Bauwerk

Doppelwohnhaus Schatzl
Ernst Linsberger - Krems an der Donau (A) - 1995
Doppelwohnhaus Schatzl, Foto: Andreas Drexler
Doppelwohnhaus Schatzl, Foto: Andreas Drexler
Doppelwohnhaus Schatzl, Foto: Andreas Drexler

Geöffnet hin zum Blätterdach

Sind „coole Schweizerkäsefassaden“ das einzige mögliche Ergebnis „neuer Einfachheit“? Ernst Linsbergers Doppelwohnhaus in Krems ist ein Beispiel dafür, daß Zurückhaltung auch zu spannungsvoller Architektur führen kann.

13. April 1996 - Walter Zschokke
Seit einiger Zeit ist es offensichtlich, daß die „neue Einfachheit“ zur Manier verkommt, sodaß die Werke der Protagonisten von jenen der Epigonen zugedeckt, wenn nicht sogar erschlagen werden. Volker Giencke, sensibler Beobachter und unter praktizierenden Architekten als Kommentator mit spitzer Feder eine Ausnahmeerscheinung, fragte kürzlich in der Fachzeitschrift „Architektur & Bauforum“, „wieweit die coole Schweizerkäsfassade der urbanen Wohn- und Bürohausbauten nicht ebenso pervers ist wie das rustikale Hochgebirgsdesign der Restaurants in Stadt und Land“. Und er folgert: „Jedenfalls ist das, was momentan in der Architekturwelt als neu und als Minimalismus oder als Purismus verkauft wird, perfider, als es der Dekonstruktivismus je sein kann.“

Damit legt er den Finger auf die kritische Stelle. Die Schwelle zum „less is a bore“ (Robert Venturis Persiflage des berühmten Diktums von Mies van der Rohe, „less is more“) ist schneller überschritten, als die aus Zeitschriften abgekupferten „Ideen“ in Bauten umgesetzt werden können. Über des Kaisers neue Kleider kann man nicht debattieren. Der frappierende Effekt des Einfachen ist nicht beliebig wiederholbar, eine diesem innewohnende Kritik an Schwulst und Überfluß nutzt sich ab.

Jene raren Beispiele dafür, daß Zurückhaltung und Reduktion zu spannungsvoller Architektur führen können, haben meist im Vorhandenen einen Sie nehmen nicht selten den Charakter eines Rahmens an, der eine Auswahl aus dem Vorgefundenen heraushebt. Ein derartiges Bauwerk habe ich kürzlich in Krems gesehen: Das von Architekt Ernst Linsberger entworfene Doppelwohnhaus liegt an einem Südhang über der Stadt, an dem in vergangenen Jahren zahlrei- che Einfamilienhäuser zwischen teilweise noch genutzten Weinberge gebaut wurden.

Die zwei sehr verschiedenen Häuser liegen übereinander auf dem von oben zugänglichen Grundstück. Der Straße zugewandt, steht unter steilem Satteldach das obere, alltäglich wirkende Haus, dessen Fassade mit sorgfältig proportionierten Öffnungen allerdings aufmerken läßt. Im Osten stößt ein kurzer Seitenflügel vor, den südseitig das kleine Obergeschoß des zweiten, unteren Hauses verlängert. Diese beiden Hausteile bilden einen einheitlichen Baukörper, der zusammen mit dem oberen Haus einen Gartenhof umschließt.

Der Hauptwohntrakt des uns interessierenden unteren Hauses zieht sich erdgeschoßig quer über die ganze Grundstücksbreite und ist südseitig durchgehend verglast. Während das Entree und das Elternzimmer mit seiner herrlichen Aussicht auf das Donautal noch im oberen Baukörper liegen, reihen sich unten Kinderzimmer, Wohnraum, Eßplatz und Küche an einen großzügigen, rückseitig anschließenden Gang mit Oberlichtdecke. Die an der vorderen Breitseite offene Schachtel ist hinten in einen Feldrain eingetieft, sodaß fast nur die Vorderfront zu sehen ist.

Das flache Dach ist mit Magerflora bewachsen; getragen wird es von einer dichten Schar schichtverleimter Holzbalken, die im Wohnraum sowohl Kontinuität als auch Rhythmus einbringen und beiläufig die Raumakustik verbessern. Von der verglasten Wand läßt sich jedes zweite Feld zur Seite schieben, sodaß zur visuellen auch eine räumliche Offenheit kommt.

So hätten wir alle „Stilelemente“ beisammen, die das Haus jener „neuen Einfachheit“ zuordenbar machen, von der eingangs die Rede war: längsquadrische Schachtel oder Kiste, emotionslose (coole) Reihung, raumhohe Fassadenöffnungen im Schachbrettversatz (gleich-gültig), durchgehender Raum mit Schiebewänden (Loft).

Aber das Haus ist mehr: Es ist mit seinem ganzen Wesen auf den davorliegenden Obstgarten bezogen, in dem alte Marillenbäume ihre Äste und Zweige zu einem luftigen Dach flechten - im Sommer schattenspendend belaubt und im Winter durchlässig für das Sonnenlicht.

Dieser Marillenhain ist ein Produkt kontinuierlicher menschlicher Pflege und der sich jährlich erneuernden Lebenskraft der Natur. Über die vielen Jahre seines Bestehens wurde er zu einem Ort mit ganz-heitlichem Charakter. Darauf und auf dessen Qualität reagiert der Entwurf für das dahinterliegende Wohnhaus. Die Reduktion auf die primäre räumliche Aussage, „nach vorne offen“, erzeugt eine polare Spannung, die jener zwischen Rahmen und Bild oder zwischen Sockel und Plastik vergleichbar sein mag, wobei das Haus die Rolle des Rahmens beziehungsweise Sokkels spielt. In dieser Hinsicht hat sich die Reduktion der architektonischen Mittel als richtig erwiesen.

Zwischen Haus und Marillengarten legte der Architekt zudem eine Art Schwellenbereich, gebildet aus einer hölzernen Plattform, die sich vor dem ganzen Wohntrakt hinzieht und unter den Schirm der Baumkronen reicht. Hier läßt sich die Ambivalenz zwischen beiden Elementen erfühlen, der Übergang von innen nach außen ist nicht hart, sondern durch die Zwischenzone moderiert. Das Glas ist Grenze zum Zwischenbereich, ähnlich der vorderen, über der Wiese schwebenden Kante der Plattform.

Weil die Einfachheit dieses Hauses nicht monomanischer Selbstzweck ist oder als modischer Effekt in den Vordergrund gerückt wurde, gewinnt das bipolare System von Garten und Haus an Kraft. Die „Einfachheit“ hat eine aus Ort und Aufgabe erarbeitete Berechtigung und wird selbstverständlich. Wer das Haus erlebt hat, braucht keine langen Erläuterungen. Es ist eine gültige Interpretation der doppelten Aufgabe, Wohnen, an dieser Stelle, zu ermöglichen. Zwar gibt es immer wieder Apologeten, die uns weismachen wollen, die Beschäftigung mit dem Ort sei passé, wer sich noch damit aufhalte, mithin hoffnungslos veraltet. Im Gegensatz dazu zeigt unser Beispiel, daß ein Teil der architektonischen Gesamtwirkung von der Umgebung mitbestimmt wird.

Gewisse Zweifel kommen allerdings auf, wenn radikal einfache, graphisch gestylte Wohnungsgrundrisse, nur mit Schiebetüren unterteilbar, auf vollkommen nutzungsneutrale Flächen reduziert, als synthetische Lofts gestapelt und emotionslos zu Wohnhausanlagen addiert werden.

Das Umerziehen künftiger Bewohner mit dem Mittel radikaler Grundrisse war bereits vor bald 70 Jahren ein Diskussionsthema: Die Siedlung Dammerstock in Karlsruhe, in konsequentem Zeilenbau und radikal funktionalistischer Manier von Otto Haesler (1880 bis 1962) errichtet, forderte die Kritik heraus.

Ein Aufsatz von Adolf Behne, 1930 in der Zeitschrift „Die Form“ erschienen, läßt sich aber ebenso auf eine Wohnanlage mit radikal disfunktionalisierten Grundrissen umlegen. Der Satz: „Hilfe, ich muß wohnen!“ oder die Frage: „Kann man per Diktatur soziologisch sein?“ bleiben eigenartigerweise gültig - wie auch ein Großteil der übrigen Argumentation. Aber welcher Architekt entwickelt seine Entwürfe nicht bloß aus den Heldentaten seiner Vorgänger, sondern auch aus deren Irrtümern und der an diesen geübten Kritik?

Das Ausschütten des Badewassers samt dem darin verbliebenen Kind ist weiterhin übliche Praxis eines sich radikal gebärdenden Avantgardismus. Abgehobene Radikalität wird beklatscht, als wären all die Kritiken daran nie geschrieben worden, als hätte Josef Frank seinen Aufsatz „Akzidentismus“ (veröffentlicht 1958) nie verfaßt. Darum: Hinter die Bücher, Architekten!

Daß es anders auch geht, bewies Alvaro Siza mit seiner Planung für das zu sanierende Quartier Schilderswijk in Den Haag, für die er mit den Bewohnern Gespräche führte. Viele dieser Bewohner haben ihre ursprünglichen kulturellen Wurzeln außerhalb Hollands. Auf Grund der gewonnenen Erkenntnisse entwickelte Siza auf der Basis des holländischen Haustyps mit direkten Zugängen zu den Wohneinheiten einen Grundriß, der sowohl für die lokale Tradition als auch für die Bedürfnisse moslemischer Bewohner günstig ist, weil er im Innern eine deutliche Trennung zwischen Wohn- und Schlafbereich vorsieht und Toilette und Küche auseinanderhält. Wie sagte schon Ernst Bloch: „Eine Geburtszange muß glatt sein, eine Zuckerzange mitnichten.“ Dazwischen liegen ein weites Feld und viel spannende Denkarbeit.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Familie Schatzl

Fotografie