Bauwerk

Ferriera
Livio Vacchini - Locarno (CH) - 2003
Ferriera, Foto: Hans Ege
Ferriera, Foto: Hans Ege
Ferriera, Foto: Hans Ege
Ferriera, Foto: Hans Ege

Schwebender Stahlkäfig

Livio Vacchinis gebauter Architekturtraktat

Im Quartiere Nuovo von Locarno hat der siebzigjährige Tessiner Livio Vacchini mit der von einem Stahlgitter umhüllten «Ferriera» ein Geschäftshaus realisiert, das die Quintessenz seines rationalistischen Neuklassizismus darstellt.

15. Januar 2004 - Roman Hollenstein
In einer Zeit, da die Baukunst sich mit heiteren Fassadenspielereien und bombastischen Inszenierungen um Popularität bemüht, haben Architekten, die sich ernsthaft mit Theorie und Regelwerk befassen, einen schweren Stand. So wundert man sich nicht, dass Livio Vacchinis Bauten vom breiten Publikum kaum wahrgenommen werden, auch wenn sie in der Konsequenz ihrer Ausführung durchaus Emotionen wachrufen können. Diese reichen von der Begeisterung vieler Architekten bis hin zur heftigen Ablehnung jenes wütend gestikulierenden Herrn, der jüngst das neuste Werk des siebzigjährigen Tessiners, das Geschäftshaus «La Ferriera» in Locarno, lautstark als «Orrore della città» beschimpfte. Diese «Eisenkiste» (NZZ 27. 2. 03) verbindet im gründerzeitlichen Quartiere Nuovo mittels einer Galerie die Via Ciseri und die Via Luini.

Mit ihrem alle vier Fassaden umhüllenden Gitterwerk aus braunschwarzem Stahl, bei dem sich Transparenz und Verschleierung die Waage halten, bildet die Ferriera einen in der Höhe halbierten Würfel. Trotz seinem Gewicht von 1200 Tonnen scheint dieser mächtige Metallkäfig über acht gedrungenen Betonpfeilern zu schweben, fast wie Le Corbusiers Pilotis-Bauten. Aufgrund der Massstabslosigkeit will das Auge jedem der elf übereinander liegenden, aus quadratischen Rasteröffnungen bestehenden Fassadenstreifen eine Etage zuordnen. Damit nimmt das in Wahrheit nur sechsgeschossige Gebäude geradezu grossstädtische Dimensionen an - vergleichbar mit Steven Holls unlängst vollendetem Studentenheim in Cambridge, Massachusetts (NZZ 4. 7. 03), das auf den ersten Blick ähnliche Fassaden aufweist. Doch anders als Holls Wohnmaschine verzichtet Vacchinis rigides Geschäftshaus auf liebliche Farbakzente und regelwidrige Durchbrüche.

Metropolitanes Gebäude

Ein halbtransparentes Erdgeschoss und das die Obergeschosse verhüllende Stahlgitter verleihen der Ferriera eine beinahe surreale Erscheinung. Die ebenso abstrakte wie hermetische Gesamtform macht dieses Geschäftshaus - ähnlich wie Vacchinis Postgebäude von 1997 am Eingang von Locarnos Piazza Grande - aber auch zu einem Verwandten von Arne Jacobsens Nationalbank in Kopenhagen. Doch während dessen Bankpalast sich wie ein Tempel über einem massiven Sockel erhebt, interpretiert Vacchini das antike Vorbild anders: Er erklärt die Stadt selbst zum Sockel, placiert das «Säulengeschoss» auf Strassenniveau und ordnet dem Architrav sowie dem Giebel die auf je zwei Pfeilern pro Fassade ruhende Gitterhülle zu, hinter der sich als Gebäudekern eine doppelte, sechs Geschosse in die Höhe strebende «Cella» verbirgt. Erinnern die acht mittig angeordneten Pfeiler und das kassettierte stählerne «Gebälk» der Fassadenhaut an Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, so stellt die Ferriera insgesamt eine Weiterentwicklung von Mies' Seagram Building in New York dar. Doch während bei diesem eine vorgeblendete Curtain Wall die Tektonik auf der Fassade nachzuzeichnen sucht, wird bei Vacchinis Bau die Konstruktion durch das Raumgitter bewusst verschleiert.

Erst wenn man hinaufschaut in die rund anderthalb Meter tiefe raumhaltige Gebäudehülle, erblickt man Stahlbalken, welche die Geschossebenen des inneren Doppelhauses an das tragende Gitterwerk binden. Diese neuartige, mit dem Chitinpanzer eines Schalentiers vergleichbare Konstruktion befreit den Innenbau vom sonst üblichen Skelett der Stützen und der Pfeiler. Zugleich übernimmt sie als gigantische Sonnenblende die Funktion der Klimahaut und erzeugt mit den dahinter liegenden hellen Wandflächen stets neue Lichteffekte: von bleiernem Schwarz bis zu lichtem Stahlblau. Dieser Wechsel sorgt für eine Dynamik, welche die Fassaden, wie Vacchini begeistert festhält, bald «männlich stark», bald «weiblich empfangend» erscheinen lässt, was dem kompromisslosen Bau eine humane Dimension verleiht. Auf das Chaos des vom Boom der letzten Jahrzehnte geschundenen Quartiere Nuovo kann er so - im Dialog mit dem spätklassizistischen Palazzo del Pretorio von Ferdinando Bernasconi - klärend und festigend einwirken.

Von Nizza nach Locarno

Ausgangspunkt der in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht wichtigen, mit Gesamtkosten von rund 25 Millionen Franken aber vergleichsweise preisgünstigen Ferriera war ein Wettbewerbsprojekt, das Vacchini zusammen mit Silvia Gmür Ende der neunziger Jahre für das neue Rathaus von Nizza konzipiert hatte. Es sollte aus zwei von Gitterhüllen aus Beton umfassten Würfeln von je 50 Metern Seitenlänge bestehen. Die Perle der Côte d'Azur hätte mit diesen minimalistischen Zwillingskuben, zu denen noch eine quadratische Wasserfläche und ein Palmenhain gekommen wären, eine wegweisende Architektur erhalten. Doch scheiterte Vacchinis rigorose Vision am Kleinmut der Jury.

Kurz nach dem niederschmetternden Juryentscheid sprach dann Mitte 2000 die Rentenanstalt Swiss Life bei Vacchini wegen des Grundstücks an der Via Luini in Locarno vor, für das er Ende der achtziger Jahre einen Entwurf erarbeitet hatte. Im Laufe der Verhandlungen vermochte Vacchini die Bauherrschaft für ein neues Projekt zu begeistern, in welchem er die zentrale Idee von Nizza weiterentwickelte. In Rekordzeit entstand daraufhin - nicht zuletzt dank dem Einsatz vorgefertigter Stahlelemente - der allansichtige Halbkubus der Ferriera, deren rationalistischer Klassizismus sich etwa in den Proportionen von 20×35×50 Metern oder in dem von zwei Symmetrieachsen dominierten Grundriss zeigt. Hinter der dunklen Gebäudehülle, die mit ihren leeren Öffnungen und den verdichteten Ecklösungen an Palladios Basilica in Vicenza denken lässt, verbergen sich zwei fünfstöckige Längsbauten, die durch eine überdachte, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Einkaufsgalerie voneinander getrennt sind. Als Antithese zur Shopping-Mall stellt die Galleria - wie der Bau ganz allgemein - ein Bekenntnis zur mediterranen Stadt dar, die den suburbanen Idealen eines Rem Koolhaas diametral entgegensteht.

Der Klarheit von Vacchinis Architektur entsprechend, beruhen die beiden den Nukleus des Gebäudes bildenden Innenbauten auf einem einfachen Plan: An den zur Galerie hin orientierten Ecken der beiden spiegelverkehrt identischen Baukörper sind zur konstruktiven Versteifung des Gebäudes vier Treppentürme mit Lifts und Nasszellen angeordnet. Dazwischen spannt sich auf jeder Etage ein völlig stützenloser und daher frei unterteilbarer loftartiger Grossraum von rund 50×13 Metern. Da die Wände (ausser an den durch die Erschliessungszonen markierten Ecken) verglast sind, öffnet sich ein weiter Rundblick auf Stadt, See und Gebirge, der durch das aussen vorgesetzte Gitterwerk gefiltert wird. Dadurch stellt sich in den Grossraumbüros ein Mansardeneffekt ein, der Vacchinis Idee einer Tragkonstruktion in Form eines abstrahierten «Tempelgebälks» auch innen spürbar macht.

Quintessenz von Vacchinis Schaffen

Mit dem logisch aus der Tradition hergeleiteten, sich zum dreidimensionalen «Ornament» verdichtenden Stahlgitter, aus dem man den ganzen Bau herleiten kann, stellt die Ferriera (deren Wurzeln zurückreichen bis zum 1965 in Bellinzona realisierten Bürohaus Fabrizia) die Quintessenz von Vacchinis Theorie und Praxis dar. Trotz seiner klassischen Rationalität wirkt dieser Geschäftstempel weder monumental noch einschüchternd. Vielmehr sorgen die mit viel Sensibilität gemeisterten Proportionen für eine Poesie des Minimalen - etwa bei dem als Reverenz an die Arkaden der Piazza Grande interpretierbaren, exakt nach Le Corbusiers Modulor proportionierten «Portikus» mit seinen acht leicht abgeschrägten Pfeilern. Vacchini hat mit diesem geschichtsbewussten Bau einen ebenso wichtigen wie innovativen Beitrag zur zeitgenössischen Geschäftshausarchitektur geleistet, die hierzulande seit langem kaum mehr mit interessanten Neuerungen aufwarten konnte.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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