Bauwerk

Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Architekten ArGe HAAB - Weimar (D) - 2005

Ende der Zwangspause

Anna-Amalia-Bibliothek mit neuem Studienzentrum

5. Februar 2005 - Joachim Güntner
Fünf Monate ist es her, dass in Weimar eine spätabendliche Feuersbrunst das Dachgeschoss der Anna-Amalia-Bibliothek und die 2. Galerie ihres herrlichen Rokokosaals zerstörte. Fünfzigtausend Bücher wurden ein Raub der Flammen, mehr als sechzigtausend erlitten vor allem durch das Löschwasser schwere Schäden und mussten eiligst zur Gefriertrocknung nach Leipzig verbracht werden. Als bittere Ironie erschien der Zeitpunkt des Brandes: nur wenige Wochen später, und der Umzug aller Bücher in das neue unterirdische Magazin der Bibliothek wäre abgeschlossen gewesen. Zwar frass das Feuer bloss einen Bruchteil der Bestände, und zahlreiche historische Kostbarkeiten blieben verschont, da sie aus Platzmangel längst in Ausweichmagazinen weilten. An einen Leihverkehr war gleichwohl nicht mehr zu denken. Der Brand hatte die Bibliothek im Zentrum getroffen. Für zahlreiche Wissenschafter und ihre Forschungsprojekte begann eine böse, eine bücherlose Zeit.

Behutsam integrierte Moderne

Seit gestern hat die Zwangspause ein Ende. Mit einem Festakt eröffnete die Anna-Amalia-Bibliothek ihr neues Studienzentrum, einen lang ersehnten und gleich nach der deutschen Einheit projektierten Erweiterungsbau, der den Nutzern die Vorzüge einer modernen Forschungsbibliothek bietet. Das aus einem internationalen Wettbewerb siegreich hervorgegangene Konzept der Architektengemeinschaft Barz-Malfatti, Schmitz und Rittmannsperger (Weimar/Erfurt) besticht durch Schönheit, Funktionalität und einen behutsamen Umgang mit der Tradition. Mehrere historische Baukörper, darunter das sogenannte Rote und Gelbe Schloss, zuletzt Adresse der Stadtverwaltung, erfuhren eine Umnutzung. Zwei Tiefmagazine verbinden das weitläufige Ensemble einschliesslich des Stammgebäudes zu einem Ganzen. Nach aussen kenntlich ist die Modernität des Umbaus nur im Eingangsbereich des Studienzentrums, und auch auf dieses Entrée stösst man erst, wenn man den Innenhof des Schlosses betritt. Hier erhebt, eingezwängt zwischen Zeugnissen der Vergangenheit, ein Neubau seine von hohen Fenstern beherrschte klare Fassade.

Grosszügigkeit empfängt den Eintretenden. Nach wenigen Schritten gelangt er in die «ruhige Mitte» des heterogenen Erweiterungsbaus, einen Bücherkubus, in dessen Parterre ein für alle frei zugänglicher Lesesaal eingerichtet wurde. Dieser Lesesaal, nach oben hin drei Etagen durchbrechend, hat es in sich. Mit seinen von Bücherregalen gesäumten Galerien und den Oberlichtern bildet er das Pendant zum Rokokosaal der alten Bibliothek; nur kündet hier die Architektur von der Herrschaft des Rechtecks statt von der Liebe zum Oval. Angenehm kontrastiert das Schwarz schwerer Ledersessel zum hellen Holz des Fussbodens und der Regale. Stehlampen sollen die Behaglichkeit verstärken. Der Besucher ist noch gar nicht in die eigentliche Bibliothek vorgedrungen, er hat noch keine Schranke passiert und keinen Benutzerausweis vorzeigen müssen, da empfängt er in Gestalt dieses Lesesaals bereits eine erstklassige Visitenkarte.

Der gute Eindruck setzt sich fort. Woher nur nimmt der arme deutsche Osten das Geld für so wunderbare Bibliotheksbauten? Selbst die roh belassenen Betonwände wirken in diesem Ambiente splendid. Edle Materialien, Designerleuchten und automatische Sonnenblenden gehören wie selbstverständlich zum zweiten, im Freihandbereich gelegenen Lesesaal. Arbeitsstühle mit mehr als kopfhohen Rückenlehnen laden dazu ein, die bis in den Abend verlängerte Öffnungszeit der Bibliothek auszukosten. 130 (statt zuvor 30) Arbeitsplätze unterschiedlichen Komforts, vom kleinen Kabinett mit eigenem Regal und Schreibtisch bis zum schmalen Platz für kurze Lektüren, sind in den Abteilungen der Freihandbibliothek verteilt. Dort hat man hunderttausend Bücher für den unmittelbaren Zugriff aufgestellt, weitere Forschungsliteratur wartet in den neuen Magazinen, die für eine Million Bände ausgelegt sind. Stellflächen für den Zuwachs der nächsten vierzig Jahre habe man gewonnen, hiess es anfangs. Von nur noch zwanzig Jahren spricht man jetzt.

Es geht nicht allein um Zugewinn an Fläche. Bibliotheksdirektor Michael Knoche kehrt das neue Konzept heraus, den Sprung der Anna Amalia von einer Fürstenbibliothek, deren Entwicklung im 19. Jahrhundert stecken geblieben ist, zur «benutzerorientierten Forschungsbibliothek» auf der Höhe der Zeit. So soll die Lieferung eines Buches aus dem Magazin künftig nicht mehr lästige 24 Stunden, sondern 24 Minuten benötigen. Wegen der Brandnacht des 2. September 2004 kommt dem Studienzentrum ungeahnte Bedeutung zu. «Ohne diese Fertigstellung hätten wir gar keine Chance, mit den Brandverlusten vernünftig umzugehen», sagt Knoche.

Die Lage am Brandort

An der Brandstätte herrscht Optimismus, den Schaden beheben zu können, doch der Rokokosaal sieht noch trostlos aus. Das Löschwasser hat das Gebäude «bis zur Sättigung» getränkt. Der alte Schwamm erhielt neue Nahrung, und sehr rasch setzte die Schimmelbildung ein. Also hat man aus den Holzdecken und Fussböden bis auf die tragenden Balken fast alles herausgerissen, um die Trocknung zu befördern. Grosse Rohre für Abluft durchziehen den Raum, an der Seite sorgt ein starkes Gebläse für Luftzirkulation. Ein Jahr rechnet der Denkmalschützer der Stiftung Weimarer Klassik, bis alle hölzernen Materialien trocken sein werden. Ungleich länger, geschätzte zwanzig Jahre, wird das steinerne Erdgeschoss brauchen, das noch aus der Renaissance stammt. Dieselbe Spanne rechnen die Restauratoren für die Wiederherstellung aller beschädigten Bücher, von denen eine erste erfolgreich gefriergetrocknete Ladung demnächst eintreffen soll. Gänzlich in den Sternen steht der kriminologische Befund über die Brandursache. Die zuständigen Behörden haben bis heute kein Ergebnis vorgelegt und meiden den Kontakt zur Bibliotheksleitung. Schon wittert man in Weimar «politische Gründe» für den Mangel an Aufklärung und spekuliert, Verantwortlichkeiten für den Brand würden vertuscht.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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