Akteur
Ernst Hubeli
Herczog Hubeli - Zürich (CH)
Die neuen Freiheiten warten noch
Der Schweizer Architekt Ernst Hubeli über Raumplanung und Energieverschleiß und die Sinnhaftigkeit eines gesunden Hedonismus
16. Mai 2009 - Ute Woltron
Die Zersiedelung der Steiermark gilt, wie Sie sagen, im gesamteuropäischen Raum als Paradebeispiel dafür, wie man's nicht machen soll. Was bedeutet dieser - übrigens auch in anderen Teilen Österreichs beobachtbare - Zersiedelungsirrsinn energiepolitisch?
Ernst Hubeli: Die steirische Agglomeration ist das Beispiel für eine maßlose Zersiedlung. Das Verhältnis von Infrastrukturaufwand - Straßen, Netze, Unterhalt, Energie - und Zeitverbrauch - zur Bevölkerungsdichte bricht alle Rekorde - im negativen Sinn natürlich. Noch fataler ist: Während im restlichen Europa ein klarer Trend besteht, neue Bauzonen zu verbieten, opfert die steierische Raumpolitik weiterhin Freiland - mit der Begründung, die Abwanderung aufzuhalten. Das ist so, als ob man den Klimawandel mit einem erhöhten CO2-Ausstoße bekämpfen wollte.
Die steirische Raumpolitik sollte sich mit dem befassen, was bereits ein reales Szenario ist: die Stadtrückwanderung. Nach Graz sind über 10.000 Menschen in den letzten zwei Jahren zurückgezogen, was ja eine Chance ist, den Rückbau der Zersiedelung aktiv zu einem Thema zu machen und zu überlegen, wie man die Ex-Agglomeriten für das urbane Leben begeistern könnte.
Stichwort Politik: Warum kriegt diese europaweit das Zersiedelungsproblem ganz offensichtlich nicht in den Griff? Liegt das an Unfähigkeit oder Unwilligkeit?
Hubeli: Bisher wurde die Zersiedelung mit Landschaftszerstörung gleichgesetzt, was eine Verharmlosung ist, insofern, als man darüber streiten kann, was als Zerstörung gilt und was nicht. Heute geht es nicht um landschaftliche Geschmacksfragen, sondern um die Tatsache, dass die realen Kosten der Zersiedelung, inklusive der Folgekosten, schlicht nicht mehr finanzierbar sind - es fehlt die „Kohle“: das Geld und billige Energie. Und billige Energie wird in den nächsten 20, eher 40 Jahren nicht zu haben sein. Bestenfalls mit einem Anteil von sechs bis zehn Prozent.
Und der Verschleiß an Infrastruktur, Raum, Boden, Luft, Unterhalt und Zeit hat die Lebensqualität verschlechtert. Mit anderen Worten: die volkswirtschaftlichen und anderen Kollateralschäden setzen neue, strukturelle und engere Grenzen vom Siedlungswachstum. Das bereits in den 60er- und 70er-Jahren diskutierte Nullwachstum kann ein Realszenario werden.
Die Zersiedelung wurde bisher bezahlt?
Hubeli: Durch eine stillschweigende Subventionierung. Die realen, volkswirtschaftlichen Kosten der Zersiedelung entsprechen einem Benzinpreis um acht Euro und einer Pkw-Steuer um 1500 Euro. Selbst mit subventionierter Mobilität findet heute ein Rückbau statt. Die Stadtrückwanderung findet nicht nur in der Steiermark, sondern auch in den nordamerikanischen und europäischen Agglomerationen statt - erzwungenermaßen, weil die Lebensweise in stark zersiedelten Gebieten für viele, tendenziell für den gesamten Mittelstand, nicht mehr bezahlbar ist. Die zeitliche Dimension vom Rückbau besteht in der Pragmatik: Je später er realisiert wird, umso teurer wird er. Ökonomische Zwänge und nicht Gutgemeintes sind - auch historisch gesehen - der Motor für solche und ähnliche Veränderungen. Die Umwelt hat allerdings den Vorteil, dass sie auch ohne Kapital existieren kann, während Kapital mit sich allein wertlos ist.
So ist das Energie- und Zersiedelungsthema nicht nur „grüne“ Politik. Aber wo stehen die normalen Bürger und die Agglomerationsbewohner?
Hubeli: Zur politischen Ökonomie der Umwelt gehört das gewöhnliche Alltagsleben. Aus diesem Zusammenhang verstehe ich mich als Urbanist. Und als solcher bin ich an einem hedonistischen Alltagsleben interessiert und ein Feind von vorauseilender Bevormundung wie überflüssigen Pflichterfüllungen. Das heißt auf die Umweltproblematik bezogen: Man sollte sie nicht nur bejammern und sparen, sondern in ihr auch neue Chancen und Möglichkeiten sehen.
Welche?
Hubeli: Die Stadtflucht in den 70er- Jahren hatte ihre verständlichen Gründe: Die Städte waren unwirtlich, teuer, verkehrsüberströmt, und die grüne Agglomeration erschien attraktiver: Nicht die Stadtluft macht frei, sondern die Aggloluft. Heute müssen sich gerade die Agglomerationsbewohner fragen, ob das noch stimmt. Die Sehnsucht nach dem Leben wie der Landadel ist in der mittelständischen Wirklichkeit ja ein mickriges, hühnerfarmähnlich aufgereihtes Einfamilienhäuschen, mit einem Mutter-Kind-Ghetto-Alltag, wo die jungen grünen Witwen vereinsamt unter dem Apfelbaum Romane von Paulo Coelho verschlingen.
Dieses „Ideal“ erzwingt ja geradezu Sehnsüchte nach einem anderen Alltagsleben. Vor allem, wenn man bedenkt, welche Lebensentwürfe heute möglich sind, seit es keine Landeier mehr gibt. Mit den neuen Netzwerken haben sie sich die Welt erschlossen und die Stadt entdeckt. Digital navigierend flirten sie mit dem Abenteuer um die Ecke, das Downtown zu einer freinächtigen Bartour werden kann.
Die Entwicklung der Agglomeration und der Städte hat also auch damit zu tun, wie wir leben und leben wollen?
Hubeli: Wie wir ohne Selbstzerstörung angenehm leben können. Es braucht dazu keine Weltverbesserungsmodelle oder Pastoren - eher eine Kursänderung. In den letzten 50 Jahren folgt die Stadt- und Agglomerationsentwicklung dem Primat der Verkehrsplanung - nach dem Motto: zuerst Straßen bauen, dann Häuser. Das hat zu einer Angebots- und nicht zu einer Nachfrage- und Bedarfsplanung geführt. Dahinter steht - besser: stand - eine mächtige Öl- und Autoindustrie, die an vielen Straßen und an einer Politik interessiert war, welche die Folgekosten des Pkw-Verkehrs weder auf die Pkw-Steuer noch auf die Pkw-Preise und das Benzin schlagen.
Auch wenn Frau Merkel immer noch den Tränen der Deutschen Autoindustrie erliegt - der Kniefall hilft nicht weiter, so wenig es sich lohnen kann, in ein Auslaufmodell zu investieren. Und daraus kann man nur lernen: Die von Energie- und Autolobby gelenkte Verkehrspolitik war unbelehrbar und konnte sich - was nun geschah - nur selbst zerstören. Ein Teil dieser Industrie wird freilich überleben, aber nur, indem sie sich vom Kopf auf die Füße stellt. Wie zum Beispiel Shell. Der Weltkonzern hat in eine Forschung investiert, die klärt, wie das Leben mit viel weniger Verschleiß aussehen könnte. Das ist auch Ausdruck davon, dass kein Profi mehr an die angebliche Alternative, an die Substitution endlicher Ressourcen glaubt.
Wenn es um das „Energiesparen“ in baulicher Hinsicht geht, erleben wir derzeit EU-weit eine klare Objektfixiertheit. Auch Normen und Vorschriften bleiben kläglich an Einzelobjekten hängen, und Begriffe wie Städtebau oder Raumordnung kommen in den Debatten so gut wie (noch) nicht vor. Was wäre die bessere Planung?
Hubeli: Zuerst Raum- und dann Verkehrsplanung. Dann wird man sofort erkennen, dass eine gewisse Bebauungsdichte nötig ist, damit sich die Investitionen in die Infrastruktur überhaupt lohnen. Zudem kann es ja kein Lebensziel sein, möglichst lange Wege hinter sich zu bringen. Das heißt: keine Trennung von Funktionen, sondern ein möglichst nahes Nebeneinander von allem, was man so braucht im Alltag.
Auch Wohnen und Erholen muss nicht um Meilen oder Länder getrennt sein. Der Freizeitverkehr hat heute einen Anteil von fast 40 Prozent vom Gesamtverkehr, was einer Massenflucht vom steinernen Wohnen ins Räkeln im Grünen oder Azurblau entspricht. Abgesehen davon, dass die Mobilität viel teurer wird, hat diese Trennung ja nur Nachteile.
Auch in New York wohnen die Leute am liebsten am Central Park. Und das muss nicht zwangsläufig exklusiv und teuer sein. Es gibt Städte, die sich in den letzten Jahren perforiert haben - etwa Leipzig -, um das Leben in der Stadt angenehmer und vielfältiger zu machen.
Das bedeutet noch lange nicht, dass man den Urlaub zu Hause verbringen muss. Aber je weiter weg, ist ja nicht automatisch umso besser. Vor allem in der Zukunft nicht. Der Flug zum Indischen Ozean wird bald einen doppelten Monatslohn kosten, was sich auch deshalb nicht lohnt, weil man bestenfalls noch zuschauen kann, wie die Malediven im Meer versinken.
Wenn es um quantitative Effizienz geht, dann ist die Berechnung von Tom Kurt aufschlussreich: Jemand, der in Houston lebt, verbraucht dreimal mehr Energie als jemand, der in Siena lebt, ohne dass sich der Lebensstandard wesentlich unterscheidet. Es geht also - im Fachjargon - um Gesamtbilanzen: Was braucht es an Energie, Wegen, Zeit, Unterhalt, Reparaturen, Frust und Lust, sich im Alltag zu bewegen?
Sind die Ökostädte ein Modell?
Hubeli: „Ökostädte“ wie etwa Masdar in Abu Dhabi sind autofreie Luxusenklaven. In der Regel nur durch die Wüste oder die Wildnis erreichbar - mit dem Privatjet oder mit einem SUV (Sportunterhaltungsvehikel) -, was unter dem Strich einen ökologischen Fußabdruck ergibt, der energiefressender ist als jede gewöhnliche Zersiedelung, die abgesehen davon nicht neu gebaut werden muss.
Können Sie auf die Potenziale telekommunikativer Netze näher eingehen?
Hubeli: Mit den Netzen hat sich die Standortabhängigkeit von Branchen, Funktionen und Nutzungen stark relativiert. So kann „Stadt“ fast überall entstehen und auch wieder verschwinden. Und sie kann sich auch immateriell verdichten. Man sollte die Netzwerke in ihrer Wirkung aber nicht überschätzen. Sie sind nicht „wichtiger“ als das Gegenständliche. So können wir ja nicht den ganzen Tag auf den Bildschirm starren. Im Gegenteil. Je mehr wir medial glotzen, desto größer wird der Wunsch, in urbane Welten einzutauchen.
Wir leben gleichzeitig in virtuellen und realen Welten?
Hubeli: ... die sich gegenseitig beeinflussen. So hat sich die Lesart der Städte und Räume verändert. Der Flaneur ersetzt den Navigator. Bevor wir in die Stadt abtauchen, werden die Orte und Ereignisse navigiert, was natürlich die Auswahlmöglichkeiten erhöht. Mit anderen Worten: Auch die alte Stadt ist nicht mehr die alte Stadt. Auch wenn sie weiter existiert, wird sie anders gelesen - als ein Netzwerk aus Ereignissen, Dörfern und Landschaften. Wobei alle Dörfer städtisch sind, egal ob sie in der Stadt oder außerhalb lokalisiert sind.
Ich gehe davon aus, dass sich im Städtebau und in der Architektur auch andere Denkfiguren durchsetzen werden. Man wird nicht mehr Häuser und einzelne Objekte entwerfen, sondern Situationen, Szenarien und Städte in der Stadt.
Wer hat bei den angesprochenen Themen bereits die Nase vorn?
Hubeli: In Holland und Dänemark werden Projekte realisiert, welche die alte europäische Stadt mit ihrer Metropolitanisierung überlagern - also eine Verdichtung nach innen. In Amsterdam und Kopenhagen kann man sich das bereits anschauen. Die Resultate sind zwiespältig, weil bloße Verdichtung ja kein Gewinn sein muss.
In Zürich entwickeln wir ein Szenario mit gleichzeitiger Verdichtung und Auflockerung - im städtebaulichen Sinn eine Nachverdichtung mit einem spezifischen Thema - mit kostengünstigem Wohnungsbau nach dem Motto von Tucholsky „Vorne den Kudamm, hinten die Nordsee“ bzw. „Vorne die Stadt, hinten ein Park“, was das Image von der reichen, eher monoton homogenen Stadt aufweichen kann. In der Schweiz gibt es auch diverse Projekte für eine konzentrierte Zersiedelung.
Möglicherweise für Europa richtungsweisend ist das gerade entstehende Konzept für Reininghaus in Graz. Auf 55 Hektar wird die nächste Stadt radikaler als in Holland gedacht. Es werden keine Wohnblöcke, Bürotürme und Eventcities gebaut, sondern es wird urbaner Lebensraum geschaffen, der zwar geplant, aber unfertig bleibt, der sich immer neu oder weiter entwickeln kann, wo Möglichkeiten und Unbekanntem Raum geboten wird, wo das Urbane neu und zugleich so verstanden wird, wie es heute wirklich ist: ein ewiges Gedankenexperiment.
Persönliche Frage: Können Sie nachvollziehen, warum wir dermaßen nachlässig mit unwiederbringlichen Ressourcen wie Landschaft und Natur umgehen?
Hubeli: Die Gesellschaft hat eine narzisstische Episode durch- und ausgespielt, was immerhin die Erkenntnis gebracht hat, wo die Grenzen liegen, wenn Individualisierung ohne Sozialisierung stattfindet. Die sogenannte Postmoderne hat insofern keine neuen Freiheiten generiert, sondern neue Zwänge. Oder anders gesagt: Die neuen Freiheiten warten noch, bis sie das Glück findet, das eben nur aus Gemeinschaften entstehen kann - eine Einsicht, die übrigens die Glücksforschung teilt wie der Philosoph Robert Pfaller, der im narzisstischen Selbstverwirklichungsstress einen Beuteverzicht sieht.
[ Der Kongress „Stadt statt Energie“ findet am 20. Mai ab 8.30 Uhr im Loft Graz-Reininghaus, Reininghausstraße 11a, statt. Anmeldung und Infos unter www.isv.tugraz.at/stadt2009 ]
Ernst Hubeli: Die steirische Agglomeration ist das Beispiel für eine maßlose Zersiedlung. Das Verhältnis von Infrastrukturaufwand - Straßen, Netze, Unterhalt, Energie - und Zeitverbrauch - zur Bevölkerungsdichte bricht alle Rekorde - im negativen Sinn natürlich. Noch fataler ist: Während im restlichen Europa ein klarer Trend besteht, neue Bauzonen zu verbieten, opfert die steierische Raumpolitik weiterhin Freiland - mit der Begründung, die Abwanderung aufzuhalten. Das ist so, als ob man den Klimawandel mit einem erhöhten CO2-Ausstoße bekämpfen wollte.
Die steirische Raumpolitik sollte sich mit dem befassen, was bereits ein reales Szenario ist: die Stadtrückwanderung. Nach Graz sind über 10.000 Menschen in den letzten zwei Jahren zurückgezogen, was ja eine Chance ist, den Rückbau der Zersiedelung aktiv zu einem Thema zu machen und zu überlegen, wie man die Ex-Agglomeriten für das urbane Leben begeistern könnte.
Stichwort Politik: Warum kriegt diese europaweit das Zersiedelungsproblem ganz offensichtlich nicht in den Griff? Liegt das an Unfähigkeit oder Unwilligkeit?
Hubeli: Bisher wurde die Zersiedelung mit Landschaftszerstörung gleichgesetzt, was eine Verharmlosung ist, insofern, als man darüber streiten kann, was als Zerstörung gilt und was nicht. Heute geht es nicht um landschaftliche Geschmacksfragen, sondern um die Tatsache, dass die realen Kosten der Zersiedelung, inklusive der Folgekosten, schlicht nicht mehr finanzierbar sind - es fehlt die „Kohle“: das Geld und billige Energie. Und billige Energie wird in den nächsten 20, eher 40 Jahren nicht zu haben sein. Bestenfalls mit einem Anteil von sechs bis zehn Prozent.
Und der Verschleiß an Infrastruktur, Raum, Boden, Luft, Unterhalt und Zeit hat die Lebensqualität verschlechtert. Mit anderen Worten: die volkswirtschaftlichen und anderen Kollateralschäden setzen neue, strukturelle und engere Grenzen vom Siedlungswachstum. Das bereits in den 60er- und 70er-Jahren diskutierte Nullwachstum kann ein Realszenario werden.
Die Zersiedelung wurde bisher bezahlt?
Hubeli: Durch eine stillschweigende Subventionierung. Die realen, volkswirtschaftlichen Kosten der Zersiedelung entsprechen einem Benzinpreis um acht Euro und einer Pkw-Steuer um 1500 Euro. Selbst mit subventionierter Mobilität findet heute ein Rückbau statt. Die Stadtrückwanderung findet nicht nur in der Steiermark, sondern auch in den nordamerikanischen und europäischen Agglomerationen statt - erzwungenermaßen, weil die Lebensweise in stark zersiedelten Gebieten für viele, tendenziell für den gesamten Mittelstand, nicht mehr bezahlbar ist. Die zeitliche Dimension vom Rückbau besteht in der Pragmatik: Je später er realisiert wird, umso teurer wird er. Ökonomische Zwänge und nicht Gutgemeintes sind - auch historisch gesehen - der Motor für solche und ähnliche Veränderungen. Die Umwelt hat allerdings den Vorteil, dass sie auch ohne Kapital existieren kann, während Kapital mit sich allein wertlos ist.
So ist das Energie- und Zersiedelungsthema nicht nur „grüne“ Politik. Aber wo stehen die normalen Bürger und die Agglomerationsbewohner?
Hubeli: Zur politischen Ökonomie der Umwelt gehört das gewöhnliche Alltagsleben. Aus diesem Zusammenhang verstehe ich mich als Urbanist. Und als solcher bin ich an einem hedonistischen Alltagsleben interessiert und ein Feind von vorauseilender Bevormundung wie überflüssigen Pflichterfüllungen. Das heißt auf die Umweltproblematik bezogen: Man sollte sie nicht nur bejammern und sparen, sondern in ihr auch neue Chancen und Möglichkeiten sehen.
Welche?
Hubeli: Die Stadtflucht in den 70er- Jahren hatte ihre verständlichen Gründe: Die Städte waren unwirtlich, teuer, verkehrsüberströmt, und die grüne Agglomeration erschien attraktiver: Nicht die Stadtluft macht frei, sondern die Aggloluft. Heute müssen sich gerade die Agglomerationsbewohner fragen, ob das noch stimmt. Die Sehnsucht nach dem Leben wie der Landadel ist in der mittelständischen Wirklichkeit ja ein mickriges, hühnerfarmähnlich aufgereihtes Einfamilienhäuschen, mit einem Mutter-Kind-Ghetto-Alltag, wo die jungen grünen Witwen vereinsamt unter dem Apfelbaum Romane von Paulo Coelho verschlingen.
Dieses „Ideal“ erzwingt ja geradezu Sehnsüchte nach einem anderen Alltagsleben. Vor allem, wenn man bedenkt, welche Lebensentwürfe heute möglich sind, seit es keine Landeier mehr gibt. Mit den neuen Netzwerken haben sie sich die Welt erschlossen und die Stadt entdeckt. Digital navigierend flirten sie mit dem Abenteuer um die Ecke, das Downtown zu einer freinächtigen Bartour werden kann.
Die Entwicklung der Agglomeration und der Städte hat also auch damit zu tun, wie wir leben und leben wollen?
Hubeli: Wie wir ohne Selbstzerstörung angenehm leben können. Es braucht dazu keine Weltverbesserungsmodelle oder Pastoren - eher eine Kursänderung. In den letzten 50 Jahren folgt die Stadt- und Agglomerationsentwicklung dem Primat der Verkehrsplanung - nach dem Motto: zuerst Straßen bauen, dann Häuser. Das hat zu einer Angebots- und nicht zu einer Nachfrage- und Bedarfsplanung geführt. Dahinter steht - besser: stand - eine mächtige Öl- und Autoindustrie, die an vielen Straßen und an einer Politik interessiert war, welche die Folgekosten des Pkw-Verkehrs weder auf die Pkw-Steuer noch auf die Pkw-Preise und das Benzin schlagen.
Auch wenn Frau Merkel immer noch den Tränen der Deutschen Autoindustrie erliegt - der Kniefall hilft nicht weiter, so wenig es sich lohnen kann, in ein Auslaufmodell zu investieren. Und daraus kann man nur lernen: Die von Energie- und Autolobby gelenkte Verkehrspolitik war unbelehrbar und konnte sich - was nun geschah - nur selbst zerstören. Ein Teil dieser Industrie wird freilich überleben, aber nur, indem sie sich vom Kopf auf die Füße stellt. Wie zum Beispiel Shell. Der Weltkonzern hat in eine Forschung investiert, die klärt, wie das Leben mit viel weniger Verschleiß aussehen könnte. Das ist auch Ausdruck davon, dass kein Profi mehr an die angebliche Alternative, an die Substitution endlicher Ressourcen glaubt.
Wenn es um das „Energiesparen“ in baulicher Hinsicht geht, erleben wir derzeit EU-weit eine klare Objektfixiertheit. Auch Normen und Vorschriften bleiben kläglich an Einzelobjekten hängen, und Begriffe wie Städtebau oder Raumordnung kommen in den Debatten so gut wie (noch) nicht vor. Was wäre die bessere Planung?
Hubeli: Zuerst Raum- und dann Verkehrsplanung. Dann wird man sofort erkennen, dass eine gewisse Bebauungsdichte nötig ist, damit sich die Investitionen in die Infrastruktur überhaupt lohnen. Zudem kann es ja kein Lebensziel sein, möglichst lange Wege hinter sich zu bringen. Das heißt: keine Trennung von Funktionen, sondern ein möglichst nahes Nebeneinander von allem, was man so braucht im Alltag.
Auch Wohnen und Erholen muss nicht um Meilen oder Länder getrennt sein. Der Freizeitverkehr hat heute einen Anteil von fast 40 Prozent vom Gesamtverkehr, was einer Massenflucht vom steinernen Wohnen ins Räkeln im Grünen oder Azurblau entspricht. Abgesehen davon, dass die Mobilität viel teurer wird, hat diese Trennung ja nur Nachteile.
Auch in New York wohnen die Leute am liebsten am Central Park. Und das muss nicht zwangsläufig exklusiv und teuer sein. Es gibt Städte, die sich in den letzten Jahren perforiert haben - etwa Leipzig -, um das Leben in der Stadt angenehmer und vielfältiger zu machen.
Das bedeutet noch lange nicht, dass man den Urlaub zu Hause verbringen muss. Aber je weiter weg, ist ja nicht automatisch umso besser. Vor allem in der Zukunft nicht. Der Flug zum Indischen Ozean wird bald einen doppelten Monatslohn kosten, was sich auch deshalb nicht lohnt, weil man bestenfalls noch zuschauen kann, wie die Malediven im Meer versinken.
Wenn es um quantitative Effizienz geht, dann ist die Berechnung von Tom Kurt aufschlussreich: Jemand, der in Houston lebt, verbraucht dreimal mehr Energie als jemand, der in Siena lebt, ohne dass sich der Lebensstandard wesentlich unterscheidet. Es geht also - im Fachjargon - um Gesamtbilanzen: Was braucht es an Energie, Wegen, Zeit, Unterhalt, Reparaturen, Frust und Lust, sich im Alltag zu bewegen?
Sind die Ökostädte ein Modell?
Hubeli: „Ökostädte“ wie etwa Masdar in Abu Dhabi sind autofreie Luxusenklaven. In der Regel nur durch die Wüste oder die Wildnis erreichbar - mit dem Privatjet oder mit einem SUV (Sportunterhaltungsvehikel) -, was unter dem Strich einen ökologischen Fußabdruck ergibt, der energiefressender ist als jede gewöhnliche Zersiedelung, die abgesehen davon nicht neu gebaut werden muss.
Können Sie auf die Potenziale telekommunikativer Netze näher eingehen?
Hubeli: Mit den Netzen hat sich die Standortabhängigkeit von Branchen, Funktionen und Nutzungen stark relativiert. So kann „Stadt“ fast überall entstehen und auch wieder verschwinden. Und sie kann sich auch immateriell verdichten. Man sollte die Netzwerke in ihrer Wirkung aber nicht überschätzen. Sie sind nicht „wichtiger“ als das Gegenständliche. So können wir ja nicht den ganzen Tag auf den Bildschirm starren. Im Gegenteil. Je mehr wir medial glotzen, desto größer wird der Wunsch, in urbane Welten einzutauchen.
Wir leben gleichzeitig in virtuellen und realen Welten?
Hubeli: ... die sich gegenseitig beeinflussen. So hat sich die Lesart der Städte und Räume verändert. Der Flaneur ersetzt den Navigator. Bevor wir in die Stadt abtauchen, werden die Orte und Ereignisse navigiert, was natürlich die Auswahlmöglichkeiten erhöht. Mit anderen Worten: Auch die alte Stadt ist nicht mehr die alte Stadt. Auch wenn sie weiter existiert, wird sie anders gelesen - als ein Netzwerk aus Ereignissen, Dörfern und Landschaften. Wobei alle Dörfer städtisch sind, egal ob sie in der Stadt oder außerhalb lokalisiert sind.
Ich gehe davon aus, dass sich im Städtebau und in der Architektur auch andere Denkfiguren durchsetzen werden. Man wird nicht mehr Häuser und einzelne Objekte entwerfen, sondern Situationen, Szenarien und Städte in der Stadt.
Wer hat bei den angesprochenen Themen bereits die Nase vorn?
Hubeli: In Holland und Dänemark werden Projekte realisiert, welche die alte europäische Stadt mit ihrer Metropolitanisierung überlagern - also eine Verdichtung nach innen. In Amsterdam und Kopenhagen kann man sich das bereits anschauen. Die Resultate sind zwiespältig, weil bloße Verdichtung ja kein Gewinn sein muss.
In Zürich entwickeln wir ein Szenario mit gleichzeitiger Verdichtung und Auflockerung - im städtebaulichen Sinn eine Nachverdichtung mit einem spezifischen Thema - mit kostengünstigem Wohnungsbau nach dem Motto von Tucholsky „Vorne den Kudamm, hinten die Nordsee“ bzw. „Vorne die Stadt, hinten ein Park“, was das Image von der reichen, eher monoton homogenen Stadt aufweichen kann. In der Schweiz gibt es auch diverse Projekte für eine konzentrierte Zersiedelung.
Möglicherweise für Europa richtungsweisend ist das gerade entstehende Konzept für Reininghaus in Graz. Auf 55 Hektar wird die nächste Stadt radikaler als in Holland gedacht. Es werden keine Wohnblöcke, Bürotürme und Eventcities gebaut, sondern es wird urbaner Lebensraum geschaffen, der zwar geplant, aber unfertig bleibt, der sich immer neu oder weiter entwickeln kann, wo Möglichkeiten und Unbekanntem Raum geboten wird, wo das Urbane neu und zugleich so verstanden wird, wie es heute wirklich ist: ein ewiges Gedankenexperiment.
Persönliche Frage: Können Sie nachvollziehen, warum wir dermaßen nachlässig mit unwiederbringlichen Ressourcen wie Landschaft und Natur umgehen?
Hubeli: Die Gesellschaft hat eine narzisstische Episode durch- und ausgespielt, was immerhin die Erkenntnis gebracht hat, wo die Grenzen liegen, wenn Individualisierung ohne Sozialisierung stattfindet. Die sogenannte Postmoderne hat insofern keine neuen Freiheiten generiert, sondern neue Zwänge. Oder anders gesagt: Die neuen Freiheiten warten noch, bis sie das Glück findet, das eben nur aus Gemeinschaften entstehen kann - eine Einsicht, die übrigens die Glücksforschung teilt wie der Philosoph Robert Pfaller, der im narzisstischen Selbstverwirklichungsstress einen Beuteverzicht sieht.
[ Der Kongress „Stadt statt Energie“ findet am 20. Mai ab 8.30 Uhr im Loft Graz-Reininghaus, Reininghausstraße 11a, statt. Anmeldung und Infos unter www.isv.tugraz.at/stadt2009 ]
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