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Der neueste Bau-Trend: Ziegel aus lokalem Abfall
Wie gelingt Kreislaufwirtschaft? Indem man zum Beispiel Ziegel aus regionalen Abfallmaterialien herstellt: aus Lehm von der U-Bahn-Baustelle, Biertreber oder Carbokalk (Kalkdünger) aus der Zuckerrübenproduktion, Holzwollresten oder Backmehl.
26. Juli 2024 - Harald Gründl
Das Kürzel BFV prangt auf dem ungebrannten Lehmziegel der Biofabrique Vienna. Damit reiht sich ein neuer Ziegel in die Geschichte der Ziegelproduktion in Wien ein, die eine lange Tradition hat. Die besondere geologische Situation Wiens mit seinen tonreichen Geländeterrassen rund um die Stadt ermöglichte den Betrieb von Ziegeleien von der Römerzeit bis ins 16. Jahrhundert. Die Bautätigkeit nahm damals stark zu; für die Stadtbefestigung, den Ausbau der Hofburg und den Bau von Bürgerhäusern wurde ein billigerer Baustoff als Stein gebraucht.
Im 18. Jahrhundert ließ Kaiserin Maria Theresia auf dem Wienerberg die erste staatliche Ziegelei errichten – die Stadtmauer musste verbessert, Linienwälle mussten errichtet werden. Mit der Industrialisierung der Ziegelproduktion im 19. Jahrhundert entstanden prekäre Arbeitsverhältnisse, es gab Seuchen, Kinderarbeit und erste Umweltprobleme. Der Wiener Industrielle Heinrich Drasche besaß Mitte des 19. Jahrhunderts neun große Ziegelfabriken mit über 4700 Beschäftigten. Um Energie für das Brennen der Ziegel zu gewinnen, betrieb er außerdem 30 Kohlebergwerke, in denen rund 2300 Bergleute arbeiteten.
Biofabrique Vienna
Die größte Ziegelfabrik Europas produzierte im Jahr 1862 130 Millionen Stück Ziegel. Die Ringstraßenbauten, das Arsenal sowie die Semmeringbahn sind prominente Bauwerke aus Wiener Ziegel. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Ziegel auf dem Wienerberg produziert, doch langsam erschöpften sich die Ressourcen, die Produktion wurde unrentabel. Die Lehmgruben wurden von der Stadt Wien erworben und als Deponien für Bauschutt und Hausmüll verwendet.
In den 100 Tagen der Klima Biennale Wien haben Studierende der TU Wien (Institut für Architektur und Entwerfen/Gebäudelehre und Entwerfen) ein neues Kapitel des Wiener Ziegels aufgeschlagen: in der Biofabrique Vienna. Sie ist ein Pilotprojekt der Wirtschaftsagentur Wien und des Ateliers Luma aus Arles. Die Partner haben basierend auf dem bioregionalen Designansatz des Ateliers eine Methode entwickelt, um aus nicht genutzten lokalen Ressourcen in Wien Materialien für Architektur und Design zu entwickeln. Eines der bearbeiteten Themenfelder der Biofabrique enthielt das Projekt „Material Assemblies“, das von den Mentoren Benedetta Pompili, Hannah Segerkrantz und Thomas Amann betreut wurde, die sich mit dem Thema Lehmziegel befassten.
Das Geschäftsmodell fehlt noch
Das Projekt war in vier Phasen gegliedert: Phase 1 diente dem Sammeln und Kartografieren. Hier wurde ein Kreisdiagramm verwendet, das zeigte, wie weit jene Partner, mit denen zusammengearbeitet werden sollte, vom Standort der Biofabrique Vienna entfernt waren. So sollten eigentlich alle Designprozesse starten, die der bioregionalen Logik folgen.
In Phase 2 besuchten Studierende beispielsweise eine U-Bahn-Baustelle, bei der eine eher kleinere Bohrung 15 Tonnen Lehm pro Stunde an Aushub produziert. Ein Lastwagen fährt damit jede Stunde zur Deponie, dem Abfallwirtschaftsgesetz Folge leistend. Es wurden einige Kübel Lehm mitgenommen, um mit dem Material zu experimentieren und Wissen aufzubauen.
In Phase 3 entstanden erste Ziegelmuster. Dabei wurde auch mit überraschenden Zutaten gearbeitet – wie Biermaische (Adobe Brick) oder Carbokalk, einem Abfallstrom aus der Zuckerrübenproduktion, der als Kalkdünger veredelt ist. Bestandteil des Rezepts für den organischen „Carbo Wood Wool Brick“ sind Holzwollabfälle einer Zimmerei oder nicht mehr verwendbares Mehl aus der Backindustrie.
In Phase 4 erfolgten die Dokumentation und gerade noch laufende Werkstofftests. Die Herausforderung der Kreislaufwirtschaft, Stoffströme sektorübergreifend umzuleiten, wird somit mustergültig umgesetzt.
Ergebnisse bei der Vienna Design Week im September
Was noch fehlt, ist das Geschäftsmodell. Denn warum sollen Rohstoffe an einen anderen Industriezweig verschenkt werden? Das Projekt erprobt einen notwendigen Paradigmenwechsel im bioregionalen Entwurfsprozess in Design und Architektur: durch den Aufbau und die Nutzung lokaler Wissens- und Ressourcennetzwerke, Werkstoffforschung parallel zum Entwurfsprozess und den Umgang mit nicht normierten Werkstoffen, die für jede Anwendung erst untersucht werden müssen, etwa Lehm.
Das belgische Architekturbüro BC Architects & Studies & Materials hat sich pionierhaft diesen Herausforderungen gestellt, produziert selbst Lehmziegel, macht Materialforschung, lehrt an Universitäten und baut. In Paris wurden im Projekt „Cycle Terre“ aus dem Aushub einer neuen Pariser Métro-Linie in einer Fabrik vor Ort in einem Jahr rund 120.000 Lehmziegel, 800 Tonnen Lehm(putz)mörtel sowie 500 Tonnen Stampflehm hergestellt. In Brüssel betreibt BC eine eigene Stampflehm- und Lehmziegelfabrik mit lokalen Lehmressourcen.
In Wien hatte Thomas Amann auf seiner Besorgungsliste für die gerade angelaufene erste größere Ziegelproduktion der Biofabrique Vienna Folgendes stehen: zwei Tonnen Wiener-Linien-Lehm, 1,5 Tonnen Carbokalk, 1,5 Tonnen Ziegelsand, drei Big Bags mit Holzwolle und 800 Kilogramm Biertrebern. Daraus sollen in zwei Wochen mit 20 Studierenden der TU Wien mindestens 1000 Ziegel produziert werden, die vom Studio Dreist im September im Rahmen der Vienna Design Week mit anderen Ergebnissen der Biofabrique vorgestellt werden.
„Ideen sind leicht und können reisen“
Das Österreichische Institut für Baubiologie und -ökologie (IBO) hat in einem jüngst erschienenen Artikel zum Lowtech-Baustoff Lehm auf dessen baubiologische Vorteile, Zirkularität und den signifikant geringeren CO2-Fußabdruck hingewiesen. Es gibt aber auch Hindernisse wie Skepsis und uniformierte Vorbehalte in der Baubranche. Die technischen Werte wie etwa die Druckfestigkeit des BFV-Ziegels sind jenen eines gebrannten Ziegels unterlegen – macht aber nichts, wenn man ihn statisch richtig einsetzt, wie zum Beispiel als Zwischenwand. So kann bei Bauwerken die Ökobilanz beträchtlich verbessert werden; obendrein erhält man ein gesundes Raumklima sowie einen guten Wärmespeicher. Laut DIN 18940 können Lehmbauwerke eine Gebäudehöhe von 13 Metern erreichen, und so zeigt sich das Potenzial für Größeres.
Die BFV-Ziegel werden gerade in den Prüflabors der TU Wien auf ihre Festigkeit getestet, das IBO überprüft Ziegel mit biologischen Ingredienzien. Es braucht jetzt Anstrengungen, den regionalen Baustoff Lehm von der Deponie zum lokalen Baustoffhändler zu bekommen. Das Prinzip der Lokalität ist das Grundprinzip der Natur und des regenerativen Bauens. Elisabeth Noever-Ginthör von der Wirtschaftsagentur Wien fasst die Philosophie der Biofabrique Vienna so zusammen: „Materials are heavy and should stay local, ideas are light and can travel.“
Es bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung der Studierenden auf die Architekturschaffenden, die Bauwirtschaft und die Stadt Wien übergreift, um aus der Inspiration dieses Pilotprojekts eine neue, bioregionale Baukultur nachhaltig zu etablieren und langfristig zu unterstützen.
Im 18. Jahrhundert ließ Kaiserin Maria Theresia auf dem Wienerberg die erste staatliche Ziegelei errichten – die Stadtmauer musste verbessert, Linienwälle mussten errichtet werden. Mit der Industrialisierung der Ziegelproduktion im 19. Jahrhundert entstanden prekäre Arbeitsverhältnisse, es gab Seuchen, Kinderarbeit und erste Umweltprobleme. Der Wiener Industrielle Heinrich Drasche besaß Mitte des 19. Jahrhunderts neun große Ziegelfabriken mit über 4700 Beschäftigten. Um Energie für das Brennen der Ziegel zu gewinnen, betrieb er außerdem 30 Kohlebergwerke, in denen rund 2300 Bergleute arbeiteten.
Biofabrique Vienna
Die größte Ziegelfabrik Europas produzierte im Jahr 1862 130 Millionen Stück Ziegel. Die Ringstraßenbauten, das Arsenal sowie die Semmeringbahn sind prominente Bauwerke aus Wiener Ziegel. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Ziegel auf dem Wienerberg produziert, doch langsam erschöpften sich die Ressourcen, die Produktion wurde unrentabel. Die Lehmgruben wurden von der Stadt Wien erworben und als Deponien für Bauschutt und Hausmüll verwendet.
In den 100 Tagen der Klima Biennale Wien haben Studierende der TU Wien (Institut für Architektur und Entwerfen/Gebäudelehre und Entwerfen) ein neues Kapitel des Wiener Ziegels aufgeschlagen: in der Biofabrique Vienna. Sie ist ein Pilotprojekt der Wirtschaftsagentur Wien und des Ateliers Luma aus Arles. Die Partner haben basierend auf dem bioregionalen Designansatz des Ateliers eine Methode entwickelt, um aus nicht genutzten lokalen Ressourcen in Wien Materialien für Architektur und Design zu entwickeln. Eines der bearbeiteten Themenfelder der Biofabrique enthielt das Projekt „Material Assemblies“, das von den Mentoren Benedetta Pompili, Hannah Segerkrantz und Thomas Amann betreut wurde, die sich mit dem Thema Lehmziegel befassten.
Das Geschäftsmodell fehlt noch
Das Projekt war in vier Phasen gegliedert: Phase 1 diente dem Sammeln und Kartografieren. Hier wurde ein Kreisdiagramm verwendet, das zeigte, wie weit jene Partner, mit denen zusammengearbeitet werden sollte, vom Standort der Biofabrique Vienna entfernt waren. So sollten eigentlich alle Designprozesse starten, die der bioregionalen Logik folgen.
In Phase 2 besuchten Studierende beispielsweise eine U-Bahn-Baustelle, bei der eine eher kleinere Bohrung 15 Tonnen Lehm pro Stunde an Aushub produziert. Ein Lastwagen fährt damit jede Stunde zur Deponie, dem Abfallwirtschaftsgesetz Folge leistend. Es wurden einige Kübel Lehm mitgenommen, um mit dem Material zu experimentieren und Wissen aufzubauen.
In Phase 3 entstanden erste Ziegelmuster. Dabei wurde auch mit überraschenden Zutaten gearbeitet – wie Biermaische (Adobe Brick) oder Carbokalk, einem Abfallstrom aus der Zuckerrübenproduktion, der als Kalkdünger veredelt ist. Bestandteil des Rezepts für den organischen „Carbo Wood Wool Brick“ sind Holzwollabfälle einer Zimmerei oder nicht mehr verwendbares Mehl aus der Backindustrie.
In Phase 4 erfolgten die Dokumentation und gerade noch laufende Werkstofftests. Die Herausforderung der Kreislaufwirtschaft, Stoffströme sektorübergreifend umzuleiten, wird somit mustergültig umgesetzt.
Ergebnisse bei der Vienna Design Week im September
Was noch fehlt, ist das Geschäftsmodell. Denn warum sollen Rohstoffe an einen anderen Industriezweig verschenkt werden? Das Projekt erprobt einen notwendigen Paradigmenwechsel im bioregionalen Entwurfsprozess in Design und Architektur: durch den Aufbau und die Nutzung lokaler Wissens- und Ressourcennetzwerke, Werkstoffforschung parallel zum Entwurfsprozess und den Umgang mit nicht normierten Werkstoffen, die für jede Anwendung erst untersucht werden müssen, etwa Lehm.
Das belgische Architekturbüro BC Architects & Studies & Materials hat sich pionierhaft diesen Herausforderungen gestellt, produziert selbst Lehmziegel, macht Materialforschung, lehrt an Universitäten und baut. In Paris wurden im Projekt „Cycle Terre“ aus dem Aushub einer neuen Pariser Métro-Linie in einer Fabrik vor Ort in einem Jahr rund 120.000 Lehmziegel, 800 Tonnen Lehm(putz)mörtel sowie 500 Tonnen Stampflehm hergestellt. In Brüssel betreibt BC eine eigene Stampflehm- und Lehmziegelfabrik mit lokalen Lehmressourcen.
In Wien hatte Thomas Amann auf seiner Besorgungsliste für die gerade angelaufene erste größere Ziegelproduktion der Biofabrique Vienna Folgendes stehen: zwei Tonnen Wiener-Linien-Lehm, 1,5 Tonnen Carbokalk, 1,5 Tonnen Ziegelsand, drei Big Bags mit Holzwolle und 800 Kilogramm Biertrebern. Daraus sollen in zwei Wochen mit 20 Studierenden der TU Wien mindestens 1000 Ziegel produziert werden, die vom Studio Dreist im September im Rahmen der Vienna Design Week mit anderen Ergebnissen der Biofabrique vorgestellt werden.
„Ideen sind leicht und können reisen“
Das Österreichische Institut für Baubiologie und -ökologie (IBO) hat in einem jüngst erschienenen Artikel zum Lowtech-Baustoff Lehm auf dessen baubiologische Vorteile, Zirkularität und den signifikant geringeren CO2-Fußabdruck hingewiesen. Es gibt aber auch Hindernisse wie Skepsis und uniformierte Vorbehalte in der Baubranche. Die technischen Werte wie etwa die Druckfestigkeit des BFV-Ziegels sind jenen eines gebrannten Ziegels unterlegen – macht aber nichts, wenn man ihn statisch richtig einsetzt, wie zum Beispiel als Zwischenwand. So kann bei Bauwerken die Ökobilanz beträchtlich verbessert werden; obendrein erhält man ein gesundes Raumklima sowie einen guten Wärmespeicher. Laut DIN 18940 können Lehmbauwerke eine Gebäudehöhe von 13 Metern erreichen, und so zeigt sich das Potenzial für Größeres.
Die BFV-Ziegel werden gerade in den Prüflabors der TU Wien auf ihre Festigkeit getestet, das IBO überprüft Ziegel mit biologischen Ingredienzien. Es braucht jetzt Anstrengungen, den regionalen Baustoff Lehm von der Deponie zum lokalen Baustoffhändler zu bekommen. Das Prinzip der Lokalität ist das Grundprinzip der Natur und des regenerativen Bauens. Elisabeth Noever-Ginthör von der Wirtschaftsagentur Wien fasst die Philosophie der Biofabrique Vienna so zusammen: „Materials are heavy and should stay local, ideas are light and can travel.“
Es bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung der Studierenden auf die Architekturschaffenden, die Bauwirtschaft und die Stadt Wien übergreift, um aus der Inspiration dieses Pilotprojekts eine neue, bioregionale Baukultur nachhaltig zu etablieren und langfristig zu unterstützen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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