Bauwerk

Bibliothèque nationale de France
Dominique Perrault - Paris (F) - 1996
Bibliothèque nationale de France, Foto: Barbara Staubach / ARTUR IMAGES

Ein Massengrab für Bücher?

Probleme der Pariser Nationalbibliothek

10. Juli 1999 - Jürgen Ritte
Ein gewisser Hang zum Pharaonismus ist der architektonischen Hinterlassenschaft des 1996 verstorbenen Staatspräsidenten François Mitterrand nicht abzusprechen, auch wenn die Halbwertzeit so manchen Grossprojekts - Opéra de la Bastille oder Grande Arche in La Défense - bedeutend kürzer auszufallen droht als etwa bei ägyptischen Pyramiden. Was aber Mitterrands letzten Bauwillen angeht, die Très Grande Bibliothèque im Pariser Osten, so fühlen sich einige Pariser Zeitgenossen weniger an Gizeh oder Luxor erinnert als an die biblische Turmbaupleite zu Babel. Tatsächlich sehen sie in den vier Glastürmen des Stararchitekten Dominique Perrault, der neuen Heimstatt der französischen Nationalbibliothek, nichts als die schauerliche Kulisse für eine babylonische Bücherverwirrung von wahrhaft kolossalem Ausmass.

Schon unmittelbar nach dem Stapellauf am vergangenen 9. Oktober (NZZ vom 10. 11. 98) hatte diese Arche Noah der Wissenschaft und Bildung Leck geschlagen: Kaum eröffnet, blieb die Bibliothek einen Monat lang geschlossen. Das in Windeseile informatisierte Katalog- und Reservationssystem spielte verrückt, ein Teil des Personals, in dunklen Kellernischen untergebracht, wurde es. Sein Arbeitsraum war den Büchern geopfert worden, für die der Platz, trotz dem riesigen Bauvolumen, trotz den 8 Milliarden Francs, die das Projekt verschlungen hatte, nicht reichte. Tatsächlich hatte Perrault - laut Ausschreibungstext - eine «médiathèque» entworfen, eine Art Bild- und Schallarchiv mit Platz für höchstens zwei Millionen Bücher. In seinem unergründlichen, aber zweifellos weisen Ratschluss entschied der baufreudige Präsident indes anders: Perraults Gebäude sollte die schönste, grösste und modernste Bibliothek der Welt aufnehmen - mit knapp zwölf Millionen Büchern und Dokumenten. Er hatte, o Wunder, ein Schwimmbecken in ein Fussballstadion verwandelt.

Die Direktion der neuen Nationalbibliothek warb damals um Verständnis für die unvermeidlichen «Kinderkrankheiten» eines so ambitionierten Unterfangens. Aber nun hat die höchst seriöse Zeitschrift «Le débat», die die neue Nationalbibliothek seit langem mit skeptischem Blick begleitet, unter Leitung des Historikers Philippe Nora einen Kummerkasten für frustrierte Wissenschafter und Forscher aus mehreren Ländern eröffnet. Was da an Pariser Bibliotheksabenteuern (oder besser: -albträumen) zu lesen ist, lässt kein Auge trocken. Die Frage ist nur: Ist's eine Tragödie oder ist's eine Komödie?

Von den orthopädischen Folterinstrumenten, vulgo: Stühlen, bis zu den entgleisenden, ganze Bücherberge unter sich begrabenden, auf Schienen montierten Regalen bleibt keine alltägliche Katastrophe ausgespart, der sich ein Leser in seinem Forschungsdrang ausgesetzt sieht. Gute Noten erhält nur ein unverdrossen hilfsbereites Personal. Die Informatik aber erweist sich als dauerhaft kapriziös, verweigert ordnungsgemäss eingeschriebenen Lesern den Zutritt, kennt grosse Teile des Bestands nicht und liefert Werke, nach denen niemand gefragt hat. Dass man Bücher, die man morgens bestellt, am Nachmittag lesen kann, wird als ein gigantischer Fortschritt verkauft, der in der guten alten Rue de Richelieu noch Normalität war. Mikrofilm-Lesegeräte sind bündig mit der Tischkante montiert, was die Aufnahme von Notizen zur Turnübung macht. Und wer überhaupt auf die aberwitzige Idee kommt, in der Bibliothek zu schreiben, darf keine Fehler machen: Papierkörbe sind, wohl aus ästhetischen Gründen, nicht vorgesehen. 2000 Leseplätze für Wissenschafter waren versprochen. Philippe Nora allerdings zählt nur 780, kaum 200 mehr als in der Rue de Richelieu. Und sollten die 780 Forscher, die sich ja, wie bekannt, nur von Geistigem nähren, ein so banales Gefühl wie Hunger empfinden, stehen ihnen, wie Wissenschafter unter Kohldampf errechnet haben, in einer Cafeteria rund 50 Sitzgelegenheiten zur Verfügung, auf denen man erlernt, fade - und nichtsdestoweniger teure - Sandwiches in mehr oder weniger horizontaler Lage zu verzehren. Wer veraltete Vorstellungen vom Zusammenleben von Forschung und Urbanität hegt, darf sich mehrere Kilometer durch graues Holz und grauen Stein, grauen Beton bewegen, bis er ein Restaurant findet, das dieses Namens würdig ist.

Die Bibliothek steht, auf einige Zeit noch, inmitten einer Wüste, und man wird, auch wenn man den Reklamationen, die in «Le débat» niedergelegt sind, nicht immer folgen kann, den Eindruck nicht los, dass hier, wie in manchen Museen neueren Datums, sich zunächst Architektur und Herrschaft ein luxuriöses Monument errichtet haben. Das Ganze wirkt anheimelnd wie eine Tiefgarage, und mit einer geradezu pathologischen Konsequenz vermeidet das Gebäude jede symbolische Konzession an Buch und Leser.

Böse Zungen ziehen schon Vergleiche zum Stolz der französischen Kriegsmarine, dem brandneuen Flugzeugträger «Charles de Gaulle», der vor kurzem, kaum zur Jungfernfahrt in See gestochen, eilends ins schützende Dock zurückkehrte: das Meer war rauh, die Wellen hoch . . . Ist auch die Bücherarche am Seine-Quai nicht wettertauglich?

Jürgen Ritte

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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