Bauwerk
Rucksack House
Stefan Eberstadt - Leipzig (D) - 2004
Raum sein und Raum schaffen
Zuerst hing es an einem Haus in Köln, dann an einem in Leipzig. Die nächste Station ab Ende August wird die Zeche Zollverein in Essen sein, 2007 soll es weiter nach München ziehen.
Das «Rucksack House» des Münchner Künstlers Stefan Eberstadt ist wahrhaft nomadische Architektur. Konzipiert nicht nur, um selbst zu nomadisieren, sondern dank dieser Eigenschaft auch die Möglichkeit zu eröffnen, einen Raum mit auf die Reise zu nehmen und mit ihm anderenorts wieder anzufangen.
11. September 2006 - Christian Holl
Es ist, als hätte Eberstadt sich das Zitat Ernst Blochs aus den «Spuren» zu Herzen genommen: «Und verlässt man ein Zimmer, in dem man länger gewohnt hat, so sieht man sich sonderbar um, bevor man geht. Auch hier blieb etwas zurück, auf das man nicht kam. Man nimmt es ebenso mit und fängt woanders damit an.»[1]
Das Rucksack House ist nicht gross. Bis jetzt existiert es als Prototyp, dessen Inneres neun Quadratmeter bietet. Der Quader ist eine Skelettkonstruktion aus Vierkantstahl, aussen beplankt mit Furnierschichtplatten, innen mit Birkensperrholz. Mit vier Dornen wird es aussen an einer Fassade fixiert, über Stahlseile die Last von etwa 1.6 Tonnen des in den Strassenraum ragenden Volumens auf sein «Wirtshaus» übertragen. Die scharfkantige Kubatur wird durch bündig in die Fassade eingesetzte Fenster aus Plexiglas durchbrochen, die alle über die Quaderkanten hinweg in zwei Richtungen den Blick freigeben. Und dabei nicht nur die drei horizontalen Richtungen einbeziehen, sondern sich auch nach unten und oben öffnen. Im Innern lassen sich Flächen ausklappen, die als Sitzplatz, Tisch, Bett oder Regal benutzt werden können.
Kommentar zu Stadtraum und Architektur
Das Rucksack House ist, pragmatisch gesehen, zunächst einmal eine Wohn- oder Arbeitsraumerweiterung. Aber es ist mehr als das. Zum Ersten ist es ein Kommentar zu Architektur und Städtebau. Das Rucksack House fragt nach dem Stellenwert, der dem viel-fach zum Transitraum degradierten Strassenraum beigemessen wird, fragt danach, ob der Raum zwischen den Objekten selbst Raum sein kann, und danach, wie dieser gestaltet und differenziert werden könnte. Er fragt nach der Zugänglichkeit und Hierarchie des öffentlichen Raums – und nicht nur der öffentlichen Fläche. Denn der sonst selbstverständlich öffentliche Luftraum über der Strasse ist nun auf einmal privat, bleibt aber gleichwohl für jeden sichtbar. Dieses Vexierspiel aus öffentlich und privat, mit dem die Vorstellungskraft aktiviert und die Gewohnheit hinterfragt wird, rückt Eberstadts Arbeit in die Nähe derer des amerikanischen Künstlers Dan Graham; in der Polyvalenz von Skulptur, reinem Körper und benutzbarem, architektonischem Raum erkennt man die Nähe zu Donald Judd. Dieser hatte schon 1964 in einem Text zur Ausstellung «Twentieth Century Engineering» geschrieben, dass die Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst kein Wertmassstab mehr sein könne.[2] Kunst und Nicht-Kunst seien an Kennerschaft, an Sammlertum geknüpft, die sich historisch entwickelt hätten, hatte Judd in Anbetracht der in der Ausstellung gezeigten Industriebauten konstatiert. Davon ausgehend, lässt sich die Arbeit Eberstadts auch aus der anderen Richtung interpretieren: Gerade wenn es keinen Sinn hat, zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu unterscheiden, braucht der Anspruch an gestalterische Qualitäten nicht auf die Kunst reduziert zu bleiben.
Das ambivalente Verhältnis von öffentlich zu privat ist zudem in gewisser Hinsicht anarchisch. Die demonstrative Raumaneignung durch das Rucksack House ähnelt der eines Baumhauses, aber auch der der Hausbesetzung, die sich gegen die gesellschaftlichen Mechanismen der Raumzuweisung wehrt, auch wenn die Sprache Eberstadts diese anarchische Komponente eher glättet als betont – aber nur so bleibt die Arbeit nicht auf eine Bedeutungsebene reduziert, lässt sie sich nicht eindimensional vereinnahmen. Auch so schafft sie sich einen eigenen Freiraum jenseits der durch die Konvention vorgegebenen Orte. Und der Anspruch, der sich darin äussert, lässt sich zudem als Kritik an der Gleichgültigkeit dem öffentlichen Raum gegenüber lesen, in dem sich durch die vielfältigen Praktiken der Überwachung noch das Misstrauen gegenüber jeder Äusserung des Individuellen äussert.
In einem Interview spricht Eberstadt davon, dass er sich nach dem Raum jenseits des Fensters gefragt habe, wie er realer, begehbarer Raum werden könne. Das heisst: Eberstadt verweist auch auf den Raum der Fantasie, dessen Potenziale nur ausgeschöpft werden können, wenn man sich nicht der gegebenen Hierarchie der Räume beugt. Die Bezeichnung Lichtraum, die Eberstadt seiner Arbeit auch gegeben hat, verdeutlicht, dass das Rucksack House nicht nur pragmatisch zu sehen ist, nicht nur als eine Vergrösserung eines zu knappen Raumangebots.
Raum als Raum begreifen
Denn was hätte es sonst in Leipzig zu suchen, wo keine Raumknappheit herrscht? Diese Erweiterung, sie ist eine Erweiterung der räumlichen Erfahrung. Sie ist eine Erweiterung des eingeübten, abgestumpften Verhältnisses des Menschen zum Raum, sie durchbricht die konditionierten Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr der Beweglichkeit unserer Zeit entsprechen. Mobilität, die sich die einen leisten können und zu der andere gezwungen sind, die auf jeden Fall aber die Wirklichkeit der Städte und deren soziales Gefüge bestimmt. Das Rucksack House ist auch gerade deswegen anarchisch, weil es seine Potenziale am stärksten dort entfaltet, wo sich die Privilegierung nicht ausdrücken kann: an glatten, hohen, geschlossenen Bauvolumen. Natürlich weist das Rucksack House dort zunächst einmal selbst dem Ort, den es erweitert, eine besondere Rolle zu. Aber man muss das Rucksack House eben auch in seiner doppelten Rolle und daher im dem Sinne als Kunst verstehen, als es die grundlegenden Bedingungen und Situationen reflektiert und sie pointiert zur Sprache bringt. In derselben Weise sind auch die Walking Cities von Archigram keine lediglich technoiden Utopien, sondern ein Kommentar zur Wirklichkeit, in der die Konvention die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher, sozialer und politischer Wirklichkeit blockiert. (Möglicherweise stehen genau deswegen die Bilder der alten europäischen Stadt so hoch im Kurs, weil sie nicht nur Sehnsüchte erfüllen und Ängste mildern, sondern weil sie dazu beitragen, Reibungen zwischen wirtschaftlichem und öffentlichem Interesse zu glätten.) Gerade weil es gleichzeitig Kunst und Nicht-Kunst ist, war das Rucksack House in Leipzig genau am rechten Platz: Weil der Leerstand uns wieder lehren könnte, Raum nicht stets nur funktional, an Nutzung gebunden und unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen.
Das Rucksack House ist im Sinne Franz Erhard Walthers eine künstlerische Konfiguration: ein Raum, zu dem der «Körper ein Verhältnis entwickeln kann». Und er ist eine Hilfe dabei, zum Raum ausserhalb des eigentlichen Objekts ein Verhältnis zu entwickeln: zum Raum über, unter und neben dem Rucksack House. Auch das lässt sich als Kommentar zu einer entweder sich nur selbst als Objekt verstehenden Architektur oder sich in Raumvorstellung des Städtebaus einordnender Bebauung lesen. Architektur sollte immer beides sein: räumliches und raumschaffendes Objekt, und dabei braucht das raumschaffende sich nicht auf den Innenraum zu beschränken. Qualitäten, die in der klassischen Moderne, an deren Sprache sich Eberstadt anlehnt, verwirklicht wurden, die in der Rezeption aber oft vernachlässigt werden.
Das komplexe Verhältnis von Objekt zu Raum hat Eberstadt auch in anderen Arbeiten untersucht. In «stripwall» entwickelt sich aus dem Sockelbereich der Wand eine aufgefaltete Struktur, die in den Raum hineingreift. Und es geht auch umgekehrt: In seinem Mobil office von 2005, einer auf Rollen gelagerten Arbeitsbox, sind konventionelle Aussenwandfenster in die Wände und die Decke gesetzt. Der Raum um das Mobil office wird zum Aussenraum. Der Ausschnitt, mit dem das Fenster die Landschaft zum Bild werden lässt, richtet sich auf das Rauminnere. Die Landschaft aussen, die braucht kein Bild mehr zu sein. Sie soll Raum sein. Raum, zu dem der Körper ein Verhältnis entwickeln kann.
Das Rucksack House ist nicht gross. Bis jetzt existiert es als Prototyp, dessen Inneres neun Quadratmeter bietet. Der Quader ist eine Skelettkonstruktion aus Vierkantstahl, aussen beplankt mit Furnierschichtplatten, innen mit Birkensperrholz. Mit vier Dornen wird es aussen an einer Fassade fixiert, über Stahlseile die Last von etwa 1.6 Tonnen des in den Strassenraum ragenden Volumens auf sein «Wirtshaus» übertragen. Die scharfkantige Kubatur wird durch bündig in die Fassade eingesetzte Fenster aus Plexiglas durchbrochen, die alle über die Quaderkanten hinweg in zwei Richtungen den Blick freigeben. Und dabei nicht nur die drei horizontalen Richtungen einbeziehen, sondern sich auch nach unten und oben öffnen. Im Innern lassen sich Flächen ausklappen, die als Sitzplatz, Tisch, Bett oder Regal benutzt werden können.
Kommentar zu Stadtraum und Architektur
Das Rucksack House ist, pragmatisch gesehen, zunächst einmal eine Wohn- oder Arbeitsraumerweiterung. Aber es ist mehr als das. Zum Ersten ist es ein Kommentar zu Architektur und Städtebau. Das Rucksack House fragt nach dem Stellenwert, der dem viel-fach zum Transitraum degradierten Strassenraum beigemessen wird, fragt danach, ob der Raum zwischen den Objekten selbst Raum sein kann, und danach, wie dieser gestaltet und differenziert werden könnte. Er fragt nach der Zugänglichkeit und Hierarchie des öffentlichen Raums – und nicht nur der öffentlichen Fläche. Denn der sonst selbstverständlich öffentliche Luftraum über der Strasse ist nun auf einmal privat, bleibt aber gleichwohl für jeden sichtbar. Dieses Vexierspiel aus öffentlich und privat, mit dem die Vorstellungskraft aktiviert und die Gewohnheit hinterfragt wird, rückt Eberstadts Arbeit in die Nähe derer des amerikanischen Künstlers Dan Graham; in der Polyvalenz von Skulptur, reinem Körper und benutzbarem, architektonischem Raum erkennt man die Nähe zu Donald Judd. Dieser hatte schon 1964 in einem Text zur Ausstellung «Twentieth Century Engineering» geschrieben, dass die Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst kein Wertmassstab mehr sein könne.[2] Kunst und Nicht-Kunst seien an Kennerschaft, an Sammlertum geknüpft, die sich historisch entwickelt hätten, hatte Judd in Anbetracht der in der Ausstellung gezeigten Industriebauten konstatiert. Davon ausgehend, lässt sich die Arbeit Eberstadts auch aus der anderen Richtung interpretieren: Gerade wenn es keinen Sinn hat, zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu unterscheiden, braucht der Anspruch an gestalterische Qualitäten nicht auf die Kunst reduziert zu bleiben.
Das ambivalente Verhältnis von öffentlich zu privat ist zudem in gewisser Hinsicht anarchisch. Die demonstrative Raumaneignung durch das Rucksack House ähnelt der eines Baumhauses, aber auch der der Hausbesetzung, die sich gegen die gesellschaftlichen Mechanismen der Raumzuweisung wehrt, auch wenn die Sprache Eberstadts diese anarchische Komponente eher glättet als betont – aber nur so bleibt die Arbeit nicht auf eine Bedeutungsebene reduziert, lässt sie sich nicht eindimensional vereinnahmen. Auch so schafft sie sich einen eigenen Freiraum jenseits der durch die Konvention vorgegebenen Orte. Und der Anspruch, der sich darin äussert, lässt sich zudem als Kritik an der Gleichgültigkeit dem öffentlichen Raum gegenüber lesen, in dem sich durch die vielfältigen Praktiken der Überwachung noch das Misstrauen gegenüber jeder Äusserung des Individuellen äussert.
In einem Interview spricht Eberstadt davon, dass er sich nach dem Raum jenseits des Fensters gefragt habe, wie er realer, begehbarer Raum werden könne. Das heisst: Eberstadt verweist auch auf den Raum der Fantasie, dessen Potenziale nur ausgeschöpft werden können, wenn man sich nicht der gegebenen Hierarchie der Räume beugt. Die Bezeichnung Lichtraum, die Eberstadt seiner Arbeit auch gegeben hat, verdeutlicht, dass das Rucksack House nicht nur pragmatisch zu sehen ist, nicht nur als eine Vergrösserung eines zu knappen Raumangebots.
Raum als Raum begreifen
Denn was hätte es sonst in Leipzig zu suchen, wo keine Raumknappheit herrscht? Diese Erweiterung, sie ist eine Erweiterung der räumlichen Erfahrung. Sie ist eine Erweiterung des eingeübten, abgestumpften Verhältnisses des Menschen zum Raum, sie durchbricht die konditionierten Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr der Beweglichkeit unserer Zeit entsprechen. Mobilität, die sich die einen leisten können und zu der andere gezwungen sind, die auf jeden Fall aber die Wirklichkeit der Städte und deren soziales Gefüge bestimmt. Das Rucksack House ist auch gerade deswegen anarchisch, weil es seine Potenziale am stärksten dort entfaltet, wo sich die Privilegierung nicht ausdrücken kann: an glatten, hohen, geschlossenen Bauvolumen. Natürlich weist das Rucksack House dort zunächst einmal selbst dem Ort, den es erweitert, eine besondere Rolle zu. Aber man muss das Rucksack House eben auch in seiner doppelten Rolle und daher im dem Sinne als Kunst verstehen, als es die grundlegenden Bedingungen und Situationen reflektiert und sie pointiert zur Sprache bringt. In derselben Weise sind auch die Walking Cities von Archigram keine lediglich technoiden Utopien, sondern ein Kommentar zur Wirklichkeit, in der die Konvention die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher, sozialer und politischer Wirklichkeit blockiert. (Möglicherweise stehen genau deswegen die Bilder der alten europäischen Stadt so hoch im Kurs, weil sie nicht nur Sehnsüchte erfüllen und Ängste mildern, sondern weil sie dazu beitragen, Reibungen zwischen wirtschaftlichem und öffentlichem Interesse zu glätten.) Gerade weil es gleichzeitig Kunst und Nicht-Kunst ist, war das Rucksack House in Leipzig genau am rechten Platz: Weil der Leerstand uns wieder lehren könnte, Raum nicht stets nur funktional, an Nutzung gebunden und unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen.
Das Rucksack House ist im Sinne Franz Erhard Walthers eine künstlerische Konfiguration: ein Raum, zu dem der «Körper ein Verhältnis entwickeln kann». Und er ist eine Hilfe dabei, zum Raum ausserhalb des eigentlichen Objekts ein Verhältnis zu entwickeln: zum Raum über, unter und neben dem Rucksack House. Auch das lässt sich als Kommentar zu einer entweder sich nur selbst als Objekt verstehenden Architektur oder sich in Raumvorstellung des Städtebaus einordnender Bebauung lesen. Architektur sollte immer beides sein: räumliches und raumschaffendes Objekt, und dabei braucht das raumschaffende sich nicht auf den Innenraum zu beschränken. Qualitäten, die in der klassischen Moderne, an deren Sprache sich Eberstadt anlehnt, verwirklicht wurden, die in der Rezeption aber oft vernachlässigt werden.
Das komplexe Verhältnis von Objekt zu Raum hat Eberstadt auch in anderen Arbeiten untersucht. In «stripwall» entwickelt sich aus dem Sockelbereich der Wand eine aufgefaltete Struktur, die in den Raum hineingreift. Und es geht auch umgekehrt: In seinem Mobil office von 2005, einer auf Rollen gelagerten Arbeitsbox, sind konventionelle Aussenwandfenster in die Wände und die Decke gesetzt. Der Raum um das Mobil office wird zum Aussenraum. Der Ausschnitt, mit dem das Fenster die Landschaft zum Bild werden lässt, richtet sich auf das Rauminnere. Die Landschaft aussen, die braucht kein Bild mehr zu sein. Sie soll Raum sein. Raum, zu dem der Körper ein Verhältnis entwickeln kann.
Anmerkungen
[1] Ernst Bloch: Spuren. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main, 1985, S. 97.
[2] Drexler, Arthur: Twentieth Century Engineering. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im M.O.M.A., ohne Seitenzahlen, New York, 1964.
[1] Ernst Bloch: Spuren. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main, 1985, S. 97.
[2] Drexler, Arthur: Twentieth Century Engineering. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im M.O.M.A., ohne Seitenzahlen, New York, 1964.
Für den Beitrag verantwortlich: TEC21
Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Solt