Bauwerk

Lutherhaus - Umbau
Christine Hoh, Helge Pitz - Wittenberg (D) - 2003

Schöne Aussichten

Bauliche Erneuerung des Lutherhauses in Wittenberg

21. Juli 2004 - Jürgen Tietz
Seit 1996 zählt das Lutherhaus in Wittenberg, in dem der Reformator Martin Luther seit 1511 lebte, zum Weltkulturerbe. Jetzt wurde das vielschichtige Baudenkmal durch das Berliner Architekturbüro von Helge Pitz und Christine Hoh auf beispielhafte Weise hergerichtet und um einen minimalistischen Eingangsturm aus Beton ergänzt.

Der Ausblick ist malerisch: Er reicht über den kleinen Garten hinter dem Lutherhaus in Wittenberg hinab zu den grünen Elbauen und weiter, tief in das Land hinein, das sich im Dunst des Horizonts verliert. Das also könnte er gewesen sein, der Ausblick, den der Reformator aus seiner Arbeitsstube genossen hat. Ein Ort von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn hier durchlebte Luther - vermutlich im Winter 1513 - sein berühmtes «Turmerlebnis». Es gilt als die eigentliche Geburtsstunde der Reformation. Denn damals kam ihm bei der Lektüre des Römerbriefes des Paulus die Erkenntnis, dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbar werde.

Alte Fundamente
Erhalten hat sich Luthers Turm jedoch nicht. An seiner Stelle steht heute das neue Empfangsgebäude der Luthergedenkstätte. Erst bei den Vorbereitungen für den Neubau kamen im Jahr 2000 die alten Fundamente wieder zum Vorschein. Einst Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung, fand sich der Turm noch bis in das 18. Jahrhundert auf Wittenberger Stadtansichten. Irgendwann um die Jahrhundertmitte wurde er abgetragen. Allein ein später vermauerter Durchgang, der von einer Ecke in Luthers Wohnhaus ins Arbeitszimmer führte, erinnerte noch an ihn. Das Lutherhaus ist voll von derartigen Veränderungen früherer Jahrhunderte, in denen sich die wechselvolle Nutzungsgeschichte dieses komplexen Baudenkmals spiegelt. In den letzten 500 Jahren diente es zunächst als Kloster, später als Wohnhaus Luthers und dann der Wittenberger Universität. Nach deren Niedergang infolge des Dreissigjährigen Krieges wurde es zum Lagerhaus und später zum Militärlazarett. Im 19. Jahrhundert restaurierte der Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler das Gebäude grundlegend und verlieh der neu eingerichteten Luthergedenkstätte ihr romantisierendes Gepräge, das im 20. Jahrhundert in Teilen wieder zurückgenommen wurde. 1996 wurde das Baudenkmal schliesslich als Teil der Luthergedenkstätten in den Kreis des Weltkulturerbes aufgenommen.

Luther lebte seit 1511 im sogenannten Schwarzen Kloster, dessen Name auf die schwarzen Kutten der Augustiner anspielte. Dort blieb er auch wohnen, als sich die Kongregation 1522 auflöste und er 1525 die ehemalige Nonne Kathrina von Bora heiratete. Sieben Jahre später übereignete ihm Kurfürst Johann das Gebäude - was massive Umbauten nach sich zog. Zu ihnen zählte das prachtvolle spätgotische Katharinen-Portal, ein Geschenk von Luthers Frau. Bis vor wenigen Jahren diente es allen Besuchern der Luthergedenkstätte als Eingang. Inzwischen aber ist es geschlossen. Stattdessen betreten die Besucher das Museum durch den neuen Eingangs- und Treppenhausturm. Entworfen wurde er von dem Berliner Büro Helge Pitz und Christine Hoh, das sich durch einen sensiblen Umgang mit herausragenden Baudenkmalen wie dem Potsdamer Einsteinturm von Erich Mendelsohn oder Hans Scharouns Villa Schminke in Löbau einen Namen gemacht hat.

Der neue Betonkubus hebt sich deutlich vom historischen Bestand ab und schafft zugleich eine Anbindung an die Erweiterung des Lutherhauses aus den dreissiger Jahren. Dorthin wurden auch die gesamten Nebennutzungen der Gedenkstätte ausgelagert, vom Buchladen bis zum Sanitärbereich. Dank dem gerade einmal vier Meter breiten Eingangsbau, der an die Stelle eines alten Holzverschlags getreten ist, bleibt die Westfassade des Lutherhauses ein Teil des Innenraums. Dadurch sind die unterschiedlichen Strukturen und Fragmente von Verputzen an der Fassade vor der Witterung geschützt, die vom 16. bis ins späte 20. Jahrhundert reichen. Wie ein aufgeschlagenes Buch breiten sie sich vor den Besuchern aus und vermitteln ihnen trotz ihrer bruchstückhaften Form einen unmittelbar sinnlichen Eindruck von den Spuren der Geschichte. Dabei haben sich auch Teile jenes Quaderputzes erhalten, mit dem Stüler das Lutherhaus im 19. Jahrhundert überzog - ehe es in den dreissiger Jahren wiederum einen glatten Putz erhielt.

Exemplarische Denkmalpflege
Indem Pitz und Hoh für eine Bewahrung aller Schichten des Baudenkmals eintraten, wurden sie der Komplexität seiner Baugeschichte gerecht. Gerade mit Blick auf den teilweise weit weniger sensiblen Umgang mit anderen Beispielen des Weltkulturerbes in Deutschland - etwa mit einigen Bauten auf der Berliner Museumsinsel - bietet das Lutherhaus in Wittenberg ein denkmalpflegerisches Vorbild. Dies gilt umso mehr, als sich der behutsame Ansatz der Architekten auf das gesamte Haus erstreckt. So wurden auch an den anderen Fassaden die historischen Putze aus den dreissiger und neunziger Jahren erhalten - einschliesslich jenes Probefeldes, das eine Imitation von Stülers Rustikaputz zeigt, der noch vor wenigen Jahren für den ganzen Bau vorgesehen war!

Im Inneren der Gedenkstätte zeigen die meisten Räume eine helle Wandfarbe. Darunter sind die Wandmalereien und Vertäfelungen früherer Epochen sicher geborgen, deren aufwendige Freilegung und Restaurierung das schmale Budget von rund fünf Millionen Euro für die Herrichtung bei weitem gesprengt hätte. Den massivsten Eingriff in die Substanz bildete der Austausch von Stahlträgern aus den dreissiger Jahren. Sie waren damals eingezogen worden, um die gusseisernen Träger des 19. Jahrhunderts in der von Stüler gestalteten Bildergalerie zu verstärken. Bar jeder Historismen, wie sie derzeit gelegentlich in der deutschen Denkmalpflege zelebriert werden, akzentuiert der strenge neue Treppenhausturm aus Beton die Elbfassade des Denkmals und ergänzt den historischen Bau um eine eindeutig moderne Facette. So wie der einstige Turm der Stadtbefestigung tritt auch der neue Eingangsbau leicht aus der Flucht hervor. Ein schmaler Fensterschlitz markiert dabei jenes Fenster, aus dem Luther in seiner Studierstube geblickt haben mag - ein besonderes Turmerlebnis für jeden, der von hier auf die Elbauen schaut. Obwohl er denselben Ausblick wie einst der Reformator geniesst, wird er im Wissen um die Geschichte doch stets die Gegenwart vor Augen haben.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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