Bauwerk

Victoria Versicherung - Büro- und Geschäftshaus
Jean Nouvel - Frankfurt / Main (D) - 1999

Der Keuschheitsgürtel der Architektur

Ein gestrandetes Geschäftshaus von Jean Nouvel in Frankfurt

Internationaler Architekturimport bestimmt das Stadtbild von Frankfurt. Um das Grossstädtische, das die Skyline verspricht, einzulösen, werden Architekturkoryphäen nun auch mit kleineren Aufträgen betraut. Jean Nouvels Beitrag zur Geschäftsmetropole scheiterte aber an den Auflagen des Denkmalamts, das eine Politik strikten Konservierens von bestehenden Bauhüllen verfolgt.

19. Januar 2000 - Serge von Arx
«Das Neue Frankfurt» spielte in den zwanziger und dreissiger Jahren unter dem Stadtbaurat Ernst May eine Vorreiterrolle im Siedlungsbau. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Wiederaufbauarbeiten zur Linderung der Wohnungsnot im Vordergrund, und in den siebziger Jahren wurden die architektonischen Grundsteine der heutigen Finanzkapitale gelegt. Die sozialpolitischen Planungsaspekte, die einst die Stadtentwicklung prägten, wichen den marktwirtschaftlichen von heute. Doch erst in den achtziger Jahren löste sich Frankfurt am Main vom Ruf des Unwirtlichen. Mit regem Architekturimport sollte die Stadt eine neue Identität erhalten. Architektenkoryphäen aus aller Welt flochten eine Stadtsilhouette nach dem Vorbild amerikanischer Metropolen. Sobald man jedoch von der Skyline weg auf den urbanen Raum blickt, verblasst das Grossstädtische. Dem könnte die Stadt mit einer Architekturpolitik des kleinen Massstabs begegnen, bewahrte sie auch abseits der prestigeträchtigen Grossprojekte ihre Grosszügigkeit im Umgang mit der bestehenden Bausubstanz.


Die architektonische Erblast

1991 erhielt der Architekt Jean Nouvel, der mit dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern einmal mehr demonstrierte, dass sein Name Garant für gute Architektur ist, von der Victoria Lebensversicherung den Direktauftrag für ein repräsentatives Büro- und Geschäftshaus im Zentrum von Frankfurt. Auf dem 1500 Quadratmeter grossen Grundstück am Goetheplatz, der an die zentrale Einkaufsmeile angrenzt, stand der Torso eines zu Beginn dieses Jahrhunderts errichteten Sandsteinbaus. Da der Goetheplatz vor dem Zweiten Weltkrieg eine schmale Gasse war, erhielt allein dessen gut sichtbare Gebäudeecke ein stattliches Dekor. Das Bombardement der Alliierten verschonte lediglich den Rumpf des klassizistischen Baus; die gegenüberliegende Gebäudezeile wurde vollständig zerstört. Erst während der Wiederaufbauarbeiten entstand der neue, grosszügige Platz, der der Längsfassade ihre heutige städtische Prominenz verliehen hat. Das erhaltene Gebäudefragment wurde unter Denkmalschutz gestellt, bildete den Ausgangspunkt des Nouvelschen Entwurfs und begründete später den Rücktritt des französischen Architekten.

Seinen kritischen Umgang mit alter Bausubstanz hatte Nouvel schon mehrfach, im besonderen beim Umbau der Oper in Lyon, bewiesen. Klemmte er dort den Opernsaal wie einen Monolithen in die alte Fassadenstruktur, so sollte das Baurelikt in Frankfurt museal in einer Vitrine ausgestellt werden. Das Denkmalamt stemmte sich aber gegen den aus seiner Sicht respektlosen Umgang mit dem baulichen Erbe und verlangte eine Überarbeitung des Projekts. Der zweite Entwurf erfuhr dann aus finanziellen Gründen derartige Abänderungen, dass sich Nouvel vom Projekt zurückzog. Auch das Angebot der Bauherrschaft, er möge die künstlerische Leitung übernehmen, lehnte Nouvel ab. Mit der Zustimmung Nouvels wurde 1997 ein neuer Vertrag abgeschlossen, und so fiel das 40 Millionen Mark teure Bauprojekt zur Überarbeitung und Ausführung ganz unter die Obhut der Frankfurter Projektpartner Hommel & Rodrian, die von Nouvel schon früh als Kontaktarchitekten vor Ort beigezogen worden waren.

Im August 1999 erhielt Frankfurt also seinen «Nouvel-Bau» - wenn auch einen gebändigten. Die klassizistische Fassade wurde konventionell in die neue Glasfassade integriert. Die Handschrift des Meisters ist dabei zwar noch lesbar, die Grosszügigkeit in der kritischen Ausformulierung ging aber verloren. Der sensible Umgang mit dem klassizistischen Erbe lässt sich am Aufbau des vollständig verglasten Bürobaus erahnen: Das die Krümmung der Strasse aufnehmende, in der Mitte leicht geknickte Bauwerk wird in seiner Zentralachse erschlossen und deutet dort einen hohlen, innenliegenden Mittelrisaliten an. Beschützend ragt eine abgespeckte Variation der monumentalen Luzerner Dachkonstruktion über die erhaltene Gebäudeschale hinaus, indem sie die eine Gerade des Grundstücks unbeirrt fortführt und sie scharf in den davorliegenden Platz stechen lässt. Die horizontale Fassadengliederung des Altbaus bildet sich leicht versetzt in den Sonnenblenden der regelmässigen Glashaut fort und unterteilt die sechs unterhalb des Daches liegenden Etagen. Darüber befindet sich eine Art Attikageschoss, das vom Platz her aber kaum wahrnehmbar ist. Das für Läden reservierte Erdgeschoss dehnt sich in den Keller und ins erste Obergeschoss aus. Die Unterteilung der einzelnen Büroräume innerhalb des Stützenrasters obliegt den jeweiligen Benutzern.

Konservieren von Schalen
In Anbetracht der geschehenen und anstehenden baulichen Umwälzungen im und am Stadtzentrum - die Deutsche Bahn nimmt nun nach langem Hin und Her mit der Deutschen Bank, nach verschiedenen geplatzten Bauprojekten und einigen Wettbewerben auf dem 90 Hektar grossen Gelände des Hauptgüterbahnhofs den ersten Bauabschnitt des «Europa-Viertels» mit Urban Entertainment Center und Millennium-Turm in Angriff (NZZ 6. 11. 98) - überrascht dieser keusche Umgang Frankfurts mit seinem architektonischen Erbe. Dass die Stadt am Boden eine andere Architekturpolitik verfolgt als in der Luft, erfuhr schon Norman Foster beim Bau der Commerzbank (NZZ 4. 4. 97), deren untere Geschosse die Struktur und die Materialien der baulichen Umgebung aufnehmen mussten.

Während der Wolkenkratzer das ganze Augenmerk auf seine imposante Vertikalität lenkt, muss sich der Bau der Victoria Versicherung in der Horizontalen des Stadtgeflechts behaupten. Er bildet dabei aber keineswegs die Ausnahme. Auf der Baustelle gegenüber dem «Nouvel-Bau» stehen noch die sich an Stahlkrücken festhaltenden, herausgeschälten Fassaden des Vorgängers, und an der Stirnseite des Platzes wölbt sich ein Dachausbau wie ein metallenes Geschwür aus seinem klassizistischen Gebäuderumpf. Die Reduktion des architektonischen Erbes auf eine oberflächliche Erscheinung im Stadtbild wird zum hypokritischen Ausdruck unserer Epoche und hindert die Baukunst daran, als identitätsstiftender Pfeiler einer Kultur ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Mit dem zurechtgestutzten «Nouvel-Bau» als kritischer Stellungnahme zu dieser Thematik hat Frankfurt die Chance verpasst, auch im Kleinmassstäblichen urbanistische Zeichen zu setzen. Die von Nouvel geforderten Rätsel, die jedes Bauwerk aufwerfen sollte, sind im Geschäftshaus am Goetheplatz nicht wiederzufinden - dies mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb er sich vom Bau distanziert hat.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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