Bauwerk
Rathaus Umbau
Enric Miralles, Benedetta Tagliabue - Utrecht (NL) - 2000
Angekratzte Geschichte
Der Rathausumbau von Enric Miralles in Utrecht
Das Rathaus von Utrecht ist das Ergebnis baulicher Aktivitäten verschiedener Jahrhunderte. Mit seiner furiosen Umgestaltung hat der jüngst verstorbene spanische Architekt Enric Miralles zusammen mit Benedetta Tagliabue das Konstrukt entlarvt und die vermeintliche Homogenität in die ursprüngliche Heterogenität zurückgeführt.
1. Dezember 2000 - Hubertus Adam
Allein unser nostalgischer Blick erklärt, warum wir historische Altstädte vielfach wie aus einem Guss gebaut erleben. Tatsächlich ist ihre Gestalt über viele Jahrhunderte gewachsen, und das, was sich heute harmonisch zusammenfügt, mag seinerzeit als Kontrast empfunden worden sein. Geschichte bleibt Fragment, Städte sind das Resultat urbanistischen Stückwerks: Alles ist komplexer und heterogener, als es wirkt.
Architektur als Konglomerat
Hat man in Utrecht die endlosen Passagen des Geschäfts- und Einkaufszentrums «Hoog-Catharijne» durchquert, mit dem in den siebziger Jahren das einstige Bahnhofsquartier überbaut wurde, findet man sich unvermittelt im Stadtkern wieder, der bis heute den mittelalterlichen Zuschnitt bewahrt hat. Seine Lebensader bildet die geschwungene «Oude Gracht». Ihr Verlauf entstand im 12. Jahrhundert. In welchem Masse das einheitlich erscheinende Stadtbild in Wahrheit Flickwerk ist, zeigt ein Blick auf den Rathauskomplex. Denn die neoklassizistische Fassade von 1826, die sich mit ihrem Portikus ohne rechtes Gegenüber der Oude Gracht zuwendet, verschleiert - im wahrsten Sinne des Wortes - die Tatsache, dass sich in der Baustruktur drei mittelalterliche Gebäude verbergen: das Haus Lichtenberg sowie der Kleine und der Grosse Hasenberg. Eine Ahnung vom vorigen Zustand vermittelt noch das als Eckbau zum Gänsemarkt an das neoklassizistisch überformte «Stadhuis» anstossende Haus Kaiserreich aus dem Jahr 1410. Gut hundert Jahre nach der letzten Erweiterung machte wachsender Raumbedarf 1932 einen neuerlichen Anbau nötig: Auf der grachtabgewandten Nordwestseite entstand ein zusätzlicher Flügel in den etwas spröden Formen der damaligen Zeit.
Der vorerst letzte Umbau wurde nun von Enric Miralles und seiner Partnerin Benedetta Tagliabue vorgenommen, die für ihr Projekt 1997 den ersten Preis erhalten hatten. Archivare mögen wissen, ob die den Massstab sprengende klassizistische Prachtfassade einst die Gemüter erregte. Die jetzige Intervention zumindest wird von Teilen der Bevölkerung als Provokation empfunden. Wahrscheinlich deswegen, weil Miralles den umgekehrten Weg wählte als seine Vorgänger vor 175 Jahren: Statt Vielfalt in Einheit überzuführen, zerlegte er Einheit in Vielfalt, überführte er Homogenität in Heterogenität.
Er wolle zurückkehren zu der Idee eines städtischen Gebäudes als eines Konglomerates von Häusern, hatte der Architekt aus Barcelona erklärt. Damit bekannte er sich offen dazu, was neues Bauen seit je im innerstädtischen Zusammenhang bedeutet: Zerstörung des Alten. Niedergelegt wurde zunächst der Flügel von 1932, um die Konturen des Gebäudekomplexes aufzubrechen und einen dreieckigen öffentlichen Platz entstehen zu lassen, der auf der einen Seite von dem klassizistischen Baukomplex und auf der anderen von einem zum Gänsemarkt orientierten Neubauflügel flankiert wird. Allerdings kann man kaum von einem «Flügel» sprechen. Miralles inszeniert einen nachgerade wüsten Material- und Formenmix aus Ziegel und Naturstein, Holz, Glas und Zink, der mehr wie ein Provisorium wirkt denn als fertige Architektur. Mal sind die Wände spitz, mal gebogen, und irgendwie wird das fragile Sammelsurium von Stahlstützen zusammengehalten. Dabei bezogen die Architekten nicht nur die Stirnseite des Baus aus den dreissiger Jahren ein, durch den sich nun der gläserne Erker einer Cafeteria hindurchbohrt, sondern integrierten Bauteile des abgebrochenen Riegels wieder in seine Anbauten. Eine jahrtausendealte, kulturhistorisch legitimierte Praxis: Von Spolien sprach früher, wer heute Recyclingmaterialien meint. Auf dem Platz fungiert schliesslich ein wie aus dem Baustellenchaos überkommenes Arrangement aus Stahlbetonwinkeln und Rohren als Brunnen.
Addition und Subtraktion
Miralles' Auftrag bestand allerdings nicht nur darin, eine Erweiterung des Rathauses zu konzipieren. Er hatte auch die bestehende Raumstruktur zu reorganisieren. Dafür wurde die Erschliessung grundsätzlich geändert: Man betritt nun den Komplex vom rückseitigen Platz aus und nicht mehr wie bisher an der repräsentativen Front zur Gracht. Die Skepsis gegenüber der darin zum Ausdruck kommenden grossen Geste bestimmt auch den Umgang mit den Innenräumen. Kaum etwas blieb so, wie es war: Einen ersten Eindruck erhält, wer das Foyer betritt und auf der freigelegten Wandecke vis-à-vis die historischen Bilder der Ratsherren und Bürgermeister wie zufällig verteilt sieht. Hier wie auch an anderen Stellen wurde der Putz streifenförmig oder flächig entfernt; das Mauerwerk liegt bloss, als habe die Bauforschung gerade mit Untersuchungen begonnen. Im Ratssaal werden solchermassen die Stürze und gemauerten Entlastungsbögen sichtbar, und vor die Mauern sind Stahlträger gestellt, welche die massiven Balken der nunmehr entfernten Zwischendecke stützen. Von den ondulierenden Tischreihen aus schweift der Blick weit durch den lichten Raum, bis hinauf in den offen gelegten Dachstuhl. In seinem Anbau fügte Miralles Altes zu Neuem, arbeitete additiv, synthetisch; hier, im bestehenden Bau, ist sein Vorgehen subtraktiv, analytisch.
Zweifellos wird Miralles' Utrechter Konzept nicht allen gefallen, schon gar nicht jenen, die in der gebauten Umwelt des Menschen vor allem das Postulat der Ordnung verwirklicht sehen möchten. Doch in seiner Radikalität ist der Umgang des Spaniers mit dem bestehenden Bau über Fragen des Geschmacks erhaben. Am Schein einer Harmonie zu kratzen, verborgene Schichten freizulegen, das ist selten mit solcher Obsession und doch so spielerisch versucht worden wie hier. Man kann über den Anteil an Bewusstheit, den Anteil an Zufälligkeit streiten, und doch offenbart das lustvoll-furiose, keineswegs zimperliche Vorgehen durchaus Liebe zum Bestehenden. Nachahmer aber seien gewarnt: Was leicht aussieht, ist schwer zu imitieren.
Produktivität sondergleichen
Miralles hat die Fertigstellung seines Rathausumbaus nicht mehr erleben können. Unerwartet ist er im Frühsommer im Alter von 45 Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Von seiner unbändigen Produktivität zeugt nun ein neuer Band der spanischen Monographienserie «El Croquis» - der vierte, den der Verlag dem Enfant terrible der spanischen Architekturszene widmet. Er gilt den Projekten, die Miralles seit 1993 mit der italienischen Architektin Benedetta Tagliabue plante und realisierte. Neben einigen kleineren spanischen Arbeiten sind dies vor allem internationale Aufträge: der Wohnkomplex auf der Halbinsel Borneo im östlichen Hafengebiet von Amsterdam beispielsweise und die Jugendmusikschule in Hamburg. Während diese unlängst vollendeten Projekte mit Fotos der ausgeführten Bauten dokumentiert werden, sind von den in Planung (oder Realisierung) befindlichen Grossprojekten der Architekturfakultät von Venedig sowie des schottischen Parlaments in Edinburg lediglich Modellfotos, Zeichnungen und Konzeptskizzen zu sehen. Zumindest das Rathaus in Utrecht hätte man problemlos einbeziehen können - wenn nicht heute auch im Rahmen der Architekturpublizistik die durch das Wolfsgesetz des Marktes diktierte Unsitte grassierte, das frühzeitige Erscheinen als wichtiger zu erachten als den eigentlichen Inhalt.
[El Croquis 100/101: Enric Miralles / Benedetta Tagliabue. El Croquis Editorial, Madrid 2000. 312 S., Fr. 109.-. ]
Architektur als Konglomerat
Hat man in Utrecht die endlosen Passagen des Geschäfts- und Einkaufszentrums «Hoog-Catharijne» durchquert, mit dem in den siebziger Jahren das einstige Bahnhofsquartier überbaut wurde, findet man sich unvermittelt im Stadtkern wieder, der bis heute den mittelalterlichen Zuschnitt bewahrt hat. Seine Lebensader bildet die geschwungene «Oude Gracht». Ihr Verlauf entstand im 12. Jahrhundert. In welchem Masse das einheitlich erscheinende Stadtbild in Wahrheit Flickwerk ist, zeigt ein Blick auf den Rathauskomplex. Denn die neoklassizistische Fassade von 1826, die sich mit ihrem Portikus ohne rechtes Gegenüber der Oude Gracht zuwendet, verschleiert - im wahrsten Sinne des Wortes - die Tatsache, dass sich in der Baustruktur drei mittelalterliche Gebäude verbergen: das Haus Lichtenberg sowie der Kleine und der Grosse Hasenberg. Eine Ahnung vom vorigen Zustand vermittelt noch das als Eckbau zum Gänsemarkt an das neoklassizistisch überformte «Stadhuis» anstossende Haus Kaiserreich aus dem Jahr 1410. Gut hundert Jahre nach der letzten Erweiterung machte wachsender Raumbedarf 1932 einen neuerlichen Anbau nötig: Auf der grachtabgewandten Nordwestseite entstand ein zusätzlicher Flügel in den etwas spröden Formen der damaligen Zeit.
Der vorerst letzte Umbau wurde nun von Enric Miralles und seiner Partnerin Benedetta Tagliabue vorgenommen, die für ihr Projekt 1997 den ersten Preis erhalten hatten. Archivare mögen wissen, ob die den Massstab sprengende klassizistische Prachtfassade einst die Gemüter erregte. Die jetzige Intervention zumindest wird von Teilen der Bevölkerung als Provokation empfunden. Wahrscheinlich deswegen, weil Miralles den umgekehrten Weg wählte als seine Vorgänger vor 175 Jahren: Statt Vielfalt in Einheit überzuführen, zerlegte er Einheit in Vielfalt, überführte er Homogenität in Heterogenität.
Er wolle zurückkehren zu der Idee eines städtischen Gebäudes als eines Konglomerates von Häusern, hatte der Architekt aus Barcelona erklärt. Damit bekannte er sich offen dazu, was neues Bauen seit je im innerstädtischen Zusammenhang bedeutet: Zerstörung des Alten. Niedergelegt wurde zunächst der Flügel von 1932, um die Konturen des Gebäudekomplexes aufzubrechen und einen dreieckigen öffentlichen Platz entstehen zu lassen, der auf der einen Seite von dem klassizistischen Baukomplex und auf der anderen von einem zum Gänsemarkt orientierten Neubauflügel flankiert wird. Allerdings kann man kaum von einem «Flügel» sprechen. Miralles inszeniert einen nachgerade wüsten Material- und Formenmix aus Ziegel und Naturstein, Holz, Glas und Zink, der mehr wie ein Provisorium wirkt denn als fertige Architektur. Mal sind die Wände spitz, mal gebogen, und irgendwie wird das fragile Sammelsurium von Stahlstützen zusammengehalten. Dabei bezogen die Architekten nicht nur die Stirnseite des Baus aus den dreissiger Jahren ein, durch den sich nun der gläserne Erker einer Cafeteria hindurchbohrt, sondern integrierten Bauteile des abgebrochenen Riegels wieder in seine Anbauten. Eine jahrtausendealte, kulturhistorisch legitimierte Praxis: Von Spolien sprach früher, wer heute Recyclingmaterialien meint. Auf dem Platz fungiert schliesslich ein wie aus dem Baustellenchaos überkommenes Arrangement aus Stahlbetonwinkeln und Rohren als Brunnen.
Addition und Subtraktion
Miralles' Auftrag bestand allerdings nicht nur darin, eine Erweiterung des Rathauses zu konzipieren. Er hatte auch die bestehende Raumstruktur zu reorganisieren. Dafür wurde die Erschliessung grundsätzlich geändert: Man betritt nun den Komplex vom rückseitigen Platz aus und nicht mehr wie bisher an der repräsentativen Front zur Gracht. Die Skepsis gegenüber der darin zum Ausdruck kommenden grossen Geste bestimmt auch den Umgang mit den Innenräumen. Kaum etwas blieb so, wie es war: Einen ersten Eindruck erhält, wer das Foyer betritt und auf der freigelegten Wandecke vis-à-vis die historischen Bilder der Ratsherren und Bürgermeister wie zufällig verteilt sieht. Hier wie auch an anderen Stellen wurde der Putz streifenförmig oder flächig entfernt; das Mauerwerk liegt bloss, als habe die Bauforschung gerade mit Untersuchungen begonnen. Im Ratssaal werden solchermassen die Stürze und gemauerten Entlastungsbögen sichtbar, und vor die Mauern sind Stahlträger gestellt, welche die massiven Balken der nunmehr entfernten Zwischendecke stützen. Von den ondulierenden Tischreihen aus schweift der Blick weit durch den lichten Raum, bis hinauf in den offen gelegten Dachstuhl. In seinem Anbau fügte Miralles Altes zu Neuem, arbeitete additiv, synthetisch; hier, im bestehenden Bau, ist sein Vorgehen subtraktiv, analytisch.
Zweifellos wird Miralles' Utrechter Konzept nicht allen gefallen, schon gar nicht jenen, die in der gebauten Umwelt des Menschen vor allem das Postulat der Ordnung verwirklicht sehen möchten. Doch in seiner Radikalität ist der Umgang des Spaniers mit dem bestehenden Bau über Fragen des Geschmacks erhaben. Am Schein einer Harmonie zu kratzen, verborgene Schichten freizulegen, das ist selten mit solcher Obsession und doch so spielerisch versucht worden wie hier. Man kann über den Anteil an Bewusstheit, den Anteil an Zufälligkeit streiten, und doch offenbart das lustvoll-furiose, keineswegs zimperliche Vorgehen durchaus Liebe zum Bestehenden. Nachahmer aber seien gewarnt: Was leicht aussieht, ist schwer zu imitieren.
Produktivität sondergleichen
Miralles hat die Fertigstellung seines Rathausumbaus nicht mehr erleben können. Unerwartet ist er im Frühsommer im Alter von 45 Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Von seiner unbändigen Produktivität zeugt nun ein neuer Band der spanischen Monographienserie «El Croquis» - der vierte, den der Verlag dem Enfant terrible der spanischen Architekturszene widmet. Er gilt den Projekten, die Miralles seit 1993 mit der italienischen Architektin Benedetta Tagliabue plante und realisierte. Neben einigen kleineren spanischen Arbeiten sind dies vor allem internationale Aufträge: der Wohnkomplex auf der Halbinsel Borneo im östlichen Hafengebiet von Amsterdam beispielsweise und die Jugendmusikschule in Hamburg. Während diese unlängst vollendeten Projekte mit Fotos der ausgeführten Bauten dokumentiert werden, sind von den in Planung (oder Realisierung) befindlichen Grossprojekten der Architekturfakultät von Venedig sowie des schottischen Parlaments in Edinburg lediglich Modellfotos, Zeichnungen und Konzeptskizzen zu sehen. Zumindest das Rathaus in Utrecht hätte man problemlos einbeziehen können - wenn nicht heute auch im Rahmen der Architekturpublizistik die durch das Wolfsgesetz des Marktes diktierte Unsitte grassierte, das frühzeitige Erscheinen als wichtiger zu erachten als den eigentlichen Inhalt.
[El Croquis 100/101: Enric Miralles / Benedetta Tagliabue. El Croquis Editorial, Madrid 2000. 312 S., Fr. 109.-. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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