Bauwerk

Wohn- und Geschäftshaus in Berlin-Mitte
abcarius + burns - Berlin (D) - 2004

Die schlechte Auftragslage junger Architekten in Berlin hat Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns auf die Idee gebracht, ihre Vorstellungen vom Wohnen in der Stadt auf eigene Kosten zu realisieren und zu vermarkten. Das Konzept „Urban living“ beinhaltet anspruchsvoll ausgestattete Wohnhäuser in städtischer Dichte mit flexiblen Grundrissen und attraktivem Außenraum. Das Gebäude in der Mulackstraße ist bereits das zweite realisierte Projekt dieser Art.

6. September 2006 - Falk Jaeger
Bürgerliche Wohnkultur korrelierte ursprünglich mit einem entsprechenden sozialen Bezugsfeld. Die Privatheit der Wohnung war ergänzt durch die sozialen Kontakte in überschaubaren Szenarien beim Kolonialwarenhändler, in der zunftmäßig organisierten Arbeitswelt, in Rathaus, Kirche und Wirtshaus.

Die Kontakte sind anonymer geworden, die Gesellschaft offener, vier Fenster mit Gardinen und Klappläden als Demarkation zur Straße hin entsprechen nicht mehr dem Kommunikationsmuster des neuen Städters. „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von wo etwas sein Wesen beginnt“, lautet ein oft in Anspruch genommenes Zitat von Martin Heidegger. Es ist das Wesen des Städters, das sich auch durch die Grenzlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit manifestiert, und die gilt es zu überdenken. Seltsam nur, dass die innerstädtische Wohnarchitektur so hartnäckig in den alten Konventionen verharrt, da werden Ausnahmen gern zur Kenntnis genommen. Die Mulackstraße in Berlin Mitte, fünf Minuten vom allbekannten Hackeschen Markt entfernt, ist eine schmale Nebenstraße und verläuft etwa in Ost-West-Richtung. Sie war im Krieg zur Hälfte zerstört worden, doch der Wiederaufbau ließ bis zum neuen Jahrtausend auf sich warten. Jetzt schließen sich die Baulücken nach und nach. Viel Szenerummel wie in der benachbarten August-, der Gips- oder Sophienstraße wird in naher Zukunft nicht zu erwarten sein. Wenn auch vereinzelt in die Erdgeschosse eine Galerie, Boutique oder Restauration einzieht, man wohnt hier ganz angenehm in ruhigem Ambiente.

Wie begegnet man nun der viel zitierten Enge in der Stadt? Die Frage scheint die Architekten des Neubaus mit der Hausnummer 12 von Beginn ihrer Arbeit an umgetrieben zu haben. Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns waren 1990 nach Berlin gekommen, weil sie im wiedervereinigten Deutschland am großen Aufbruch teilhaben wollten. Sie eröffneten ein gemeinsames Büro und - bekamen keine Aufträge. Selbst die fünf Projekte, mit denen sie beim Senat vorstellig wurden, blieben ohne Erfolg. Schließlich gründeten sie eine GbR und starteten auf eigene Rechnung das Projekt „Urban living“, ein Wohnhaus in der Joachimstraße (siehe db 8/2002). Das Haus mit seinen loftartigen, offenen Räumen machte Furore und bewies eines: Für ungewöhnliche, intelligente Wohnungen gibt es einen Markt, auch bei hoffnungslos übersättigtem Angebot.

„Urban living 2“ in der Mulackstraße war die logische Folge; es war schon vor Baubeginn verkauft. Die Bauherren ließen ihnen „fast zu viele Freiheiten“, was für das Entwerfen nicht nicht gerade förderlich sei. Jedenfalls ging es ihnen wieder darum, möglichst wenig determinierte Räume zu schaffen und in der Enge der innerstädtischen Situation möglichst viel Offenheit zu erreichen. Sie dachten sich eine Fassade aus, „die fast nicht da ist“, gänzlich verglast, mit Lamellenpaneelen versehen, die sich beiseiteschieben lassen, um den Raum zu öffnen - Innenraum und Stadtraum können nach Wunsch und bei angenehmem Wetter eins werden. Knappe Vor- und Rücksprünge bilden eine Art Erker in der nach Süden gelegenen Fassade und schaffen strukturelle Korrespondenzen zu den historistischen Nachbarfassaden, schließlich baut man in vorgeprägter Umgebung. Die Dachzone staffelt sich unter Ausnutzung der planungsrechtlichen Möglichkeiten zurück und ist selbstredend als Freilufterweiterung der Maisonettewohnung im Obergeschoss ausgebildet. Die Hofseite ist eine einzige Kaskade an Balkonen und Terrassen bis hinab zum Gartenparterre.

Schon im Erdgeschoss gibt es den Durchblick vom Schaufenster bis in den Hinterhof, eine einladende Geste an die Passanten. Eine Kunstgalerie nutzt den Einraum, der sich aus dem Hauskörper in den Garten hinausschiebt. Vor der Glaswand zum Hof fällt Tageslicht durch den gläsernen Fußboden in das Untergeschossatelier. Eine formal aufs Äußerste reduzierte Treppe aus Kragstufen führt an der Längswand hinab.

Draußen lockt ein Zen-Garten, mit einem prächtigen Götterbaum, mit Bambusbüschen und Brunnen, mit Bangkirai-Podest und einer das Zenitlicht reflektierenden Bodenschüttung aus Nordseemuscheln. Gras oder Unkraut ist nicht erwünscht. Die hohe, unverputzte Ziegelbrandwand der denkmalgeschützten Franz-Mett-Sporthalle bildet den reizvoll-schroffen Hintergrund zur minimalistischen Gartenidylle.

Die Farbe Weiß beherrscht das Haus, die Galerie, die hellen und transparenten Wohnungen darüber, schafft eine eigene, fast transzendente Wirklichkeit und entgrenzt den Raum, der sich von der Beengtheit der Straße und des Hofes lösen kann. Die tragenden Wände verlaufen in Längsrichtung, um das einfallende Tageslicht so wenig wie möglich abzuschirmen. Räumliche Trennung geschieht, wenn unbedingt notwendig, durch Einbauelemente. Das Behaustsein in abgeschlossenen Zimmern wird nicht mehr angestrebt, die Bewohner sollen ihre Wohnsituation selbst inszenieren. Sogar die Badewanne gehorcht der Leitidee des fließenden Raumes. Sie lagert auf Rollen und lässt sich an verschiedenen Stellen flexibel anschließen, auf Wunsch auch auf der Terrasse.

Mit ihrer Freiheit, die Permeabilität der Grenze des Privatraumes durch Stores, Fenster, Lamellen und Lichtein- und -ausfall nach Belieben zu dosieren, was sich auch signalhaft am Außenbau ausdrückt, mit dieser größtmöglichen Bandbreite beim Wechsel zwischen Intimität und Öffentlichkeit, schafft die Architektur ein neues urbanes Lebensgefühl, das die Architekten mit Recht „urban living“ nennen.

Perfektion im formal reduzierten Detail und sparsamer Materialeinsatz mit der Beschränkung auf weiße Putzwände, lackierte Einbaumöbel, einzeln Akzent setzende Holzflächen und einen sehr hellen Kalkstein in großformatigen Platten als Bodenbelag charakterisieren die Innenräume, erzeugen eine edel-asketische Atmosphäre, geeignet nicht für Sammlernaturen, die sich von nichts trennen können, sondern für Menschen, die bewusst mit leichtem Gepäck durchs Leben gehen. Die technisch hochwertige Ausstattung arbeitet im Verborgenen, die Fußbodenheizung, die flächenbündigen Leuchtkörper, die Beschallung und die übrige Haustechnik sind elektronisch gesteuert. Geheizt und gekühlt wird überdies mit Erdwärme aus fünf Sonden, die 99 Meter tief in den Grund reichen.

„Urban living 2“ ist ein Lückenschluss in der Reihe historischer Nachbarhäuser, der nicht die Konfrontation hypermodern gegen altmodisch sucht und sich nicht mit formaler Unduldsamkeit Geltung verschafft, sondern der gelassen mit den Nachbarn ins Gespräch kommt, wenn er auch eine andere, neue Geschichte zu erzählen weiß. Das Haus ist ein innerstädtisches Refugium, das sich nicht in Privatheit der persönlichen vier Wände abschottet, sondern den Austausch mit der urbanen Situation annimmt und einen bestimmten Lebensstil determiniert. Es fördert ein intensives Dasein mit und in der Stadt, wie es sonst nur in südlichen Ländern üblich ist.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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