Bauwerk
Wohnhausanlage Brünner Straße
Erich Raith, Georg W. Reinberg, Martin Treberspurg - Wien (A) - 1995
Riegel mit Hand, Fuß, Kopf
Ein Niedrigenergie-Bau in Schichten: Die Wohnanlage der Arbeitsgemeinschaft Reinberg-Treberspurg-Raith ist ein Lichtblick im verkehrsgeplagten Stadterweiterungsgebiet an der Brünner Straße in Wien.
11. Mai 1996 - Liesbeth Waechter-Böhm
Es dürfte sich herumgesprochen haben, daß an der Brünner Straße, im Norden von Wien, eines der großen Stadterweiterungsgebiete der neunziger Jahre liegt. Tatsächlich hatte man lange Zeit das bedrückende Gefühl, hier würden sich sämtliche Baukräne Wiens ein Stelldichein geben. Dabei wurde die Brünner Straße mit der Öffnung der Grenzen zur verkehrsreichen Verbindung nach Tschechien, was der Wohnqualität der an der Straße gelegenen Bauten nicht gerade förderlich ist. Obendrein glänzt dieses auf Biegen und Brechen aus dem Boden gestampfte Areal in weiten Teilen durch die Abwesenheit jeglichen sinnvollen Städtebaus, ganz abgesehen davon, daß die baukünstlerische Qualität desaströs ist.
Und doch konnte man in den letzten Jahren die Entstehung eines Bauwerks beobachten, das Neugier provoziert. Es ist ein Wohnbau, der sich als 300 Meter langer Riegel rechts der Brünner Straße (stadtauswärts gesehen) entwickelt und der schon im Rohbau deutlich hat erkennen lassen, daß er sich von der 08/15-Architektur der Umgebung radikal unterscheidet.
Was man in der Rohbauphase von der Straße aus kaum mitbekommen hat: Das Projekt besteht nicht nur aus diesem Riegel mit einem herausgeschwenkten Kopfbau in Richtung Stadt und einem „Ausleger“ an der stadtabgewandten Seite - es schließt hinter der Abschirmung aus Kopfbau-Riegel-Ausleger auch einen freistehenden Kindergarten ein, außerdem - in zehn fast imrechten Winkel zum Riegel situierten Zeilen - Reihenhäuser, denen jeweils noch ein zusätzliches Wohngeschoß aufgesetzt ist.
Die gesamte Wohnhausanlage stammt von der Arbeitsgemeinschaft Reinberg-Treberspurg- Raith und wurde als „Niedrigenergiebau“ konzipiert. Es handelt sich um Wohnbauten, die über eine Be- und Entlüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung und Vorwärmung der Frischluft verfügen und bei denen der Aspekt der passiven Sonnenenergienutzung besonders beachtet wurde. Die Intelligenz des Konzepts kann, gerade im Hinblick auf die problematische Lage an der Brünner Straße, wirklich überzeugen.
Vor allem die Wohnungen im Riegel profitieren von diesem Konzept. Es ist in Schichten gedacht, sodaß die Wohnungen soweit wie möglich zur ruhigen Hofseite hin orientiert sind. Die äußerste Schicht spielt sich dabei in der Fläche ab, denn sie besteht aus einem höchst signifikanten Rankgerüst.
Die zweite, schon deutlich „räumliche“ Schicht besteht aus breiten Laubengängen, die den Wohnungen Erschließungsfläche - und damit eine zusätzliche Pufferzone zwischen Straße und Wohnbereich - vorschalten. Eine dritte, wieder mehr flächige Schicht besteht in einer „Installationswand“, die alle Arten von Leitungen aufnimmt. Erst dahinter entwickelt sich das, was man individuellen Wohnraum nennt, wobei dem eigentlichen Wohnbereich noch eine Schicht vorgeschaltet ist - die Naßräume - und auf die Zone der Wohnräume eine weitere Schicht folgt, ein „Loggiengerüst“ mit nach Süden gedrehten Erkern.
Diese Wohnanlage hat wirklich Hand und Fuß und Kopf. Schon das städtebauliche Konzept ist sinnvoll: Der verdrehte Kopfbau an einem Ende des Riegels und der „Ausleger“ am anderen schirmen gemeinsam mit dem fünfgeschoßigen Riegel das dahinter liegende Areal optimal ab. Das einzige, was sich gegen die Anlage ins Treffen führen läßt, ist die Gestaltung der durchgrünten Freiflächen.
Daß das Rankgerüst an der Brünner Straße mit verschiedenen Kletterpflanzen probeweise begrünt wird, um herauszufinden, welche sich unter den konkreten Bedingungen am besten entwickeln, mag sinnvoll sein. Man kann darüber streiten, ob das für die Rankbögen über Wegen ebenfalls zutrifft. Nicht mehr streiten läßt sich über die monströsen, sündteuren „Designerbänke“. Gerade im Kontext dieser Architektur, der man eine gewisse Schärfe nicht absprechen kann, wirkt dieses gestalterische Chi-Chi abwegig.
Noch eine andere Kuriosität: Die Architekten haben in der Erdgeschoßzone ihres Kopfbaus einen Supermarkt eingeplant. Bei einer Wohnanlage mit 215 neuen Wohneinheiten und noch viel mehr längst bezogenen in den Bauten davor und gegenüber ist eine solche infrastrukturelle Maßnahme nicht überzogen. Dazu wurde hier, im Vor feld des Kindertagesheims, eine Tiefgarage mit 215 Stellplätzen situiert. Nur will sich jetzt kein Supermarkt finden, der hier Einzug halten würde. Man mag dagegenhalten, daß bei einer Anlage dieser Größenordnung nicht alles bis ins letzte Detail stimmen kann. Aber es ist für den Beobachter schwer nachzuvollziehen, warum es bei sorgfältiger Planung an manchen Punkten der Umsetzung hapert.
Der Kindergarten zum Beispiel ist als freistehender Baukörper konzipiert, mit dem Eingang an der Nordseite und einem zweigeschoßigen Wintergarten Richtung Süden. Von der Eingangshalle geht es zu zwei quadratischen Gruppenräumen und der Kleinkinderkrippe, das Obergeschoß ist durch eine interne und eine externe Stiege erschlossen. Die Details des Kindergartens sind liebevoll entwickelt. Besonders die differenzierte Belichtung der Räume wurde genau kalkuliert, den Gruppenräumen sind jeweils Rückzugsbereiche in Form von Nischen zugeordnet, man hat sich auf wenige Materialien - Holz, Putz, Linoleum, Fliesen, Glas - beschränkt. Und doch: Die in den Hauptraum integrierten Elemente wie Stiege, Galerie und Rutsche, allesamt aus Holz, wurden nicht so ausgeführt, wie es der Architekt gezeichnet hatte. Warum, weiß kein Mensch.
Die Wohnanlage von Reinberg- Treberspurg-Raith setzt dennoch Maßstäbe. Die verglasten Laubengänge im Riegel an der Brünner Straße funktionie-ren nicht nur als akustische und klimatische Pufferzone, sie sind auch großzügige räumliche Elemente. Und das zu den Reihenhauszeilen hin orientierte Loggiengerüst mit den nach Süden gewendeten Erkern stellt eine Erweiterung des Wohnbereichs dar. Klarerweise konnten die Wohnungen im Riegelbauwerk wegen der Nähe zum verkehrsreichen Straßenraum nicht querdurchlüftet werden. Das Energiekonzept ist daher gerade in dieser städtebaulichen Situation besonders berechtigt.
Im Kopfbau, der das architektonische Rufzeichen der Anlage darstellt, weil er sich dem aus der Stadt Kommenden schräg entgegenstellt, sind den Wohnungen Wintergärten vorgelagert. Auch die Reihenhäuser haben je einen zweigeschoßigen Verandenbereich. Nur die kleinen Wohnungen, die diesen Reihenhäusern übergestülpt worden sind, müssen sich mit einem schmalen Freiraumbescheiden. Es erscheint überflüssig, bei einer Wohnanlage, die inhaltliche Fragen so dezidiert in den Vordergrund stellt, auf den formalen Aspekt einzugehen. Aber zur Architektur gehört nun einmal die baukünstlerische Umsetzung. Unter diesem Vorzeichen betrachtet, kann besonders das Riegelbauwerk mit seiner zur Straße gekehrten Front überzeugen. Man liest „Rankgerüst“ und sieht in Gedanken eine ländliche Pseudoidylle vor sich. Dem ist mitnichten so! Dieses Wohnhaus gibt sich höchst städtisch, und in der seriellen Abfolge gleicher Elemente über eine so enorme Länge ist auch das Thema Geschwindigkeit ins Bild gesetzt.
Rote und blaue Akzente nach außen, gelbe in den Laubengängen: Das ausgetüftelte Farbkonzept ist nicht aufdringlich, aber doch ein Signal -ebenso die rigorose Einschränkung auf wenige Materialien. So zieht sich im Osten das Loggiengerüst aus Stahl beziehungsweise Stahlbeton-Fertigteilen über die volle Gebäudelänge, ohne die Größe des Bauwerks zu verharmlosen. Es gibt noch keine überprüfbaren Daten über den tatsächlichen Energiebedarf der Anlage, weil sie eben erst fertiggestellt worden ist. Aber die Investition in ein wohldurchdachtes Klimakonzept, das die Energiekosten beträchtlich reduzieren könnte, wird sicher Nachuntersuchungen unterzogen. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
Und doch konnte man in den letzten Jahren die Entstehung eines Bauwerks beobachten, das Neugier provoziert. Es ist ein Wohnbau, der sich als 300 Meter langer Riegel rechts der Brünner Straße (stadtauswärts gesehen) entwickelt und der schon im Rohbau deutlich hat erkennen lassen, daß er sich von der 08/15-Architektur der Umgebung radikal unterscheidet.
Was man in der Rohbauphase von der Straße aus kaum mitbekommen hat: Das Projekt besteht nicht nur aus diesem Riegel mit einem herausgeschwenkten Kopfbau in Richtung Stadt und einem „Ausleger“ an der stadtabgewandten Seite - es schließt hinter der Abschirmung aus Kopfbau-Riegel-Ausleger auch einen freistehenden Kindergarten ein, außerdem - in zehn fast imrechten Winkel zum Riegel situierten Zeilen - Reihenhäuser, denen jeweils noch ein zusätzliches Wohngeschoß aufgesetzt ist.
Die gesamte Wohnhausanlage stammt von der Arbeitsgemeinschaft Reinberg-Treberspurg- Raith und wurde als „Niedrigenergiebau“ konzipiert. Es handelt sich um Wohnbauten, die über eine Be- und Entlüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung und Vorwärmung der Frischluft verfügen und bei denen der Aspekt der passiven Sonnenenergienutzung besonders beachtet wurde. Die Intelligenz des Konzepts kann, gerade im Hinblick auf die problematische Lage an der Brünner Straße, wirklich überzeugen.
Vor allem die Wohnungen im Riegel profitieren von diesem Konzept. Es ist in Schichten gedacht, sodaß die Wohnungen soweit wie möglich zur ruhigen Hofseite hin orientiert sind. Die äußerste Schicht spielt sich dabei in der Fläche ab, denn sie besteht aus einem höchst signifikanten Rankgerüst.
Die zweite, schon deutlich „räumliche“ Schicht besteht aus breiten Laubengängen, die den Wohnungen Erschließungsfläche - und damit eine zusätzliche Pufferzone zwischen Straße und Wohnbereich - vorschalten. Eine dritte, wieder mehr flächige Schicht besteht in einer „Installationswand“, die alle Arten von Leitungen aufnimmt. Erst dahinter entwickelt sich das, was man individuellen Wohnraum nennt, wobei dem eigentlichen Wohnbereich noch eine Schicht vorgeschaltet ist - die Naßräume - und auf die Zone der Wohnräume eine weitere Schicht folgt, ein „Loggiengerüst“ mit nach Süden gedrehten Erkern.
Diese Wohnanlage hat wirklich Hand und Fuß und Kopf. Schon das städtebauliche Konzept ist sinnvoll: Der verdrehte Kopfbau an einem Ende des Riegels und der „Ausleger“ am anderen schirmen gemeinsam mit dem fünfgeschoßigen Riegel das dahinter liegende Areal optimal ab. Das einzige, was sich gegen die Anlage ins Treffen führen läßt, ist die Gestaltung der durchgrünten Freiflächen.
Daß das Rankgerüst an der Brünner Straße mit verschiedenen Kletterpflanzen probeweise begrünt wird, um herauszufinden, welche sich unter den konkreten Bedingungen am besten entwickeln, mag sinnvoll sein. Man kann darüber streiten, ob das für die Rankbögen über Wegen ebenfalls zutrifft. Nicht mehr streiten läßt sich über die monströsen, sündteuren „Designerbänke“. Gerade im Kontext dieser Architektur, der man eine gewisse Schärfe nicht absprechen kann, wirkt dieses gestalterische Chi-Chi abwegig.
Noch eine andere Kuriosität: Die Architekten haben in der Erdgeschoßzone ihres Kopfbaus einen Supermarkt eingeplant. Bei einer Wohnanlage mit 215 neuen Wohneinheiten und noch viel mehr längst bezogenen in den Bauten davor und gegenüber ist eine solche infrastrukturelle Maßnahme nicht überzogen. Dazu wurde hier, im Vor feld des Kindertagesheims, eine Tiefgarage mit 215 Stellplätzen situiert. Nur will sich jetzt kein Supermarkt finden, der hier Einzug halten würde. Man mag dagegenhalten, daß bei einer Anlage dieser Größenordnung nicht alles bis ins letzte Detail stimmen kann. Aber es ist für den Beobachter schwer nachzuvollziehen, warum es bei sorgfältiger Planung an manchen Punkten der Umsetzung hapert.
Der Kindergarten zum Beispiel ist als freistehender Baukörper konzipiert, mit dem Eingang an der Nordseite und einem zweigeschoßigen Wintergarten Richtung Süden. Von der Eingangshalle geht es zu zwei quadratischen Gruppenräumen und der Kleinkinderkrippe, das Obergeschoß ist durch eine interne und eine externe Stiege erschlossen. Die Details des Kindergartens sind liebevoll entwickelt. Besonders die differenzierte Belichtung der Räume wurde genau kalkuliert, den Gruppenräumen sind jeweils Rückzugsbereiche in Form von Nischen zugeordnet, man hat sich auf wenige Materialien - Holz, Putz, Linoleum, Fliesen, Glas - beschränkt. Und doch: Die in den Hauptraum integrierten Elemente wie Stiege, Galerie und Rutsche, allesamt aus Holz, wurden nicht so ausgeführt, wie es der Architekt gezeichnet hatte. Warum, weiß kein Mensch.
Die Wohnanlage von Reinberg- Treberspurg-Raith setzt dennoch Maßstäbe. Die verglasten Laubengänge im Riegel an der Brünner Straße funktionie-ren nicht nur als akustische und klimatische Pufferzone, sie sind auch großzügige räumliche Elemente. Und das zu den Reihenhauszeilen hin orientierte Loggiengerüst mit den nach Süden gewendeten Erkern stellt eine Erweiterung des Wohnbereichs dar. Klarerweise konnten die Wohnungen im Riegelbauwerk wegen der Nähe zum verkehrsreichen Straßenraum nicht querdurchlüftet werden. Das Energiekonzept ist daher gerade in dieser städtebaulichen Situation besonders berechtigt.
Im Kopfbau, der das architektonische Rufzeichen der Anlage darstellt, weil er sich dem aus der Stadt Kommenden schräg entgegenstellt, sind den Wohnungen Wintergärten vorgelagert. Auch die Reihenhäuser haben je einen zweigeschoßigen Verandenbereich. Nur die kleinen Wohnungen, die diesen Reihenhäusern übergestülpt worden sind, müssen sich mit einem schmalen Freiraumbescheiden. Es erscheint überflüssig, bei einer Wohnanlage, die inhaltliche Fragen so dezidiert in den Vordergrund stellt, auf den formalen Aspekt einzugehen. Aber zur Architektur gehört nun einmal die baukünstlerische Umsetzung. Unter diesem Vorzeichen betrachtet, kann besonders das Riegelbauwerk mit seiner zur Straße gekehrten Front überzeugen. Man liest „Rankgerüst“ und sieht in Gedanken eine ländliche Pseudoidylle vor sich. Dem ist mitnichten so! Dieses Wohnhaus gibt sich höchst städtisch, und in der seriellen Abfolge gleicher Elemente über eine so enorme Länge ist auch das Thema Geschwindigkeit ins Bild gesetzt.
Rote und blaue Akzente nach außen, gelbe in den Laubengängen: Das ausgetüftelte Farbkonzept ist nicht aufdringlich, aber doch ein Signal -ebenso die rigorose Einschränkung auf wenige Materialien. So zieht sich im Osten das Loggiengerüst aus Stahl beziehungsweise Stahlbeton-Fertigteilen über die volle Gebäudelänge, ohne die Größe des Bauwerks zu verharmlosen. Es gibt noch keine überprüfbaren Daten über den tatsächlichen Energiebedarf der Anlage, weil sie eben erst fertiggestellt worden ist. Aber die Investition in ein wohldurchdachtes Klimakonzept, das die Energiekosten beträchtlich reduzieren könnte, wird sicher Nachuntersuchungen unterzogen. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
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