Bauwerk
SOS-Kinderdorf FamilienRAThaus
RUNSER / PRANTL architekten - Wien (A) - 2005
Mutter, Geschwister, Haus, Stadt
Diese Woche eröffnet Wiens erstes SOS-Kinderdorf. Es ist mehr Stadt als Dorf, vor allem aber ist es ein unmissverständliches Statement für den Umgang mit Kindern.
16. September 2006 - Wojciech Czaja
Hermann Gmeiner hat Großes geleistet. Unter dem braven Scheitel steckten Visionen, Durchsetzungsvermögen und nicht zuletzt auch der gedankliche Grundstein eines Dorfes, das einzig und allein den Kindern galt. Allein Medizin zu studieren war dem damals Dreißigjährigen zu wenig. Gebeutelt vom Krieg, schenkte er seine Liebe daher den Kindern und Jugendlichen, für die mit dem Ende des Krieges auch das Ende ihrer Familie einhergegangen war - und baute im tirolerischen Imst das erste SOS-Kinderdorf der Welt. Im Winter 1949 erhalten die Kinder nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch eine neue Mutter. Die vier Grundprinzipien des neuzeitlichen Waisenhauses sind damit für alle Zeiten einbetoniert: „Mutter, Geschwister, Haus, Dorf.“
Nach insgesamt neun Kinderdörfern in Österreich - weltweit sind es über 430 - kam man in der Chefetage auf die Idee, den Aspekt mit dem Dorf nicht immer so wörtlich zu nehmen. Nein, auch in einer Großstadt wie Wien, in jenem Dickicht aus Autokolonnen, Huperei und wuseligen Menschenmassen lassen sich Gmeiners Dörfer vorzüglich integrieren. „Um die 50 Wiener Kinder wachsen derzeit in den SOS-Kinderdörfern rund um Wien und in den Bundesländern auf“, erklärt Erwin Roßmann, Projektleiter des ersten Wiener SOS-Kinderdorfes, die Erfahrung zeige allerdings, dass diese Kinder im Erwachsenenalter oftmals wieder in die Stadt zurückkehren. „Deswegen haben wir gesagt: Nicht die Kinder sollen aufs Land, sondern wir kommen mit dem Dorf in die Stadt.“
Wie sieht es nun aus, das erste Dorf in der Stadt? Ewig hatte man nach einem passenden Grundstück gesucht. In die wahren Facetten urbanen Lebens traute man sich bis zuletzt nicht vor, da man eine Zeit lang beim hoffnungsvollen Kompromiss der Reihenhäuser hängen geblieben war - doch daraus wurde nichts. Auf einem riesigen Baustellen-Areal in Floridsdorf wurde man schließlich fündig und beschloss, sich im bergenden Schoß des sozialen Wohnbaus einzunisten. Die neuen Gebäude von Rüdiger Lainer, Margarethe Cufer und Dietrich Untertrifaller harren ihrer Fertigstellung, mancherorts wird bereits der letzte Feinschliff vorgenommen. Insgesamt sechs Wohneinheiten wurden darin an die speziellen Bedürfnisse der SOS-Kinderdorf-Familien angepasst - sei es ein zweites Bad, ein größeres Wohnzimmer oder schlichtweg nur ein riesiger Garderobenbereich für die kinderreiche Familie.
Das Herzstück des neuen SOS-Kinderdorfes ist jedoch ohne Zweifel das so genannte Familienrathaus mit Büroräumlichkeiten, Café, Festsaal, einer Abteilung der Mag Elf und einer Wohnung für den Kinderdorf-Leiter. Das Familienrathaus wird zentrale Anlaufstelle sein. Hier werden Kids aller Altersstufen auf einandertreffen, hier wird man in Therapien Schwierigkeiten und Lösungsansätze besprechen, hier wird ab kommender Woche die gesamte Wiener SOS-Kinderstadt verwaltet und geleitet werden.
Dass es sich dabei um ein Gebäude für Kinder handelt, sieht man dem schlichten Bau der Runser/Prantl/Architekten - zumindest auf den ersten Blick - bei Gott nicht an. Eher denkt man an herausgeputzte City-Lofts oder an den neuen Firmensitz der österreichischen Baustoffindustrie: Sichtbeton in Reinkultur, viel Aluminium an der Fassade und reichlich Glas in den Varianten durchsichtig und flaschengrün gefärbt. Doch was spräche denn dagegen, ein Haus für Kinder nicht auch einmal ästhetisch und elegant zu gestalten? Oder anders gefragt: Was spricht dafür, wieder einmal auf das geistig bescheidene Konzept von Ritterburgen und Märchenschlössern zurückzugreifen?
Architekt Alexander Runser: „Wir sehen einfach nicht ein, warum Gebäude für Kinder immer nur nett und lieblich aussehen sollten - das ist unseriös.“ Ganz im Gegenteil steht für Runser und Prantl das Begreifen des Dreidimensionalen, die Raumerfassung und Raumerfahrung im eigentlichen Vordergrund dessen, was unter den hübschen Begriff der Kinderfreundlichkeit eigentlich zu fallen habe. „Diese Eigenschaften sind spezielle Leistungen des Gehirns und werden in der Kindheit determiniert. Um ein frühzeitiges Lernen zu ermöglichen, müssen Räume ergeh- und erlebbar sein.“
Es beginnt im Hof. Schaukelgerüste aus Holz, Rutschen und Kraxelbäume wird man hier nicht finden. „Am Anfang wollte die Leitung des SOS-Kinderdorfes herkömmliche Spielgeräte von der Stange in den Hof stellen“, so Runser, „gemeinsam mit dem Landschaftsplaner Jakob Fina haben wir nun eine reduzierte Lösung gefunden.“ Und die lautet: Statt den Kindern die Form des Spielens aufzuzwingen, hat man mittels gummiweichen Kautschukgranulats kleine Hügel und Mulden geformt. Einmal tennisplatzrot, einmal blau, einmal türkis. Die Hügel sind grenzenloser Ort für Fantasie, die Mulde indes fasst jenen Sand, der in der Regel in ein rechteckiges Kisterl aus Spielplatzholz gequetscht ist.
Aus den oberen Stockwerken betrachtet verschwindet die dritte Dimension der Kautschukberge, übrig bleibt ein färbiger Teppich aus amorphen Formen. Unweigerlich muss man an Miró denken. Unweigerlich wird auch klar, weshalb Alexander Runser und Christa Prantl statt eines 08/15-Balkongeländers zum coolen, grünen Glas gegriffen haben. Nicht alle Kinder im SOS-Kidnerdorf sind weit über einen Meter groß. Hätte man die Balkone mit Gitterstäben eingefasst, würden die Kleinsten unter den Kleinen jahrelang das Bild schwedischer Gardinen vor Augen haben.
Doch auch im Innern sieht man auf den feinen zweiten Blick nette Kinder-Gadgets, ohne dass sich das Haus den Stempel des Infantilen aufdrücken lässt. Ein hoher Handlauf führt die Großen bergauf und bergab, ein niedriger hilft den weniger Großen bei der Überwindung der einzelnen Geschoße. In den Sanitärräumen gibt es einen gemeinsamen Waschtisch für alle Körpergrößen, wobei die Kinder ihre Hände in eine Mulde strecken und die Erwachsenen die ihrigen in ein Aufsatzbecken. Das Kleine kann unbekümmert neben dem Großen koexistieren, eine Wertung nimmt hier niemand vor.
Der ambitionierte Kinderdorf-Vater Hermann Gmeiner hatte einst eine Botschaft in die Nachwelt entsandt: „Alles Große in der Welt wird nur dadurch Wirklichkeit, dass irgendwer mehr tut, als er tun müsste.“ Das neue SOS-Kinderdorf in der Stadt ist so ein Fall. Architekten und Bauherren ist es gleichermaßen gelungen, sich weit aus dem Fenster der gut gemeinten, aber vermeintlichen Kinderfreundlichkeit zu lehnen. Das ist eine Architektur, die die Kinder zum Lernen anspornt. Das ist eine Architektur, die die Kinder bis zu einem gewissen Grad ganz schön herausfordert.
Still hört man die Leserschaft jetzt sagen: Als ob die SOS-Dorfkinder keine anderen Probleme hätten! Und die Antwort darauf lautet: Doch, diese Kinder haben - wiewohl die meisten glücklich und zufrieden sind - eine Schicksalskarte gezogen, die nicht zu den schönsten des Lebens zählt. Wir beneiden sie nicht darum. Doch wie anmaßend wäre es vonseiten der Architektur, diese intimen Probleme auf immer und ewig in den Beton zu ritzen.
[ Die Eröffnung des SOS-Kinderdorfes findet am Freitag, dem 22. September, statt. Anton-Bosch-Gasse 29, 1210 Wien - sowie etwas festlicher auf der nahe gelegenen Lorettowiese. Ab 15.00 Uhr ]
Nach insgesamt neun Kinderdörfern in Österreich - weltweit sind es über 430 - kam man in der Chefetage auf die Idee, den Aspekt mit dem Dorf nicht immer so wörtlich zu nehmen. Nein, auch in einer Großstadt wie Wien, in jenem Dickicht aus Autokolonnen, Huperei und wuseligen Menschenmassen lassen sich Gmeiners Dörfer vorzüglich integrieren. „Um die 50 Wiener Kinder wachsen derzeit in den SOS-Kinderdörfern rund um Wien und in den Bundesländern auf“, erklärt Erwin Roßmann, Projektleiter des ersten Wiener SOS-Kinderdorfes, die Erfahrung zeige allerdings, dass diese Kinder im Erwachsenenalter oftmals wieder in die Stadt zurückkehren. „Deswegen haben wir gesagt: Nicht die Kinder sollen aufs Land, sondern wir kommen mit dem Dorf in die Stadt.“
Wie sieht es nun aus, das erste Dorf in der Stadt? Ewig hatte man nach einem passenden Grundstück gesucht. In die wahren Facetten urbanen Lebens traute man sich bis zuletzt nicht vor, da man eine Zeit lang beim hoffnungsvollen Kompromiss der Reihenhäuser hängen geblieben war - doch daraus wurde nichts. Auf einem riesigen Baustellen-Areal in Floridsdorf wurde man schließlich fündig und beschloss, sich im bergenden Schoß des sozialen Wohnbaus einzunisten. Die neuen Gebäude von Rüdiger Lainer, Margarethe Cufer und Dietrich Untertrifaller harren ihrer Fertigstellung, mancherorts wird bereits der letzte Feinschliff vorgenommen. Insgesamt sechs Wohneinheiten wurden darin an die speziellen Bedürfnisse der SOS-Kinderdorf-Familien angepasst - sei es ein zweites Bad, ein größeres Wohnzimmer oder schlichtweg nur ein riesiger Garderobenbereich für die kinderreiche Familie.
Das Herzstück des neuen SOS-Kinderdorfes ist jedoch ohne Zweifel das so genannte Familienrathaus mit Büroräumlichkeiten, Café, Festsaal, einer Abteilung der Mag Elf und einer Wohnung für den Kinderdorf-Leiter. Das Familienrathaus wird zentrale Anlaufstelle sein. Hier werden Kids aller Altersstufen auf einandertreffen, hier wird man in Therapien Schwierigkeiten und Lösungsansätze besprechen, hier wird ab kommender Woche die gesamte Wiener SOS-Kinderstadt verwaltet und geleitet werden.
Dass es sich dabei um ein Gebäude für Kinder handelt, sieht man dem schlichten Bau der Runser/Prantl/Architekten - zumindest auf den ersten Blick - bei Gott nicht an. Eher denkt man an herausgeputzte City-Lofts oder an den neuen Firmensitz der österreichischen Baustoffindustrie: Sichtbeton in Reinkultur, viel Aluminium an der Fassade und reichlich Glas in den Varianten durchsichtig und flaschengrün gefärbt. Doch was spräche denn dagegen, ein Haus für Kinder nicht auch einmal ästhetisch und elegant zu gestalten? Oder anders gefragt: Was spricht dafür, wieder einmal auf das geistig bescheidene Konzept von Ritterburgen und Märchenschlössern zurückzugreifen?
Architekt Alexander Runser: „Wir sehen einfach nicht ein, warum Gebäude für Kinder immer nur nett und lieblich aussehen sollten - das ist unseriös.“ Ganz im Gegenteil steht für Runser und Prantl das Begreifen des Dreidimensionalen, die Raumerfassung und Raumerfahrung im eigentlichen Vordergrund dessen, was unter den hübschen Begriff der Kinderfreundlichkeit eigentlich zu fallen habe. „Diese Eigenschaften sind spezielle Leistungen des Gehirns und werden in der Kindheit determiniert. Um ein frühzeitiges Lernen zu ermöglichen, müssen Räume ergeh- und erlebbar sein.“
Es beginnt im Hof. Schaukelgerüste aus Holz, Rutschen und Kraxelbäume wird man hier nicht finden. „Am Anfang wollte die Leitung des SOS-Kinderdorfes herkömmliche Spielgeräte von der Stange in den Hof stellen“, so Runser, „gemeinsam mit dem Landschaftsplaner Jakob Fina haben wir nun eine reduzierte Lösung gefunden.“ Und die lautet: Statt den Kindern die Form des Spielens aufzuzwingen, hat man mittels gummiweichen Kautschukgranulats kleine Hügel und Mulden geformt. Einmal tennisplatzrot, einmal blau, einmal türkis. Die Hügel sind grenzenloser Ort für Fantasie, die Mulde indes fasst jenen Sand, der in der Regel in ein rechteckiges Kisterl aus Spielplatzholz gequetscht ist.
Aus den oberen Stockwerken betrachtet verschwindet die dritte Dimension der Kautschukberge, übrig bleibt ein färbiger Teppich aus amorphen Formen. Unweigerlich muss man an Miró denken. Unweigerlich wird auch klar, weshalb Alexander Runser und Christa Prantl statt eines 08/15-Balkongeländers zum coolen, grünen Glas gegriffen haben. Nicht alle Kinder im SOS-Kidnerdorf sind weit über einen Meter groß. Hätte man die Balkone mit Gitterstäben eingefasst, würden die Kleinsten unter den Kleinen jahrelang das Bild schwedischer Gardinen vor Augen haben.
Doch auch im Innern sieht man auf den feinen zweiten Blick nette Kinder-Gadgets, ohne dass sich das Haus den Stempel des Infantilen aufdrücken lässt. Ein hoher Handlauf führt die Großen bergauf und bergab, ein niedriger hilft den weniger Großen bei der Überwindung der einzelnen Geschoße. In den Sanitärräumen gibt es einen gemeinsamen Waschtisch für alle Körpergrößen, wobei die Kinder ihre Hände in eine Mulde strecken und die Erwachsenen die ihrigen in ein Aufsatzbecken. Das Kleine kann unbekümmert neben dem Großen koexistieren, eine Wertung nimmt hier niemand vor.
Der ambitionierte Kinderdorf-Vater Hermann Gmeiner hatte einst eine Botschaft in die Nachwelt entsandt: „Alles Große in der Welt wird nur dadurch Wirklichkeit, dass irgendwer mehr tut, als er tun müsste.“ Das neue SOS-Kinderdorf in der Stadt ist so ein Fall. Architekten und Bauherren ist es gleichermaßen gelungen, sich weit aus dem Fenster der gut gemeinten, aber vermeintlichen Kinderfreundlichkeit zu lehnen. Das ist eine Architektur, die die Kinder zum Lernen anspornt. Das ist eine Architektur, die die Kinder bis zu einem gewissen Grad ganz schön herausfordert.
Still hört man die Leserschaft jetzt sagen: Als ob die SOS-Dorfkinder keine anderen Probleme hätten! Und die Antwort darauf lautet: Doch, diese Kinder haben - wiewohl die meisten glücklich und zufrieden sind - eine Schicksalskarte gezogen, die nicht zu den schönsten des Lebens zählt. Wir beneiden sie nicht darum. Doch wie anmaßend wäre es vonseiten der Architektur, diese intimen Probleme auf immer und ewig in den Beton zu ritzen.
[ Die Eröffnung des SOS-Kinderdorfes findet am Freitag, dem 22. September, statt. Anton-Bosch-Gasse 29, 1210 Wien - sowie etwas festlicher auf der nahe gelegenen Lorettowiese. Ab 15.00 Uhr ]
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