, welcher alle Teile einer architektonischen Komposition sich einzufügen haben. Bruno Taut setzt sich in der „Architekturlehre“ mit dieser Auffassung – und besonders mit Le Corbusier – auseinander. Er spricht davon, daß man solche Maßbeziehungen oder geometrischen Figuren auf die Fläche angewendet habe und stellt fest:
„Das gibt schon äußerst schwierige Entscheidungen, welche Punkte man als Maßteilungen anzusehen hat, ob man vertikale und horizontale Flächen gleich wichtig nehmen soll, ob nicht Wände mit Fenstern und Türen anders zu bewerten sind als glatte Wände, mit denen sie zusammenstoßen. Dann kommt das Licht dazu. Die Verschiedenheit des Materials, auch die Farbe, gibt Wänden, Decken und Fußböden einen sehr verschiedenartigen Charakter.“ Und weiter:
„Alle starren Regeln aber zerbricht das Tageslicht, die Sonne, der bedeckte Himmel, seine verschiedene Qualität je nach den Längen- und Breitengraden eines Ortes; kurz, die Kette der Voraussetzungen für eine systematische Architekturästhetik ist unendlich. Man möge am Parthenon oder gotischen Dom solange [...] studieren, so viel man will. Aber alle Regeln, die man da entdecken wird, werden zusammen etwa wie diejenigen einer Sprache sein, die immerfort durch Ausnahmen unterbrochen werden.“[04]
Diese Bemerkungen sind dem entgegengesetzt, was Le Corbusier über den „Modulor“ gesagt hat; und schon seiner frühen Bemerkung in „Vers une Architecture“, an die ich nur eben erinnern will:
„Il est une chose qui nous ravit, c’est la mesure.“[05]
Und allem, was er dann über das Lösen der Gleichung sagt. All dies, da es in der Fläche bleibt, da es auch die Front des Parthenon, welche keine Fläche ist – und die des gotischen Domes, die es wohl noch weniger ist, auf die Fläche zurückführt, scheint Taut irrelevant. Es ist beinahe eine Trotzhandlung, wenn nun er das Wort Proportion anders gebraucht. Blicken wir noch einmal in die „Architekturlehre“.
Er spricht von den Änderungen, die er in den wissenschaftlich genauen Plänen der GEHAG vorgenommen hat.
„Was im ersten Vorgang gemacht war, nämlich die guten Proportionen des Lageplans, das ist in der Wirklichkeit, wenn die Siedlung gebaut ist, nicht direkt zu sehen. Aber die Leute, die dort wohnen oder da spazieren gehen, fühlen bewußt, daß das Ganze harmonisch geordnet ist.“[06]
Man sieht, wie schwer sich Taut das Leben macht: dieses „fühlen bewußt“ steht hier als eine Abschwächung der allzu bestimmten Behauptung, daß die „Proportionen“ des Lageplans nicht direkt zu sehen seien. So ganz auffällig sind sie schon deshalb nicht, weil sie in Tauts späten Siedlungen (etwa „Onkel Tom“) als Abweichungen von einem im Grunde schematischen Plan in Erscheinung treten. Sie erscheinen allerdings nicht sogleich. Aber die Tatsache, daß sie durchaus sichtbar sind, mag Taut zu jenem merkwürdigen Wort veranlasst haben, daß die Leute „bewußt fühlen“. Aber hören wir ihn weiter: „Der Bau muß zweckmäßig sein, und doch erwartet jeder vom Architekten mehr als die banale Nützlichkeit seiner Bauten. Er erwartet, daß ein Neubau nicht nur benutzbar ist, sondern daß er auch ein besseres und schöneres Leben ermöglicht. In der Praxis bedeutet das, daß der Architekt mit seiner Arbeit für die Proportion bereits beim Programm für einen Neubau zu beginnen hat, ehe er überhaupt zeichnet.“ [...]
Der Ort der möglichen Veränderung, die zur Proportion führt, ist das, was Taut den Spielraum nennt: „Die Realität läßt also immer einen Spielraum offen. Es tut nichts zur Sache, wie groß dieser Spielraum ist. Auf alle Fälle liegt in ihm der eigentliche Punkt, an dem die Proportion ihr Leben beginnt.“[06]
Bruno Taut, der in einer Zeit gewirkt hat, welche von verschiedenen Theorien und Definitionen der Architektur beherrscht war, einer neuen Architektur, hält es am Ende in der „Architekturlehre“ für notwendig, sich mit ihnen allen auseinanderzusetzen. Le Corbusier wird genannt; ebenso könnte Häring genannt werden, welcher die Meinung vertrat, daß die lebendige Form sich aus der genauen Befolgung der Aufgabe „ergebe“, und Gropius, welcher das Heil von einer Industrialisierung des Bauvorganges erwartete und noch andere. Taut hat nachträglich seinen Zugang zur Architektur gegen alle diese Abstraktionen bekräftigt; und er tat es, indem er immer wieder auf die Vielfalt hinwies, welche einem gebauten Gegenstande innewohnt, welcher konkret ist, da er körperlich unter der Sonne und den Wolken steht – hier und am Äquator – und da er immer mit dem Menschen zu tun hat, er sei nun was er sei. Dies ist das Ergebnis eines Lebens der Utopie und der Produktion bis 1933 und der produktiven Beobachtung in zwei Ländern nach 1933. Das Ergebnis, die „Architekturlehre“, ist keineswegs gut geschrieben. Le Corbusier hat besser geschrieben, Häring auch. Aber diese nicht sehr gut geschriebene „Architekturlehre“ macht es dem Leser plausibel, warum Bruno Tauts Siedlungsbauten uns jeden Tag aufs neue ansprechen, während so vieles von dem, was andere in den zwanziger Jahren gebaut haben, in die eigene Zeit zurückzusinken scheint.
Sehen wir die Probe aufs Exempel an […]. Nehmen wir „Onkel Tom“ und dort wieder den jüngsten Teil, nördlich der Argentinischen Allee.
Im Grunde ist der Plan des Teiles dieser Siedlung, den wir näher ansehen wollen, schematisch, man kann ihn klassizistisch nennen; die Nord-Süd-Straßen treffen jedesmal auf eine Lücke in der Bebauung der südlichen Straße; aber Taut hat es so eingerichtet, daß sie nicht auf diese Lücke zu treffen scheinen: es wirkt eher wie ein Zufall. Er hat auch von Süden her niedrige Mauern in die nach Norden gehende Straße gezogen; aber diese hören nach einer Weile auf: sie leiten nur in die Straße ein. Hierfür aber sind sie unentbehrlich. Tritt in einer Nord-Süd-Straße ein Gebäude vor, so wird das niemals auf der anderen Straßenseite wiederholt. Das würde einen Tor-Effekt ergeben; die Straße würde dadurch in verschiedene Räume geteilt. Erscheint ein Vorsprung auf der anderen Straßenseite, so wird er an einer anderen Stelle stehen.
Man ist in der Tat wieder beim Akazienplatz, nicht aber bei dem Gesamtplan der Siedlung Falkenberg. Dieser war reich gegliedert, man wäre durch eine Vielzahl verschiedener Räume gegangen. „Onkel Tom“ ist im Grunde einfach geplant; aber die Mittel der Planung sind sehr entschieden eingesetzt. Die Wirkung der breiten Avenue, welche vom Untergrundbahnhof „Onkel Tom“ nach Süden führt und an deren beiden Seiten zweigeschossige Häuser mit Wohnungen stehen, in verschiedenem Abstand von der Straße und von sehr verschiedener Form: auf der einen Seite flächig, auf der anderen gegliedert, ist eine der eindrucksvollsten Straßen, welche dieses Jahrhundert geschaffen hat.
Auch die Farbe wird nun anders behandelt: nicht mehr als eine provozierende Absichtserklärung: das war sie in Falkenberg und noch in Magdeburg; die Farbe wird systematisch in das Erscheinungsbild der Siedlung eingebracht. In den Nord-Süd-Straßen des Nordteils von „Onkel Tom“ ist die nach Westen gerichtete Seite der Straße rot, die nach Osten gerichtete grün gefärbt. Das ist der Gesamtanstrich, aber die Farbe wird in Einzelheiten differenziert.
Das geht bis in die Färbung der festen und der beweglichen Fensterrahmen. […]
Da wir von Einzelheiten dieser Siedlung sprechen, müssen wir die Fenster erwähnen. Diese Fenster, nicht mehr klein unterteilt wie in den Häusern vor 1914 – aber auch noch nicht ohne jede Teilung, wie man gegenwärtig Fenster macht […]: diese Fenster, logisch unterteilt, überzeugen heute noch […]. Die Fenster sind recht eigentlich das, was diesen Fronten Sinn, Leben, Form gibt: Proportion, im Tautschen Sinne. Die Fronten sind wohl das Beste, was Taut uns hinterlassen hat. Dem Bauhaus-Formalismus stehen sie fern. Jede Hausfront ist mit Fenstern und Eingangstüren „geschmückt“, welche nicht utilitär sind, nicht „funktionalistisch“, sondern „in Proportion“. Je öfter man sie sieht, um so besser werden sie in den Augen des Beschauers. Es ist leider wahr, daß keine ebensogute häusliche Architektur seitdem entstanden ist. Und es ist – wieder leider – ebensowahr, daß wir diese nicht wiederholen dürfen: sie gehört einer anderen Zeit an. [...]
So weit ist Bruno Taut in seiner Arbeit in Deutschland gekommen, als er unterbrochen wurde. Er war der einzige nicht. Er war auch nicht der einzige Architekt, der versucht hat, einem Lande gerecht zu werden, das ihm neu war. Bruno Taut ist in Japan einer Kultur begegnet, welche gerade in der Architektur Bedeutendstes hervorgebracht hat, und er hat die Erfahrung dieser Baukultur, die eine Hausbaukultur gewesen ist, in sich aufgenommen. Er hat sehr bald den Rang eines Gebäudes wie Katsura erkannt, und er benutzt den Rang dieses Hauses, um die Grundgedanken der modernen Architektur an diesem klassischen Gebäude zu prüfen. Die Grundgedanken, sage ich, die allgemeinsten Begriffe; denn Kristiana Hartmann hat ganz gewiß recht, wenn sie sagt: „Taut hat „seine Moderne“ sozusagen selbst gefunden. Dies mag überspitzt klingen.
Wir sind jedoch der Meinung, daß die Tautsche „Moderne“ kein „Modernismus“ war, keine ängstliche Annäherung oder Anpassung an internationale Übereinstimmungen [...].“[07]
Einige wenige Grundbegriffe also prüft Bruno Taut an dem Palast von Katsura. Diese Prüfung ist der Inhalt seiner posthum veröffentlichten „Architekturlehre“. Katsura spielt dabei eine große Rolle. Taut hätte sich vielleicht auf Katsura, einen Wohnbau, beschränken können. Er hat das, meine ich, darum nicht getan, weil die moderne Architektur dem Bauen, das dem Wohnen gewidmet ist, zwar einen hohen Rang einräumt; sie hat sich indes auch auf Bauten anderer Bestimmung bezogen. Dies ist, meine ich, der Grund, warum Taut eine Reihe von Gebäuden verschiedener Bestimmung – und verschiedener Kulturen – als klassisch akzeptiert. An ihnen, nicht an Katsura allein, prüft er die Leitsätze der modernen Architektur: Technik, Konstruktion, Funktion, nachdem er schon am Anfang seiner Lehre den Begriff der Proportion eingeführt hat, wie er ihn versteht, um imstande zu sein, die Begriffe, auf die die moderne Architektur Wert legt, auf diesen seinen Proportionsbegriff zu beziehen. Es würde zu weit führen, die ganze Prüfung hier nachzuvollziehen; begnügen wir uns damit, der Prüfung des Funktionsbegriffes nachzugehen, welche er vornimmt, indem er diesen Begriff auf Katsura bezieht. Er sagt:
„Die Funktion hat hier den Charakter der totalen Allseitigkeit; ihre Ausstrahlungen und Beziehungen hören nirgends auf. Sie zeigt sich als Nützlichkeit für das praktische Alltagsleben bei den Wohn- und Schlafräumen, dem Bad, der Toilette usw., ebenso als Annehmlichkeit für die Sinne mit schattigen, Wind durchzogenen Räumen, äußerst beruhigendem Licht und einer unerhört raffinierten Kunst, den Garten in den Räumen des Hauses zu genießen.“ Und weiter:
„Darin ist dieser Bau in seinem Prinzip ein vollendetes Vorbild für die moderne Architektur. Er deckt sich vollständig mit seiner Bestimmung und seinen Zwecken, die hier, bei einem Wohngebäude, viel differenzierter sind als bei einem Tempel oder einer Kirche […]“. „Wer sich auch nur ein bißchen das japanische Leben vorstellen kann, wird in Katsura die Funktion genießen, die zur Form geworden ist. Aber die Schönheit wird sich ihm auch dann mitteilen, wenn er sich gar nicht bewußt ist, daß es hier in der Hauptsache die Funktion war, deren sich die Proportion zur Architekturschöpfung bediente. In Katsura kann man wirklich sehen: Was gut funktioniert, sieht gut aus.“[08]
Hier spricht noch der moderne Architekt. […] Aber Taut geht weiter in seinem Argument:
„Bei der Erschaffung eines Bauwerks befindet sich die Funktion in Einheit mit der Proportion. Aber ihre Lebensdauer ist nicht sicher; sie stirbt im Verlauf der Zeiten entweder ganz oder in einigen ihrer Eigenschaften. Die Proportion aber lebt auch ohne sie weiter.“ Und weiter:
„Wenn man also die Funktion ganz und gar von ihrer Ordnung durch die Proportion trennt, so hat sie für den Architekten kein Interesse. Sie wird zur Wissenschaft und kann allein nicht Wirklichkeit werden.“ Das erkennen wir an; aber nun zieht Taut Folgerungen, welche uns wundern. Er sagt:
„Wir befassen uns hier aber mit der Architektur, das heißt der Kunst der Proportion. Infolgedessen kann man [...] ruhig behaupten, daß die alten, engen, trüben und muffigen Häuser wohl den modernen hygienisch, technisch und sozial unterlegen sind. Aber in der weitaus größeren Mehrzahl sind sie architektonisch überlegen und werden es bleiben.“[09]
Ich sagte, diese Folgerung wundere uns, da Taut sie zieht. Unter der Hand nämlich hat der Begriff Proportion hier seinen Sinn geändert: von dem, was dem Menschen angemessen ist, wird er zum Formbegriff in dem Sinne, in dem bereits die Renaissance ihn gebraucht hat. […]
Ich habe aber nicht aus der „Architekturlehre“ zitiert, um Taut, den Autor, ins Unrecht zu setzen. Er hat seine Augen offengehalten. Er hat den Parthenon angesehen und festgestellt, wie falsch jeder Versuch ist, die Projektion dieser Front in eine senkrechte Ebene als Maßstabsstudie zu gebrauchen; da das ja nur eine Projektion ist, während das Gebäude selbst körperlich ist. Er hat auch Katsura so angesehen, als etwas, das man anfassen kann, das Raum ist und Raum schafft, und Körper, und Textur, und Farbe, mit einem Wort als das Lebende, das jeder Begrifflichkeit widersteht. Nur hat er sich gleichzeitig als moderner Architekt, der über die Begrifflichkeit dieser Architektur hinauszugehen wünschte, gedrungen gefühlt, diese Begriffe im einzelnen abzuhandeln. Er ist wieder gedanklich bis zum Extrem gegangen. Räumen wir ein, daß auch die Architekturtheorie, wie eigentlich alles, was er geschrieben hat, problematisch ist. Wir dürfen das einräumen, solange wir uns daran erinnern, daß vieles Extreme, was er gesagt hat – in welcher Richtung nun immer –, sich letzten Endes auf jene Einheit bezieht, die er Proportion genannt hat: das Angemessene im Ganzen und in jeder Einzelheit: die Einheit, die er in verschiedenen Richtungen gesucht hat, und die zu bauen ihm selbst in den späten zwanziger Jahren gelungen ist. […]
Der Text ist ein kurzer Auszug aus der Rede von Julius Posener anläßlich des fünfzigsten Todestages Bruno Tauts im Dezember 1988, erschienen in der Reihe: Anmerkungen zur Zeit, Heft 28, Akademie der Künste, Berlin 1989.
Anmerkungen:
* Anm. d. Red.: Taut starb im Dezember 1938 in Istanbul. Die Rede hielt Julius Posener anläßlich des fünfzigsten Todestages von Taut 1988 an der Akademie der Künste Berlin.
[01] Mitteilung von Manfred Speidel, welcher Tauts Werk in Japan vor kurzem noch einmal gründlich untersucht hat.
[02] Ich habe Bruno Taut gegen 1930 als Korrespondent für Mitteleuropa der damals gegründeten Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui kennengelernt. Seit Mai 1933 habe ich dann in der Redaktion in Paris gearbeitet und mit Bruno Taut Kontakt gehalten.
[03] Siehe S. 42 (deutsche Erstausgabe, hrsg. von Goerd Peschken und Tilmann Heinisch, Hamburg/Berlin 1977; türkische Ausgabe: Istanbul 1938; japanische Ausgabe: Tokio 1948)
[04] Siehe S. 48
[05] Le Corbusier, „Vers une Architecture“, Paris 1953, S. 130 (zuerst erschienen 1923)
[06] Siehe S. 43
[07] Kristiana Hartmann, „Bruno Taut“, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hrsg.), „Baumeister, Architekten, Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung Berlins“, Berlin 1987, S. 419.
[08] Siehe S. 111
[09] Siehe S. 112
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