Bauwerk

„Die Bundesschlange“
Georg Bumiller, Jörg Pampe, Müller, Rhode & Wandert, Irene Keil - Berlin (D) - 2000
„Die Bundesschlange“, Foto: Reinhard Görner
„Die Bundesschlange“, Foto: Christian Gahl
„Die Bundesschlange“, Foto: Werner Huthmacher
„Die Bundesschlange“, Foto: Christian Gahl

Die Bundesschlange

1. Oktober 2000 - Roderick Hönig
«Architektur im Volksmund», so könnte ein Buch heissen, das sich über Bauten in Berlin schreiben liesse. Die Berliner Schnauze erfindet immer wieder schnodderige, manchmal liebevolle, immer aber treffende Ausdrücke für die einheimischen Baumonumente: Der Fernsehturm am Alexanderplatz heisst «Telespargel», der unweit davon gelegene Palast der Republik «Palazzo Protzo», wegen seiner Masslosigkeit. Und gleich gegenüber der «Schwangeren Auster» im Tiergartenpark - einem ehemaligen Kongresszentrum, das seinen Spitznamen der waghalsigen Hängedachkonstruktion verdankt -, steht ein neues Beispiel, nämlich die «Bundesschlange».

Die 500 Meter lange, lässig geschwungene Wohnwand des Berliner Architekten Georg Bumiller ist das markanteste Stück des grössten Wohnbauprojektes in der Innenstadt Berlins. Sie beherbergt 437 der insgesamt 718 Wohnungen, die für Abgeordnete und Mitarbeiter des Bundestages vorgesehen waren. Das neue Quartier grenzt zur einen Seite an den Bundespräsidentensitz Schloss Bellevue und zur anderen ans Westende des von Axel Schultes und Charlotte Frank entworfenen anderthalb Kilometer langen «Bandes des Bundes», des grössten Bauprojekts für Parlament und Regierung in Berlin.

Trotz der zentralen Lage - den neuen Bundestag etwa erreicht man in nur 20 Gehminuten durch den lauschigen Tiergartenpark - scheint das Grundstück abseits zu liegen. Der Ort ist weder Vorstadt noch Zentrum. Seine «Landseite» liegt gegen Süden, gegen die idyllische und grüne Flusslandschaft mit Uferwanderweg; seine spröde «Stadtseite» liegt gegen Norden - hier rattern die Züge fast im Minutentakt über den Viadukt. Bei der Bebauung des schwierigen Grundstücks stellte sich die Frage nach der städtebaulichen Einordnung. Sollen die Rheinländer Bundesbeamten in einer kleinbürgerlichen Vorstadtsiedlung oder in einer Berlin-typischen Blockrandbebauung mit Hof und Hinterhaus wohnen? Die Antwort auf die - allerdings nicht explizit gestellte - Frage hatte ein Architekturwettbewerb im Jahre 1995 zu geben.

Der damals 38-jährige Bumiller stach seine 29 Konkurrenten mit dem Vorschlag für eine städtebauliche Zwitterlösung aus: Peripherie und City zugleich. Er strickte das vielgepriesene Spreebogenkonzept für die neuen Bundesbauten weiter, indem er eine der beiden grossen Alleen in sein Planungsareal hinein verlängerte. Diese Baumreihe teilt das Areal in zwei dreieckige Flächen und ist zum Rückgrat des Ensembles geworden. Auf der südlichen Seite zeichnete Bumiller seine kraftvoll geschwungene Schlange mit einem Kopfbau, auf der Nordseite setzte er um zwei offene Höfe herum vier städtisch wirkende Atriumhäuser. Die Realisierung musste er sich allerdings mit zwei andern Büros teilen: Die Architektur des Kopfgebäudes entwarf Jörg Pampe mit Irene Keil, die Gestalt der Atriumhäuser stammt aus dem Atelier der Architekten Müller Rhode Wandert.

Bumillers städtebauliche «Sowohl-als-auch-Lösung» rief in der Fachwelt heftige Diskussionen hervor. Konfliktpotential birgt Bumillers Überbauung deshalb, weil die derzeit den Wiederaufbau Berlins beherrschende Architektursprache eine traditionalistischere ist: Unter dem Schlagwort «Kritische Rekonstruktion» wird mit streng und behäbig wirkenden Neubauten einem Stadtbild aus der Gründerzeit Leben eingehaucht. Viele Bauten des neuen Berlins orientieren sich deshalb am Modell Blockrandbebauung mit Hof und Hinterhaus. Eine zweite Front bildete sich gegen die tatsächlich einfältige Idee der beiden Wohnbaugesellschaften, ein luxuriöses «Beamtenghetto» zu errichten.

Knapp ein Jahr nach der Fertigstellung hat sich die Aufregung gelegt, die Bundesschlange hat ihren festen Platz in der Metropole eingenommen, die Einwände der Kritiker haben an Gewicht verloren: Im Gegensatz zu den städtischen Atriumhäusern ist die Schlange fast vollständig vermietet, und das nicht nur an Bundesbeamte. Die meisten zogen es nämlich vor - wen wundert's -, nicht in ein Beamtenreservat, sondern in eine bereits gewachsene Nachbarschaft zu ziehen.

Die Schlange mit ihrer im Sonnenlicht sanft golden schimmernden Klinkerfassade empfängt Besucher und Bewohner auf der nördlichen Eingangsseite mit einer arenaartigen Fassadenwand, wohlkomponiert mit liegenden und stehenden Fenstern durchlöchert. Sie fasst drei gartenähnliche Höfe über der Tiefgarage. Hinter den grosszügigen Fensterbändern auf der Flussseite sind konsequent alle Wohnräume gegen Süden und den Tiergartenpark orientiert. So fällt - in den Aussenkurven natürlich mehr, in den Innenkurven leider weniger - den ganzen Tag Sonnenlicht in die Wohnzimmer.

Schade ist, dass die Bauherrschaft die von Bumiller vorgeschlagenen innenliegenden Wintergärten eingespart hat. Die meisten Wohnungen besitzen keinen privaten Aussenraum, sondern teilen sich den grossen öffentlichen Garten, den Tiergarten, der nun über die Spree bis an die Hausmauer heranreicht.

Die Wohnungen - überwiegend Zwei- und Dreizimmerwohnungen - sind zwischen 61 und 78 beziehungsweise zwischen 80 und 91 Quadratmeter gross. Für Berliner Verhältnisse ist die Raumhöhe von knapp 2,6 Meter eher gering. Der Innenausbau mit Parkett im Wohnbereich und einer funktional ausgestatteten Küche ist nicht luxuriös. Die Wohnungen leben denn auch nicht von einem exklusiven Ausbau, sondern vom Blick auf die beiden gegensätzlichen Landschaften. Man kann in der Schlange beim Anblick der über die Wiese hoppelnden Tiergarten-Kaninchen frühstücken und abends mit dem Licht einschlafen, das die S-Bahn an die Zimmerdecke wirft, deren Züge nachts wie Lichterketten durch die städtische Dachlandschaft auf der Nordseite ziehen.

Aber noch ist das Idyll nicht perfekt: Erst im späten Herbst wird der weite öffentliche Park der Zürcher Landschaftsarchitekten Kienast Vogt und Partner fertiggestellt sein. Mit seinen zu ovalen Hainen gruppierten Bäumen erstreckt er sich entlang des Ufers der Spree.

Und noch fehlt auch die kleine Brücke, die das neue Wohnquartier auf der Ostseite mit dem Tiergarten und den Bundesbauten verbinden soll. Auch scheint die andernorts in Berlin so erfolgreiche Umnutzung von Bahnbögen hier nicht voranzukommen. Erst ein Restaurant hat unter dem Viadukt seine Pforten geöffnet. Bis diese Schritte zur Integration des Quartiers in die Stadt getan sind, bleibt die Bundesschlange ein äusserst attraktiver, der Hauptstadt aber auf wundersame Weise entrückter Flecken.

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