Bauwerk

Büro- und Geschäftshaus in Hamburg
André Poitiers Architekten - Hamburg (D) - 2006

Über zehn Jahre lag das knapp 190 Quadratmeter umfassende Grundstück in den Große Bleichen 10 in Hamburg brach. Ein Feuer hatte den Vorgängerbau zerstört. Den teuren Mietpreisen entsprechend, musste das Raumvolumen des Neubaus optimal ausgenutzt werden. Zusätzlich gelang es dem Architekten, eine Besonderheit gegenüber den Nachbarbauten zu schaffen: durch einen seitlichen Gebäudeeinschnitt erschließt sich den Nutzern eine beneidenswerte Aussicht auf die Binnenalster.

6. September 2006 - Ansgar Steinhausen
Unter den Hamburger Einkaufsstraßen mit Glamourfaktor sind die Große Bleichen eine feste Größe. Die erste Liga internationaler Luxuslabels ist hier genauso vertreten wie am nahen Neuen Wall. Hinter repräsentativen Naturstein- und Klinkerfassaden fühlen sich aber auch Beratungsfirmen, Praxen und Kanzleien diskret geborgen. Maximale Wertschöpfung auf kostbarem knappem Citygrund hat hier Tradition. Die Konfrontation von historischer und zeitgenössischer Architektur aber auch. Nach Antonio Citterios viel beachtetem Hofhaus am Neuen Wall, das vor Jahren mit ungewohnt mediterraner Note das hanseatische Häusermeer aufmischte, sorgt nun André Poitiers mit einem kühn kristallinen Neubau an den Große Bleichen 10 für Furore. Zwischen rote Neorenaissancefassaden und einen indifferent historisierenden weißen Nachbarn schob der Architekt sein neungeschossiges Büro- und Geschäftshaus schubladenartig in eine der letzten Baulücken der Innenstadt. Ein weißer Rahmen hält zu den Seiten Distanz und betont die Eigenständigkeit des Neubaus, der die Rücksprünge seiner Umgebung in Traufhöhe unbeugsam ignoriert und mit forscher Selbstgewissheit die Nachbarn obendrein um merkliche Geschosshöhe überragt. Bis zum nahen Jungfernstieg signalisiert die Architektur allein damit den beträchtlichen Ehrgeiz, in der Heterogenität des Straßenbildes neue Akzente zu setzen.

Gleichzeitig fügt sie sich auch ein und nimmt auf bauliche Traditionen durchaus Rücksicht. André Poitiers greift so die kräftigen Horizontalgesimse und vertikalen Fensterteilungen des linken Nachbarn auf und übersetzt sie in die kühl-elegante Architektursprache, die man von diesem Planer seit Längerem kennt und die Hamburg zunehmend prägt. Wie die Randbebauung bietet auch Haus Nummer 10 ein deutlich höheres Ladengeschoss mit einer lichten Raumhöhe von 4,25 Metern. Die oberen Ebenen müssen sich mit drei Meter lichter Höhe begnügen. Weil die schmale Straßenfront trotz transparenter Doppelfassade zu wenig Tageslicht in das recht tiefe Gebäude geleitet hätte, ließ der Architekt den Blockrand zum rechten Nachbarn mit schwungvoller Rundung zurückspringen und gewann eine Seitenfassade mit viel Glasfläche hinzu. Davon profitieren nicht nur der Laden mit einem größeren Schaufenster, sondern auch alle Geschosse durch ein Mehr an Licht und Hamburger Lokalkolorit. Denn von der prominenten „Erkernase“ geht der Blick von jeder Ebene aus ungehindert auf den Jungfernstieg und die Binnenalster - was nur die wenigsten Häuser an den Große Bleichen bislang von sich behaupten können. Außerdem definiert der Fassadenrücksprung klar und deutlich den Eingang zu den Büroetagen am rechten Rand der Parzelle. Das ist umso wichtiger, als eine solche Adresslage für Nutzer mit entsprechenden Erwartungen verknüpft ist. Erst recht, wenn eine aufstrebende Werbeagentur wie Kempertrautmann hier nicht nur interne Produktivkräfte befördern, sondern auch Kunden durch Architektur, Ambiente und Aussicht imponieren will.

Den hohen Ansprüchen wurde André Poitiers trotz kleinen Budgets gerecht. Seine Detailbesessenheit mag noch aus der Zeit im Londoner Büro seines Leitsterns Norman Foster herrühren. Sie ist hier mit einem wohltuenden Pragmatismus gepaart und führt überall im Haus zu überraschenden und überzeugenden Lösungen. Es beginnt bei den Briefkästen und Klingeltafeln, den Bedienelementen für den Lift und endet noch lange nicht bei den einfachen, aber markanten Edelstahlgeländern des Treppenhauses und den fast chirurgisch präzisen Fugenbildern der Fassade und der Innenräume. Magisch angezogen aber wird der Besucher immerzu von der Aussicht, die in diesem Bau schon in den unteren Ebenen bezwingend, in den oberen aber fast jede Miete wert ist. Im Dachgeschoss kommt der Blick über die Dächer der Innenstadt hinzu, auf all die ungenutzten Potenziale, die vielen Häuser in ähnlicher Lage, die nicht angemessen darauf reagieren.

Wenn das Panorama dann aber doch das Brainstorming bei der Kampagne für den neuen XXL-Audi oder für die Kalorienoffensiven der Süßwarenindustrie zu stören droht, können blitzschnell Aluminiumlamellen als vertikaler Sonnenschutz im Zwischenraum der Doppelfassade ausfahren. Ganz ist das Tageslicht damit noch nicht aus dem Raum gebannt. Denn André Poitiers hat an der Gebäude-rückseite einen nur einen Meter tiefen Lichthof geschaffen, der sich gerade in den oberen Geschossen erstaunlich bewährt. Der Schacht schafft eine zweite Fassade, die nicht nur mehr Helligkeit ins Innere lenkt, sondern jenseits der Straßenseite einen weiteren attraktiven Ausblick bietet. Schließlich fällt das Tageslicht nicht nur auf eine belanglose Brandwand, sondern auf unregelmäßig behauenen Granit, ein Relief von eigenem Reiz.

Mehr Komplexität und Raumqualität sind auf maximal ausgenutzten Cityarealen wie diesen kaum denkbar. André Poitiers hat das ehrwürdige Hamburger Kontorhaus an den Große Bleichen 10 nicht neu erfunden, aber er hat es für die Zukunft weiterentwickelt. Wie das historische Vorbild bietet sein Haus Repräsentativität und Diskretion zugleich und damit genau das, was an einer ersten Adresse gestern wie heute erwartet wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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