Bauwerk

MADRE - Museo d’Arte Contemporanea Donna Regina
Álvaro Siza Vieira - Neapel (I) - 2005

MADRE - Schule des Schönen

Neapels neues Museum für Gegenwartskunst

Der Palazzo Donnaregina bereichert seit Mitte Juni die neapolitanische Museumslandschaft. Das neue Domizil für Gegenwartskunst präsentiert zum Einstieg exklusive Arbeiten von zwölf international bekannten Künstlern. Ihre Installationen, Fresken und Skulpturen bilden den Grundstock der ständigen Sammlung.

29. Juli 2005 - Gabriella Vitiello
Die zeitgenössische Kunst hat in Neapel eine feste Bleibe gefunden. Als flüchtiger Gast verweilte sie bisher zum Jahreswechsel auf der Piazza Plebiscito oder wohnte zur Untermiete im Archäologischen Nationalmuseum. Seit Juni lautet nun die ständige Anschrift für Gegenwartskunst: Palazzo Donnaregina, Via Settembrini 79. In Neapel, wo das Matriarchat in Mamma-Kult und Madonnen-Prozessionen fortlebt, kam für das Museo d'Arte Donnaregina konsequenterweise nur ein Akronym in Frage: MADRE.

Eine Interpretation des Buchstabenspiels gibt Domenico Bianchi den Besuchern gleich im Treppenaufgang mit auf den Weg. Unter den geschwungenen Linien einer abstrakten weiblichen Figur, samt Erdkugel auf zarte Wachstafeln gemalt, placierte er ein Zitat von Constantin Brancusi: «Kunst wurde gemacht, um zu herrschen, um zu weinen, um zu beten. Wir machen sie, um zu leben.»

Für jeden ein Zimmer

Zwölf Künstler aus den Bereichen Transavantgarde, Arte povera und konzeptionelle Kunst richteten die erste Etage im frisch renovierten Palazzo ein. Ihre Fresken, Installationen und Skulpturen sind exklusiv für das Museum geschaffen und bilden den ersten Teil der ständigen Sammlung. Die grosszügige Raumvergabe - pro Künstler mindestens ein Zimmer - nutzte Sol LeWitt, um mit roten und blauen Strichen das Spannungsverhältnis von Vernunft und Gefühl darzustellen. Mimmo Paladino ritzte mit Kohle archaische Graffiti in den feuchten Mörtel und sorgte wie Jeff Koons, Giulio Paolini, Anish Kapoor und Richard Serra für feste Haftung zwischen Kunstobjekt und Umgebung.

Den Dialog zwischen ästhetischer Sprache und den Realitäten des «territorio» hebt Richard Long hervor, indem er matschbraune Farbe auf die Wände tropfte. Das Drip-Fresko erinnert an die Überschwemmung von 2001, die die Strassenzüge der Umgebung mit Schlamm und Wasser flutete und etliche Barock-Bauten in dem Viertel, das zum ältesten Stadtkern Neapels gehört, fast zum Einsturz brachte. Verrostete Stahlstützen, an baufällige Häuserwände geklammert, bekunden den Renovierungsnotstand.

Unter der Leitung von Alvaro Siza hatten vor einem Jahr die Arbeiten am Palazzo Donnaregina begonnen. Der portugiesische Architekt befreite 80 000 Quadratmeter von überflüssigem Ballast und wählte für den Innenbereich ein strahlendes Weiss. Einige Projektskizzen - auf Flugtickets und Servietten gekritzeltes Liniengestrüpp - dokumentieren die Renovierung und Sizas erfolgreiche Absicht, der Kunst eine leichte, poetische Gebäudehülle zu schaffen, die ihr nicht die Schau stiehlt. - Eine zeitgenössische Verpackung für Gegenwartskunst hatte die Region Kampanien, Trägerin des Projekts, gar nicht erst in Betracht gezogen. Die Verantwortlichen wählten den Kontrast von Aktuellem und Historischem letztlich auch, um damit den Neubeginn in einem geschundenen Viertel zu symbolisieren.

Eine «Schule des Schönen» für die Bewohner der Stadt wünschte sich Jannis Kounellis in der Presse und betonte, dass dies eine Analyse auch grausamer Wirklichkeiten selbstverständlich mit einschliesse. Deswegen befördert er mit seiner Installation den Betrachter in einen Assoziationsraum aus Flucht, Ablehnung und Schiffbruch: Glas und Stahl versperren den Weg, erzeugen das mulmige Gefühl, ausgeschlossen zu sein, und ein alter tonnenschwerer Schiffsanker am Boden verspricht statt Rettung ein Grab auf dem Meeresgrund. Dem Thema Transport widmete Kounellis 2001 auch eine Arbeit in der Metrostation Dante. Sieben Haltestellen der Linie 1 beherbergen in der sogenannten «Metro dell'Arte» derzeit etwa vierzig zeitgenössische Kunstwerke - die demokratische Sammlung für unterwegs.

Barocker Fussballplatz

Das MADRE startete mit einer Einladung an solche Künstler, die in den vergangenen Jahren in Neapel präsent waren. Die Installation von Rebecca Horn kalkuliert den Déjà-vu-Effekt gleich mit ein. Vor drei Jahren hatte Horn Hunderten von Totenschädeln aus Gusseisen auf der Piazza Plebiscito Heiligenscheine aus Neon aufgesetzt und zitierte damit den fast ausgestorbenen neapolitanischen Brauch, Schädel anonymer Toter wie Heilige um Hilfe anzuflehen. Nun lässt die deutsche Künstlerin zwanzig «Capuzelle» frontal in doppelseitige Spiegel starren. Ein Tête-à-Tête mit den Symbolen der Vergänglichkeit ist freilich schwierig, weil die Spiegel immer bloss das Gesicht des Betrachters reflektieren.

Francesco Clemente, Transavantgardist mit Hang zu fernöstlicher Symbolik, kehrte für das MADRE sogar zum allegorischen Kosmos seiner Geburtsstadt zurück. Aus den Motiven der neapolitanischen Alltagskultur komponierte er ein zweistöckiges Fresko und porträtiert sich selbst als Pulcinella. In Grün, Gelb, Orange, Braun und Blau ist auch der barocke Majolika-Fussboden arrangiert, wobei die Farbgestaltung der Fliesen die Raumeinteilung eines Fussballfeldes imitiert. Dafür erntete Clemente während der Eröffnung vom Publikum spontan Applaus.

«Das Museum könnte wirklich überall stehen» - lautete ein Besucherkommentar in Anbetracht international konkurrenzfähiger Ästhetik in den Räumen des Palazzo Donnaregina. Viel Zeit zum Feiern bleibt Direktor Eduardo Cicelyn indes nicht. Bis zum Herbst soll der zweite Stock mit Arbeiten aus nationalen und internationalen Galerien bestückt sein, und für 2006 ist die erste temporäre Ausstellung auf der dritten Etage geplant. «Madonna, wie schön!», freut sich manch Neapolitaner - das MADRE will hoch hinaus.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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