Bauwerk

Stadtbücherei
Boris Podrecca - Biberach (D) - 1995
Stadtbücherei, Foto: Otlinghaus

Vom Getreide zu den Büchern

Sechs Ebenen, durch einen Vertikalraum verbunden. In Biberach, Deutschland, wurde ein alter Getreidespeicher zur Stadtbücherei umgebaut. Boris Podrecca zeichnet verantwortlich für Entwurf und Ausführung.

6. Juli 1996 - Walter Zschokke
Hat sich schon jemand Gedanken gemacht über den Doppelsinn der Bezeichnung „nicht löschbarer Speicher“, mit der halb qualifizierend, halb abqualifizierend Bücher gemeint sind: daß das Feuer des Inhalts noch nach Jahrhunderten auf Leserinnen und Leser überspringen kann, daß die Erinnerung an ein Buch bis heute weiterlebt, auch wenn die letzten handgeschriebenen Exemplare schon zur Römerzeit verlorengegangen sind, und daß Versuche, durch massenhaftes Verbrennen die Existenz eines Buches auszulöschen, in ihrem Wahn kläglich gescheitert sind. Daß aber die elektronisch gespeicherten Informationen auf Band und Diskette, angeblich sogar auf CD, sich schneller abbauen als selbst jene Bestände der Nationalbibliothek, die leider nicht auf säurefreies Papier gedruckt worden sind, und vom Verfall bedroht sind.

Es ist daher weder anachronistisch noch zukunftsfeindlich, wenn sich die Behörden von Biberach im Hinblick auf die Revitalisierung eines alten Speichers für die Stadtbücherei entschieden haben. Bei dem Bauwerk, das auf dem „Viehmarktplatz“ steht, handelt es sich um einen ausgesprochenen Solitär. Die schmalen, nur der Lüftung und einer minimalen Belichtung dienenden Fenster wirken nach außen nur mehr als Scharten und geben dem Bau ein geschlossenes, kompaktes Aussehen.

Breitgelagert und an den Seiten zwei Geschoße hoch gemauert, wird das große Volumen von einem mächtigen Satteldach überragt, das an den Stirnseiten von hohen Giebelwänden gestützt wird. Daß der Winkel des Daches mit knapp 55 Grad dem pythagoräischen Dreieck mit den Seiten drei zu vier zu fünf entspricht, zeigt die universale Bedeutung dieser jahrtausendealten Handwerkerregel, mit der ein rechter Winkel fixiert werden kann und die bis heute auf Baustellen verwendet wird. Wen wundert es daher, daß der Rechteckgrundriß mit eins zu 1,63 ziemlich genau dem Verhältnis des Goldenen Schnitts folgt. Die schiere Größe und die autonome Geschlossenheit - neben der lebenserhaltenden Funktion als Getreidespeicher - haben den kulturellen Wert über die Jahrhunderte festgeschrieben. Die sorgfältige Proportionierung hat aber gewiß mit dazu beigetragen, daß das Bauwerk bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist, denn als Speicher hat es schon länger ausgedient. Heute ist das Bauwerk denkmalgeschützt.

Das Innere ist angefüllt mit Zimmermannswerk: in der Breite dreischiffig, in der Länge über zehn Achsen mit kürzeren Stützenabständen. Die mit Bügen ausgesteiften Pfosten tragen kräftige Unterzüge, auf denen die breiten Balken der Schüttböden für das Getreide lasten. Das etagenweise hierarchisch aufgebaute Holzwerk bietet Raum für zwei Vollgeschoße und vier nach oben in der Breite abnehmende Ebenen im hohen Dachraum. Dieses Gebäude, das ein integrales Ganzes bildete, sollte für die Verwendung als Stadtbücherei adaptiert werden. Damit lag der Ball beim Architekten. Boris Podrecca, der bei zahlreichen Umbauten seine Sensibilität im Umgang mit bestehender Bausubstanz bewiesen hat, sorgte zuerst einmal für Licht: Im Bereich der mittleren fünf Rasterfelder wurden die Böden herausgetrennt und die insgesamt sechs Ebenen durch einen Vertikalraum verbunden.

Um diesen neuen Raum architektonisch wirksam werden zu lassen, schnitt der Architekt im Firstbereich die geschuppte Haut aus Dachziegeln heraus und ersetzte sie durch Glas. Mit diesem Zenitallicht gab er dem bisher emotionslos geschichteten Gebäude eine Mitte, durch die von oben Licht eindringt, das in die angrenzenden Bereiche durchsickert.

Folgerichtig wurden auch die Elemente der Vertikalerschließung in diesen hohen Raum hineingestellt: als gläsernes Prisma der Lift, der über leichte Stege zugänglich ist. Weiters für das feuersichere Fluchtstiegenhaus ein Rechteckprisma aus Sichtbeton. Mit den Arbeitsfugen des Betoniervorgangs verschränkte kleine Öffnungen beleben die Oberfläche und verweisen mit ihrer abgetreppten Anordnung auf den Inhalt. Vom Eingang her bis zum zweiten Obergeschoß zieht sich die Raumdiagonale einer regelmäßig von Absätzen unterbrochenen Kaskadentreppe. Diese erschließt und verbindet die drei als Publikumsbereiche genutzten unteren Geschoße. Die darüberliegenden Stockwerke sind nur dem Personal zugänglich. Der Lift und der obere Teil der Fluchtstiege dienen als interne Vertikalverbindung.

Während in den oberen Geschoßen Regale und Einzelarbeitsplätze das Bild bestimmen, enthält das Erdgeschoß ein Foyer mit Depotgestellen für Taschen und Mappen. Informationstische, Karteien und ein computerisierter Katalog sowie Sanitäranlagen schließen sich an. Dazu kommt an der dem Eingang gegenüberliegenden Stirnseite ein Vortragsraum, der auch direkt von außen zugänglich ist. Podrecca hat die Mauerschale unangetastet gelassen. Er läßt ihr die Hauptrolle: Er hat keine neuen Löcher hineinstemmen lassen, keine trennenden oder durchdringenden Elemente zu ihr in einen provokativen Gegensatz gestellt. Der in sprödem Weiß verputzte Quader mit Satteldach wirkt derart unspezifisch, daß der Windfang, vor die eine Stirnseite gestellt, als eindeutiges Signal für den Eingang dient. Doch geht es Podrecca vor allem um ein räumliches Prinzip: Nach Durchschreiten des Portals, das heißt nach Passieren der dicken Mauerschale, soll man sich bereits im innenräumlichen Großraum befinden, der Windfangkobel darf den Raumeindruck nicht stören.

Obwohl das materialmäßig wie räumlich präsente Zimmermannswerk gitterartig den von der Mauerschale definierten Großraum füllt, bildet es zugleich ein integrierendes Element, das die Ganzheit des Innenraumes wahrt. Indem die gläserne Schleuse außerhalb steht, wird das räumliche Präludium vor die eigentliche Schwelle verlegt. Um aber den Übergang von innen nach außen weicher zu machen und zu vermitteln, hat Podrecca eine kurze Mauerscheibe in die Öffnung gestellt. Diese leitet den Eintretenden und erweitert den Schwellenbereich auf zwei, drei Schritte zur Übergangszone.

Im Gegensatz zu einer richtigen Schwelle bildet diese Wandscheibe aber kein Gehhindernis. Selbst der Bodenbelag zieht sich vom Windfang bis zum Treppenansatz teppichartig durch. Mit diesen gestalterischen Maßnahmen wird die konzeptionelle Strenge des Bestands auf einer unteren Maßstabsebene durch Annäherung relativiert. In anderen Bereichen geht Podrecca dagegen zur Mauerschale auf Distanz, etwa mit den Dachwasserabfallrohren im Bereich der architektonisch empfindlichen Gebäudekanten.

Das Freistellen dieser vertikalen Elemente autonomisiert den weißen Körper der Mauerschale. Der Gestalter will dessen Integrität nicht antasten. Für einen visuell sensiblen Menschen hat die Lage der Dachwasserrohre Einfluß auf die proportionale Wirkung der Fassade. Das Abrücken will beiden Teilsystemen formale Identität geben. Sie werden nicht vermischt, sondern säuberlich sortiert und nebeneinandergestellt, jedem wird explizit sein Recht und sein Platz zugesprochen.

Das Bauwerk erzählt dem Auge des Beobachters seine Geschichte, aber auch noch andere Geschichten - jedoch nicht verbal, mit der gesprochenen Sprache als Referenzebene, sondern in der Sprache der Dinge, der Materialien, der Formen und der Bräuche. Manches läßt sich erst beim Benutzen, beim Angreifen erfassen, weil erst der unmittelbare Gebrauch den Grund für eine gestalterische Maßnahme erschließt.

Boris Podrecca, in dessen Namen sich bereits die kulturellen Sphären mischen, der Vielsprachige, der sich nördlich und südlich der Alpen wie zu Hause bewegt, ist ein Meistererzähler und Vermittler zwischen den Kulturen und Zeiten. Wer bereit ist, sich auf seine Arbeiten einzulassen, gerät in eine Welt, die an die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht erinnert, an Aladins Wunderlampe - das Licht - und an das „Sesam öffne dich!“ zum Raum. Podrecca erzählt mit architektonischen Mitteln, unbeirrt von der bereits auslaufenden Modeströmung einer zur Manier verkommenen sogenannten neuen Einfachheit, aber auch unbeirrt von Entwicklungen, die die Architektur zur Gaudi machen oder sie für den Eintrag in das Guinnessbuch der Rekorde herrichten möchten.

Nicht die vorschnelle Festlegung einer äußeren Form oder die Übernahme eines Stils garantieren für architektonische Qualität, sondern die Tiefe der Auseinandersetzung mit der Aufgabe, dem Bestand, den Materialien, den Formen und den kulturellen Zusammenhängen. Daß man als Architekt dabei auswählen darf, sogar auswählen muß, macht die Aufgabe nur attraktiver, aber auch schwieriger.

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